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Andere Formen

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 86-91)

Exkurs 4 : Lokaler Diffusionssradius – das Schandlied auf Judas

11. Andere Formen

Die vorliegende Darstellung kann sich keineswegs der Illusion hingeben, einen auch nur einigermaßen vollständigen Überblick gegeben zu haben ; nichtsdestotrotz scheint doch das Wesentlichste beisammen zu sein, und zwar in einer komparativen Optik und mit einer gewissen Betonung auch jener Liedkategorien, die nicht zu den bevorzugten der südosteuropäischen Folkloristik zählen. Die traditionelle Morphologie der Sing- und Liedkultur im weiteren Balkanraum umfaßt auch Arbeits- und Berufslieder851, Gefäng-nislieder852, Soldatenlieder853, Hirtenlieder854, Partisanenlieder855, Zech- und Trinklie-der856, Lieder auf Haschisch-Rauchen857, Lieder über politische und soziale Konflikte858, Protestlieder, Neck- und Scherzlieder859, didaktische Lieder860 und sentenziöse, apo-phthegmatische Distichen861. Als eigenständige Kategorie wären die rebetika-Lieder des Subproletariats in den Hafenstädten des Ostmittelmeerraums anzuführen862, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Griechenland große Mode geworden sind und heute bereits eine Bibliographie aufweisen, die über mehr als 2000 items verfügt863. Dazu wäre dann auch noch die Singkultur des politischen Protestliedes, vertont von bekannten Komponisten wie Mikis Theodorakis, zu nennen, doch steht dies a) im Übergang zur Kunstmusik und ist b) bereits ein Produkt urbaner Popularkultur. Eine andere Spielart der Folklorisierung des Volksliedes ist in den ehem. sozialistischen Ländern der orga-nisierte, gelenkte und kontrollierte Folklore-Betrieb mit proletarischen Kampfliedern, Arbeiterliedern, Folklore-Festivals usw.

Die schier unendliche Zahl von Kategorien und Untergattungen der gesungenen Lieder in Südosteuropa hängt auch mit den unterschiedlichen Entwicklungen der For-schungseinrichtungen in den sozialistischen Ländern auf der einen Seite und Griechen-land/Türkei auf der anderen Seite zusammen. In den südslavischen Handbüchern zur Folklore, in Ungarn, Albanien und Rumänien wird z. B. die Kategorie religiöses Lied oder Ansingelieder des Heortologions, des kirchlichen Jahresfestkreises, eher marginal behandelt, während Partisanenliedern, Kleften- und Hajdukenliedern, rezenten histori-schen Liedern über Sozialkonflikte usw. ein dominanter Platz eingeräumt wird. In den Sammlungen und Studien wird großer Wert auf alle jene Liedgattungen gelegt, die sich im Sinne der Nationalideologie (und des Irredentismus) auswerten und vermarkten las-sen : Heldenlied und orale Volksepik, Lieder auf historische Ereignisse, Türkenkampf-Lieder ; erst dann folgt in der Wertehierarchie das große Kapitel der Balladen und Er-zähllieder und unter »ferner liefen« die restlichen Liedgattungen. Dies läßt sich auch an der Fachbibliographie ablesen, wo nur relativ wenige Studien sich mit den »unattrakti-ven« Liedgattungen beschäftigen. In der vorliegenden Darstellung wurde nicht versucht, diese Reihenfolge umzustoßen, doch ist den »restlichen« Liedgattungen größerer Raum gegeben als dies sonst üblich ist.

Einleitung

Im Gegensatz zu den Gesangstexten verfügen die Erzähl- und Sprechtexte aufgrund ihrer Unabhängigkeit von versifizierten Strukturen und musikalischen Darstellungs-formen (bei Tanzliedern kommt noch die somatische Performanz dazu) über eine ge-ringere Bindung an spezifische Sprachformen und einen höheren Grad an Internatio-nalität. Dies ist in besonderem Grad augenfällig etwa beim Zaubermärchen und beim Sprichwort, wo die conditio humana homomorphe Elaborate bei Kulturen hervorge-bracht hat, die historisch niemals in Berührung gekommen sind. In solchen Fällen geht die historisch fundierte Komparabilität in eine orts- und zeitunabhängige Typologie über. Die Mobilität und Diffusion von Geschichten aller Art ist weniger an rituelle An-lässe und situative Voraussetzungen gebunden als beim Lied, die Erzählgelegenheiten ergeben sich eher aus dem alltäglichen Lebensrhythmus wie monotone Arbeitsverrich-tungen, Wartesituationen (Mühle, Olivenpresse, Viehweide, Autobus, Fahrten von und zur Arbeit, Reisen, Besuche), Ausnahmezustände der Inaktivität (Armee, Kriegsgefan-genschaft, Krankenhaus, Gefängnis) oder Geselligkeitsformen mit (Spinnstube) oder ohne Arbeit, wie das Wirtshaus, der Sonntagstisch oder die Winterabende am häusli-chen Herd usw. Dies gilt für traditionelle Erzählformen wie Märhäusli-chen, Sagen, Legenden, Schwänke usw., mutatis mutandis aber auch für rezente Erzählformen wie die urban legends, Erlebnisberichte, Erinnerungen an frühere Zeiten und Autobiographisches, so-wohl für Fabulate als auch für Memorate. Es gehört überdies zu den charakteristischen Eigenschaften des mündlichen Erzählens, daß fictum und factum nicht immer streng auseinanderzuhalten sind.

Grenzscharfe Trennungen und konsistente bzw. in sich stimmige Kategorienbil-dungen sind bei den Sprechtexten, ähnlich wie bei den gesungenen, nicht möglich ; die Stoffähnlichkeit oder thematische Identität annulliert manchmal auch die Scheidung von Lied und Erzählung, wenn etwa Balladenstoffe auch als Sagen zirkulieren, ein Teil der Geschichte in Versform gesungen wird, der Rest dann erzählt. Durch das Vorlesen und die vielfachen Drucke von popularen Lesestoffen ist die Grenze zwischen Schrift-lichkeit und MündSchrift-lichkeit auch in Südosteuropa durchlässig1.

Im Gegensatz zur eher sprach- und nationsgebundenen Liedforschung hat die Er-zählforschung schon früh (Anfang des 20. Jh.s) eine internationale Organisation erfah-ren, etwa in der historisch-geographischen Schule der vergleichenden Erzählforschung der Finnen, institutionalisiert in der Editionsreihe der Folklore Fellows

Communica-tions der Finnischen Akademie der Wissenschaften (die bereits die 300 Bände über-schritten hat), dem internationalen Typenkatalog des oralen Erzählens von Antti Aarne und Stith Thompson2, der durch Hans-Jörg Uther 2004 seine letzte Revision erfahren hat3, durch den Motivkatalog von Stith Thompson4, die von Kurt Ranke 1977 inau-gurierte Enzyklopädie des Märches. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, die mit dem 14. Band bereits ihren Abschluß gefunden hat, sowie die ebenfalls von Kurt Ranke gegründete Zeitschrift Fabula, deren Interessenshorizont weit über Europa hinausreicht und die in jeder Einzelnummer einen ausführlichen Bespre-chungsteil der internationalen Literatur in allen Sprachen bringt.

Von diesem Netzwerk institutioneller Kooperationen hat natürlich auch die süd-osteuropäische Erzählforschung profitiert, programmatisch sprachübergreifende Un-tersuchungen größeren Ausmaßes sind jedoch eher selten und von der Initiative von Einzelpersonen abhängig ; Typenkataloge nach dem Aarne-Thompson-[Uther]-System liegen nur für einzelne Länder vor, sind z. T. revisionsbedürftig, enthalten nur gewisse Erzählkategorien oder verwenden ein inkongruentes Taxonomiesystem mit differenten Kategorienbildungen5.

Trotzdem ist der Forschungsstand der Komparabilität der gesprochenen Texte der Folklore sowohl in Langformen (z. B. Märchen, Schwänke) wie in Kurzformen (Sprich-wort) durch die Unabhängigkeit von Metrik und Melodie bzw. somatischer Kinetik (im Gegensatz zum Tanzlied ist die Performanz des Märchenerzählers seinem Improvisati-onstalent bzw. seiner »Schauspielkunst« anheimgestellt) bzw. der leichteren Übertrag-barkeit von einer Sprache in die andere, die aber auch in Südosteuropa polygenetische Motive nicht völlig ausschließt, auch im Balkanbereich wesentlich fortgeschrittener als bei der Liedforschung (mit Ausnahme der Ballade). Man hat, neben dem konventio-nellen nationalen Revierdenken und den sprachbedingten Abgrenzungen, auch von der relativen Homogenität des südosteuropäischen Erzählraums gesprochen, der sich von Mittel-, West- und Nordeuropa manchmal deutlich unterscheidet (was der Typenkata-log nicht richtig widerspiegelt, weil die Märchentypen nach dem Vorbild der Grimm-schen Sammlung und dem skandinaviGrimm-schen Material konzipiert sind), was zwangsläu-fig zur gehäuften Einführung von differenten bzw. differenzierenden Oikotypen führt.

Diese Problematik ist oft angesprochen worden6, doch gilt auch für Südosteuropa, daß andere Methoden, wie die strukturalistische, psychoanalytische, pädagogische usw., kein besseres Begriffsinstrumentarium zur Verfügung gestellt haben, das den Typenkatalog ersetzen könnte.

Der umfangreichste Teil der Erzählforschung beschäftigt sich mit den Märchen, die auch immer noch die größte Popularität, und zwar nicht nur als Kinderliteratur, genießen. Hier sind die Entsprechungen in den einzelnen Ländern und Sprachen oft ins Auge stechend ; von dieser Erzählkategorie sind auch in Südosteuropa die meisten

Texte veröffentlicht. Die Anzahl der aufgezeichneten und in volkskundlichen Archi-ven gehorteten Texte der mündlichen Erzählkultur übersteigt möglicherweise den des Liedbestands, hat auf die Forscher freilich nicht die gleiche Faszination ausgeübt wie etwa die orale Versepik. Trotzdem ist es unmöglich, alle edierten Textsammlungen des Balkanraums bibliographisch erschöpfend zu erfassen, ebenso wie es nicht die Aufgabe einer Übersicht sein kann, die einschlägigen Studien in letzter Vollständigkeit anzu-führen und zu kommentieren. Dies würde den Umfang dieses editorischen Vorhabens zu stark ausufern lassen. Trotzdem wurde der Versuch unternommen, ähnlich wie im Liedteil, neben einer kommentierten Bibliographie auch in den Fußnoten reichhaltige bibliographische Angaben zu machen.

Der Abschnitt zu den gesprochenen Texten ist in Langformen und Kurzformen ge-gliedert : Die Langformen umfassen Märchen, Sagen und Überlieferungen, Legenden und erbauliche Geschichten, Schwank und Anekdote, andere Erzählformen (Über-gangsformen zum Alltagserzählen, orale Autobiographien und Memorate), die Kurz-formen bringen Sprichwort und Redewendung, Rätsel und andere KurzKurz-formen (ma-gisches Spruchgut, Witz und Kinderwitz usw.). Auf die theoretische Diskussion um die Tragbarkeit dieser Begriffe in ihrer Anwendung auf die Gruppierungsversuche des Textmaterials kann in dieser Darstellung nicht eingegangen werden ; dazu gibt es eine umfangreiche Bibliographie und so ziemlich die einzige Meinungskongruenz besteht in der Tatsache, daß fast alle Bezeichnungen einen bloß relativen heuristischen und definitorischen Wert besitzen und im praktischen Gebrauch als Abgrenzungsstrategien problematisch sind. Die einzelnen nationalen Forschungstraditionen haben darüber-hinaus noch eigene Terminologien erarbeitet und thematische Gruppierungen nach verschiedenen Kriterien vorgenommen. Die sozialistische Phase der Erzählforschung etwa hat gewisse Erzählgattungen bevorzugt, andere vernachlässigt (z. B. Legenden und Heiligenviten) ; Forschungsstand und Studienanzahl entsprechen demnach nicht immer der erfaßten und vorhandenen Textdichte.

Auch in diesem Abschnitt wird der sprachübergreifende Vergleich im Vordergrund stehen, der sich in manchen Fällen wie von selbst anbietet ; aufgrund der historischen Mobilität der Populationen Südosteuropas ist eine konsequente Abgrenzung eines balkanweiten Erzählraums auch als teilhomogene Zone nur teilweise möglich, da die Ost- und Westkontakte seit dem ersten Jahrtausend intensiv gewesen sind (Kreuzzüge, Türkenkriege, Handelswege, Transhumanz, Zwangsumsiedlungen usw.). Eines der kom-plexesten Probleme der Darstellung sind theoretische Fragen wie die der Kontinuität, die in den Phasen der Nationsgründung als Ideologiekonstrukte eine wesentliche Rolle gespielt haben, aber auch später noch, wie etwa der Rückgriff auf dakische, thrakische oder altslavische Gottheiten und Mythologie noch im 20. Jh. zeigt. Besonders für Grie-chenland ist diese Frage differenziert zu stellen und nur im Einzelfall zu entscheiden

(Hellenismus, Römerzeit, Byzanz). Damit verbunden stellt sich die Frage der Possibi-lität einer rein mündlichen Tradierung : Auch hier gibt es keine allgemeinen Antwor-ten, doch scheint sich die Wahrscheinlichkeit einer Rückbindung der Oralkultur an die Schrifttradition, mit Ausnahme der innerbalkanischen Zonen, nicht wesentlich von den mittel- und westeuropäischen Verhältnissen zu unterscheiden. Doch solche Fragen können nur punktweise angeschnitten werden mit dem Hinweis auf bereits existierende Einzelstudien.

Ganz ähnlich wie im Liedteil kann sich die Komparation nur auf die Inhalte, The-men und Motive beziehen, während Sprachführung, Dialektologie, Erzählstrategien, Sequenzbildung bei den Märchen, historischer Realitätsgehalt bei den Sagen, Vorbe-reitungstaktiken der Pointe bei Schwank und Anekdote, aber auch das Repertoire eines einzelnen Erzählers, Effektbildung der Performanz (Gesten, Stimmverstellung bei Dia-logen, Mimik, Körperbewegungen, Instrumentengebrauch, kalkulierte Publikumsreak-tionen usw.), Spannungsstimulierung, Details der ErzählsituaPublikumsreak-tionen, Zusammensetzung der Auditoria, Erzählerbiographien, Rezeption und Ruf des Erzählers, Erzählgemein-schaften usw. zum Großteil ausgeklammert bleiben müssen. Dies ist bedauerlich, da auch für Südosteuropa z. T. wegweisende Studien zu diesen performativen und rezepti-ven Aspekten vorliegen, ja z. T. von da ihren Ausgang genommen haben7, auf der ande-ren Seite aber aus Raumgründen unumgänglich, und zwar in einem zweifachen Sinn : Dem geographisch großräumigen Bereich von Karpatenbogen bis nach Kreta und von den Adria-Inseln bis in die Tiefen Kleinasiens steht der begrenzte Umfang einer Über-sichtsmonographie gegenüber, die Prioritäten setzen muß, schmerzende Exkludierun-gen vorzunehmen hat und Hierarchien von Signifikanz nach Kriterien einer imaginären Leserpräferenz erstellen soll.

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 86-91)