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Andere Erzählformen

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 135-138)

Exkurs 4 : Lokaler Diffusionssradius – das Schandlied auf Judas

5. Andere Erzählformen

Es gibt auch atypische Erzählformen, die sich überhaupt nicht klassifizieren lassen. Fe-lix Karlinger wurde z. B. in einem aromunischen Kaffehaus in Thessaloniki 1964 Zeuge einer unklassifizierbaren Großerzählung in Fortsetzungen über zwanzig Abende, eine pseudo-historische aromunische Narration mit griechischen Liedern über die Ge-schichte des Kampfes der Griechen gegen die Türken zwischen fictum und factum, aber auch mit Zeitungsdokumenten, um die dokumentierbare Glaubwürdigkeit der Erzäh-lung zu erhöhen493. Ein Großteil dieser Fortsetzungsgeschichte als popularisierter und unterhaltender Geschichtsunterricht konnte auf Tonband aufgenommen werden494. Will man die traditionelle Unterscheidung von Fabulat und Memorat anwenden, betritt man im Falle des autobiographischen Erzählens495 und der Erinnerungsgeschichten496

(Krieg497, Okkupation498, ehemalige Heimat der Flüchtlinge499, genealogische Familien-geschichten500) einen Übergangsbereich, der in der Alltagserzählung501 (legends/Stadt-sagen502, Gerüchte503, Klatsch504, facende505, Urlaubsgeschichten506, angeblich wahre Horrorerlebnisse usw.)507 dann bereits in den Bereich der intendierten Glaubwürdigkeit mit Wahrheitsanspruch übergeht508, bzw. bereits den Kommunikationskanälen der in-formellen Information angehört509. Auch in Südosteuropa als Zone weiterhin beste-hender lebhafter Oralität ist das pointierte Erzählen510 im Internet und über SMS stark verbreitet511. Die Mündlichkeit scheut hier keineswegs das Printmedium, sei es in Lo-kalzeitungen512 oder separat gedruckter Heftchenliteratur513.

Größtes Interesse ist von der südosteuropäischen Erzählforschung den historischen und rezenten Oralbiographien entgegengebracht worden : Bei den historischen Lebens-erinnerungen dominieren freilich die Memoiren des griechischen Revolutionsgenerals Giannis Makrygiannis, die auch eine erstaunliche Rezeptionsgeschichte aufweisen kann514 und als schriftlich fixierter oraler Erzählstrom auch die Literaturwissenschaft interessiert hat515, bei den rezenten gibt es systematische Erfassungsprojekte mit sta-tistischer Auswertung und elektronischer Archiverstellung516. Volkskunde, Folklore-forschung, Pädagogie und Soziologie haben sich dieses Bereiches angenommen. Als Beispiel seien Ausschnitte aus einem Lebensbericht einer 1976 82 Jahre alten Frau aus dem Dorf Gribovo in den gebirgigen Zagori-Dörfern in Epirus nördlich von Ioannina zitiert :

Wir sind damals nicht zur Schule gegangen, nur die Jungen. Einmal sind wir gegangen, da hat uns der Lehrer rausgeworfen, weil wir gestört haben. Wir haben auf den Feldern gearbei-tet : Mais. Die Zuckermelonen – solche ! Die nahm ich huckepack und brachte sie nach Hause.

Es gab da Frauen, die haben wo immer sie waren Kohle gemacht und nach Zitsa gebracht und verkauft. Ich hatte einen Birnbaum : der hatte Birnen ! Sie bettelten darum : »Mädchen, gibst du mir zwei Birnen ?« Und ich gab sie ihnen.

Außer auf die Felder sind wir nirgendwohin gegangen.

Zu dieser Zeit, da ich ein Mädchen gewesen bin, waren die Kleften in Ioannina und gin-gen durch die Gassen. Und was für Rinder die hatten ! solche ! Und die verkauften sie, denn in den Dörfern gab es keine Türken. Und wenn eine Alte nicht gut war und sie verraten hat, dann hatten sie sie im Sack und schleiften sie und die schrie.

Damals habe ich geheiratet, und da gingen wir nach Lyku, daß mein Alter das Handwerk lernt.

Drei, vier, fünf Jahre geht er nach Kleinasien. Sechs Jahre war er dort. Haben sie gekämpft, haben sie nicht gekämpft, nicht einmal das weiß ich. Ich habe Geld bekommen, wegen der Kinder, siehst du, und habe ein Haus gebaut, aber die Kinder sind alle gestorben. Das jüngste Mädchen ist acht Jahre gestorben. Dort haben wir zwölf Tagelöhne Acker geschafft.

Dann sind wir hierher gekommen. Mein Alter hat mir gesagt : »Hier werde ich sterben, denn hier bin ich geboren.« Die Felder dort unten, die haben jetzt andere. Mein Alter hatte kein solches Herz, daß er sie rausgeworfen hätte. Die Leute arm und faul. Wir hatten Arbeit, was ist aus der Arbeit geworden, in allen Dörfern. Wir hatten die Kohlenbrennerei. Es ging uns nicht schlecht. Wir waren aber auch Leute der Arbeit […]

Zum Fasching haben sie uns nach Tsaraklimani geschickt, um Arbeit. Wir sind hin, haben fertiggemacht, und als wir zurückwollten, da hat es zu schneien begonnen. In einer halben Stunde kniehoch, und dann Sonne, klarer Himmel. Wir wollten los, denn man hat uns gesagt, in Lyku gibt es drei Pflugscharen zu machen. Da waten wir durch Wasser und Schnee. »Ich geh nach Lyku«, sagt mir mein Alter, »du geh nach Haus.« Da ist er durch den Langavitsa, das Wasser bis zum Hals. Als er rauskaum, hat er gezittert. Aber wo sollte er jemanden für die Arbeit finden. Die waren alle im Kaffeehaus. »Spielen wir Karten.« Da hat er sich die Lungenentzündung geholt. Am Sonntag hat er damit angefangen, bis zum Donnerstag hat es gedauert. Damals gab’s kein Auto, ihn zum Arzt zu bringen. Irgendwer hat einen Jeep gefun-den. Wir haben ihn nach Butzara gebracht, der Arzt ist von Zitsa gekommen, er hat gesagt, wir sollen ihn nicht bewegen, und ich bin mit dem Jeep gefahren. Die Straße war hergerich-tet, sonst wär ich umgekommen, ich war völlig fertig. Gott hat’s gewollt und er ist nochmals hochgekommen. Ostern sind wir hierhergekommen, aber seine Gesundheit ist wieder schlechter geworden. Sechs Monate ist er gelegen, dann ist das Fieber wiedergekommen, und er ist seinen Weg gegangen. Aber mir, wieso hat mir Gott die Kraft gegeben und ich halte mich aufrecht, in

diesem Zustand ? Groß ist seine Gnade.

Und dann habe ich die Dafno verheiratet. Der Bräutigam, den sie gefunden hat, wollte 5000 in die Hand. Ich hatte zwei, die anderen zwei habe ich im Dorf gesammelt, und man

hat sie mir gegeben, gut soll’s ihnen gehen. Die letzten Tausend hab ich später gegeben517. Lebenserzählungen sind nicht nur interessant, um zu sehen, wie die große Geschichte auf die kleine Geschichte des Individuums einwirkt und gesehen wird, sind nicht nur interessant, um im Einzelfall zu analysieren, wie die Tendenzen der Verschönerung der Vergangenheit in der Erinnerung sich mit dem persönlichen Schmerz über erlittenes Unrecht, Armut und Krankheit die Waage halten, sondern sind auch dramatisierte Narrative mit Pointen, Hierarchisierung der Fakten aus individueller Sicht, assoziati-onslogische Konstrukte kollektiven und persönlichen Bewußtseins, Darstellungen von interpretierten Innen- und Außenbildern in einem gelenkten Erzählfluß. Die meisten biographischen Erzählungen aus Südosteuropa sind Geschichten der Armut, der Kriege, persönlicher und gruppenhafter Auseinandersetzungen, des Weg-Müssens und eines schwierigen Neubeginns.

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 135-138)