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Historische Lamentationen und Liedchroniken

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 32-35)

Während das Heldenlied in seiner historischen Faktizität vom Motivgerüst der stereo-typen Heroenvita und mythologischen Archetypsituationen wie dem Drachenkampf in einem solchen Ausmaß durchzogen ist, daß Namen und Orte auswechselbare Chiffren darstellen auf einem Schachbrett vorgegebener Grundelemente und assoziativ verknüpf-ter Kombinationen, tendiert das historische Lied zu geschichtlicher Verifizierbarkeit und kommuniziert häufig mit der Schrifttradition der Chroniken und literarischer Schlach-tenschilderungen. Diese intentional unterschiedliche Funktion schließt jedoch Mythi-sierungsprozesse146 und Heldentypologie keineswegs völlig aus, da die wissenschaftliche Dokumentation des tatsächlich Geschehenen zu dieser Zeit selbst in der Schrifttradi-tion noch nicht gegeben ist, so daß jederzeit Übergänge zu den heroischen Liedern und Kleften- und Hajdukenliedern bestehen bleiben, ja vielfach in den Eingangsversen die gleichen Sprachformeln (etwa der rhetorischen Frage) verwendet werden. Da sich die Inhalte vielfach auf die Türkenkämpfe beziehen, hat sich eine ganze Tradition von La-mentationen auf den Fall einer Stadt oder einer Region an die Osmanen herausgebildet (oraler Zweig der Türkenfurchtliteratur). An sich aber kann jedes historisch gravierende Ereignis, das das kollektive Regionalbewußtsein beschäftigt hat (wie etwa Pestepide-mien, Erdbeben, Überschwemmungen usw.), in das oral übermittelte Lied eingehen und mündlich noch lange überliefert werden, wenn sich auch niemand mehr an das ur-sprüngliche Ereignis wirklich erinnert. In dieser Rolle eines Elementarbestandteils des kollektiven Geschichtsbewußtseins findet man auch Zeitgeschehen der unmittelbaren Vergangenheit in Volksliedern besungen, die vielfach das traditionelle Formelgut der Gattung weiterverwenden. Viele dieser Lieder sind von literarischen Verskompositionen inspiriert, so daß sich in diesem Fall eine enge Vermittlung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit feststellen läßt. Diese Liedproduktion ist manchmal an das Existieren von professionellen Sängergilden gebunden, die ihre Verskompositionen auch in Druckheft-chen und unter Anführung ihres Namens zirkulieren lassen (wie etwa auf Zypern). Diese Art von historischen Liedern scheint eher charakteristisch zu sein für die äußeren Kreise der konzentrischen Ringe um den inneren Balkanraum.

Will man das vorhandene Material in eine historische Reihenfolge bringen, so ist nicht mit dem Lied von Konstantinos Gabras zu beginnen, das eine späte Fälschung darstellt147, sondern mit dem griechischen Lied auf Heinrich von Flandern, den Bruder des ersten

lateinischen Kaisers von Konstantinopel (Balduin von Flandern, der 1205 in bulgarische Gefangenschaft geriet), der als gekrönter lateinischer Kaiser 1216 eben 39-jährig mög-licherweise an Vergiftung verstarb und von den byzantinischen Chronisten schonend behandelt wird148. Chronologisch folgen die südslavischen und albanischen Lieder auf die Kosovo-Schlacht149, die zyprische Ballade um »Arodafnusa«, die die Seitensprünge König Peters I. (1359–69) zum Gegenstand hat, aber nur noch die Leiden der jungen Giovanna Dalema beschreibt150, das griechische Klagelied auf den Tataren-Khan Timur Lenk (»Θρήνος περί Ταμυρλάγγου«), dessen Einfall in Kleinasien Sultan Bayezid zum Abbruch der Belagerung Konstantinopel 1402 zwang151, die ungarischen Lieder auf die Türkenkämpfe im 14. und 15. Jh., vielfach inspiriert von literarischen Darstellungen152,

das griechische Lied auf die Schlacht von Varna (»Η μάχη της Βάρνας«) 1444, literari-scher Herkunft153, mit der der letzte Kreuzzugsversuch unrühmlich endete, usw.

In engem Zusammenhang mit literarischen Verskompositionen stehen auch die ora-len Lamentationen auf den Fall einer Stadt oder einer Insel an die Osmanen in der griechischen Überlieferung, die unmittelbar an das historische Ereignis anknüpfen und eine eigene Liedtradition entwickeln154. Diese Kategorie der historischen Klagelieder ist von den Kleften- und Hajdukenliedern zu separieren, wo die großen historischen gemeinchristlichen Perspektiven bereits verlorengegangen sind155. Der früheste dieser historischen threnoi fällt in das Jahr 1361 und beschreibt die Plünderung Adrianopels durch die Osmanen156, gefolgt von den vielen Liedern auf die halosis von Konstantino-pel am 29. Mai 1453, die parallel zu literarischen Versklagen157 und Volksüberlieferun-gen158 entstanden sind159, das Ereignis der Strafe Gottes zuschreiben und in die Prophe-zeiung ausmünden, daß nach Zeiten die Hagia Sophia wieder christlich sein werde160. Manche Liedvarianten mögen sich nach älteren Theorien auch auf den Fall von Thes-saloniki 1430 beziehen161. Damit sind die Rahmenkonventionen für diese Liedgattung in der Folge vorgegeben : 1461 der Fall von Trapezunt162, 1522 der Fall der Insel Rho-dos163, 1537 die Plünderung der Insel Paros durch die Piraten des Haireddin Barba-rossa164, 1565 die osmanische Belagerung der Insel Malta165 (inspiriert vielleicht von dem Versgedicht von Antonios Achelis)166, 1571 der Verlust Zyperns167. Der lange sich hinziehende kretische Krieg (1645–1669) zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich führt zu einer Reihe von literarischen Versdarstellungen168, doch der letztliche Fall Candias nach der fast 25-jährigen Belagerung, der die gesamte damalige christliche Welt erschüttert hat, ist sowohl in das südslavische wie auch das griechische Volkslied eingegangen169. Es folgen noch die Angriffe der venezianischen Flotte unter Francesco Moresini auf die peloponnesischen Seefestungen Methone und Korone 1685–87170, und die letzte dieser historischen Lamentationen bezieht sich auf den Verlust der veneziani-schen Besitzungen im kurzlebigen Königreich von Morea nach dem Fall von Nauplion 1715, der ebenfalls auch in literarischen Verslamentationen besungen wurde171.

Exkurs : Das kretische Lied der »Vienna«

Einen besonders interessanten Fall, der die Entstehungs- und Kompositionsmecha-nismen dieser Liedgattung freilegt, stellt das kretische Lied auf die Zweite Türken-belagerung Wiens dar172, das in zwei Versionen gegen Ende des 19./Anfang des 20.

Jahrhunderts aufgezeichnet werden konnte173, aber schon bald nach 1683 entstanden sein muß174. Aus der Detailanalyse der Texte geht hervor, daß der/die Sänger auf der Großinsel keine Ahnung hatten, wo die »Vienna« eigentlich liegt und was sie darstellt (eher einen regionalen Landstrich) bzw. was sich dort genau zugetragen hat. Zu den be-sonders pikanten Details zählt, daß die Türken dort auch ρωμιοπούλες (Griechentöch-ter) für ihren Harem gefangengenommen hätten. Die Ereignisse reduzieren sich auf die aus dem Helden- und Kleftenlied bekannte »Duellsituation« und den dramatischen Dialog der Anführer beider Heerlager175. In der Eingangsformel der Inhaltsangabe ist ausdrücklich festgehalten, daß die »arme Vienna« eingenommen bzw. zerstört worden sei, während der Schlachtenausgang dann den Sieg der christlichen Mächte beschreibt.

Mit solchen anachronistischen Details ist das stehende Formelgut der Liedtradition der Lamentationen auf den Fall einer Stadt (Region, Insel) angesprochen, in die die Nachricht von der zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683 und die Schlachtenbeschrei-bung integriert und weiterüberliefert wurde. Die orale Tradierungskapazität der Groß-insel aus der Venezianerzeit (bis 1645 bzw. 1669) bis gegen Ende der Türkenherrschaft, im speziellen Fall vor und nach 1900, stellt keinen Sonderfall dar, sondern ist an ande-ren Beispielen ohne weiteres zu exemplifizieande-ren176. Das spezielle Lied verschwindet aus der mündlichen Überlieferung, sobald die Türkenkämpfersituation, nach der Annexion Kretas an Griechenland, nicht mehr gegeben ist. Unerklärt bleibt allerdings der Über-tragungsmodus der Nachricht bis in den äußersten Süden Europas : Hier bieten sich mündliche Übermittlung sowie venezianische Flugschriften an177 bzw. die griechische Übersetzung eines italienischen Flugblattdrucks durch Ieremias Kakavelas, dem Abt des walachischen Klosters Plaviceni 1686178. Wie dem auch sei, beweist der Fall die erstaunliche Adaptationskapazität dieser Liedgattung, wo die Analogiesituation einen Fremdinhalt in Eigenfunktion verwandelt.

Die Mechanismen der Ereignisverarbeitung im Kollektivbewußtsein betreffen je-doch nicht nur militärisch-politische Ereignisse, sondern auch Pestepidemien179 und Naturkatastrophen wie Erdbeben180 und Überschwemmungen181. Damit übernimmt der oral übermittelte Volksgesang auch Funktionen aktueller Pressenachrichten, wie dies etwa im mittel- und nordbalkanischen Bänkelsang182 deutlich wird oder bei den zypriotischen ποιητάρηδες (Reimeschmieden) und ihren Druckheftchen moritatenhaf-ten Charakters, die auch Ehr- und Erosverbrechen besingen183. Solche halbliterarischen Verskompositionen sind etwa auch die rimes auf Kreta184 (z. B. auf den Aufstand von

Daskalogiannis 1770)185 oder das Lied auf den Hora-Aufstand gegen Joseph II. 1784, der zur Brandschatzung von Hermannstadt/Sibiu führte186. Die Funktion der psychi-schen Verarbeitung von gravierenden Ereignissen der zeitgeschichtlichen Aktualität und ihrer chronikhaften Einschreibung in die Kollektiverinnerung hat zur Folge, daß diese Lieder in nicht allzugroßem zeitlichen Abstand von den die Gemüter bewegen-den Vorkommnissen entstanbewegen-den sein müssen187. Ganz dieselbe Funktion ist selbst noch im 20. Jh. evident, ob es sich nun um den Ilinden-Aufstand in Makedonien 1903 han-delt188 oder die Ermordung des habsburgischen Thronfolgers in Sarajevo189, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt hat, oder um historische Ereignisse des 19.

Jahrhunderts in Ungarn190 und in Griechenland191. Die kretische und zypriotische Liedtradition192 besingt noch den abgewehrten Mussolini-Anschlag auf Epirus und Al-banien 1940193, die nachfolgende deutsche Invasion und Okkupation194, die deutsche Fallschirmjägerinvasion auf Kreta vom 20.- 29. Mai 1941195, den Widerstand gegen die deutsche Okkupation im Gebirge (Partisanen-Lieder) und den nachfolgenden Bür-gerkrieg196, den Befreiungskampf Zyperns 1955–59 gegen das britische Protektorat197, die siebenjährige Obristen-Diktatur 1967–74198, die türkische Attila-Invasion auf dem Eiland der Aphrodite, den Austritt Griechenlands aus der NATO und den Tod von Erzbischof Makarios199.

Wie im zentralbalkanischen Raum die Partisanenlieder des Zweiten Weltkriegs unmittelbar an die Bildwelt und Wertvorstellungen der Kleften- und Hajdukenlieder anschließen, auf ähnliche Weise gilt dies für die Kontinuierung des Formelschatzes aus den Klageliedern auf den Fall einer Stadt oder Region an die Osmanen im hellenopho-nen mediterrahellenopho-nen Inselraum : In einem kretischen rizitiko-Lied200 auf die türkische At-tila-Invasion in Zypern wiederholt das Eingangsdistichon bloß mit der Änderung des Inselnamens (»Alle Länder freuen sich und alle sind guter Laune / Nur das unglückli-che Zypern ist ohne jegliunglückli-chen Schutz«) die Introduktionsformel der Lamentation auf den Fall von Rhodos 1522 an die Osmanen201. Die Similität und Identität von Feind-bildern und Krisensituationen evoziert immer noch den traditionellen Formelschatz, der sich auf die historischen Invasionstraumata bzw. die jahrhundertealte Türkengefahr bezieht.

Im Dokument Böhlau Verlag Wien Köln Weimar (Seite 32-35)