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2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.3 S OZIALISATION , FRÜHE K INDHEIT UND N ATURERFAHRUNG

2.3.1 Sozialisationstheorien

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts spricht man vom wissenschaftlichen Begriff der

„Sozialisation“, geprägt durch den französischen Soziologen Emile Durkheim. Durkheim widersprach dem bis dahin vorherrschenden Gedanken, dass Individuen selbst dafür verantwortlich seien, einen Platz innerhalb einer Gesellschaft zu erlangen. Solidarität ist, was eine Gesellschaft nach Durkheim zusammenhält. Dafür braucht es Regelbewusstsein und Wertevorstellungen, die ein Individuum nicht durch seine Geburt besitzt, sondern innerhalb eines Prozesses der Sozialisation erlernt (Raithel et al. 2009; Vollmer 2012). Seit den 1960er Jahren geht die Sozialisationsforschung im deutschsprachigen Raum davon aus, dass es sich bei der Sozialisation um ein fachübergreifendes Arbeitsfeld handelt, welches sich mit der menschlichen Entwicklung beschäftigt (Tillmann 2010). Die Sozialisationsforschung verzeichnet entsprechend interdisziplinäre Zugänge, wie u. a.

psychologische (bspw. die sozial-kognitive Lerntheorie nach Bandura, die Psychoanalyse nach Freud oder die kognitive Entwicklungspsychologie nach Piaget), soziologische oder sozialökologische (bspw. die soziale Systemtheorie nach Luhmann, der Symbolische Interaktionismus nach Mead oder der Kapitaltheorie nach Bourdieu) Theorieperspektiven (Raithel et al. 2009; Niederbacher & Zimmermann 2011). Ihnen gemein ist das Erkenntnisinteresse um die unterschiedlichen inneren und äußeren Realitäten und deren Einflüsse auf das sich sozialisierende Individuum (Raithel et al. 2009). Grundlegend kann Sozialisation als ein Prozess verstanden werden, „in dem ein Mensch sich unter Aufnahme von und in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen, kulturellen und materiellen Umwelt zu einer Persönlichkeit entwickelt“ (Menck 2015, S. 187) oder wie Hurrelmann &

Ulich (1991, S. 6) es bezeichnen: das „Mitglied-Werden in einer Gesellschaft“. Dieser Prozess beginnt unvermittelt mit der Geburt und dauert das gesamte Leben an. Sozialisation deckt demnach einen Teilbereich der sozialen Realität eines Individuums ab, der weder greif- noch sichtbar ist und das Ziel verfolgt, das Individuum zu einer selbstständig

24 gesellschaftlich handelnden Person zu entwickeln (Tillmann 2010). Im Sinne des Erlernens der sozialen Beziehungsgestaltung, unter Berücksichtigung normativer, sozialer und kultureller Aspekte, stellt die Sozialisation letztlich die natürliche Eingliederung in eine Gesellschaft dar (Neidhardt 1971).

Nach Hurrelmann (2002) spricht man von einer gelungenen Sozialisation, wenn sich die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums an den gesellschaftlichen Kriterien und Vorgaben orientiert vollzieht, d.h. „wenn die Interdependenz zwischen innerer und äußerer Realität produktiv verarbeitet wird“ (Raithel et al. 2009, S. 64). Als innere Realität versteht Hurrelmann (2002) alle biologisch-genetischen sowie psychischen Veranlagungen eines Menschen (wie bspw. Intelligenz, Geschlecht, körperliche Verfassung, Persönlichkeitsstrukturen, angeborene Fähigkeiten, etc.). Die äußere Realität umfasst alle materiellen und sozialen Aspekte (Familie, Peergroups, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Medien, natürlich-physikalische Umwelt, etc.) (vgl. Hurrelmann &

Ulich 1991; Tillmann 2010; Zimmermann 2003). Der äußeren Realität kommt eine ebenso entscheidende Rolle während des Sozialisationsprozesses zu, wie der inneren Realität.

Während seines Lebens durchläuft ein Individuum verschiedene Sozialisationsphasen, deren zugehörige Sozialisationsinstanzen jeweils eine entwicklungsspezifische Bedeutsamkeit aufweisen. Diese umfasst in besonderem Maße die Familie (primäre Sozialisation), sowie Institutionen wie Kindergarten oder Schule (sekundäre Sozialisation). Die soeben genannten Sozialisationsinstanzen werden im Kapitel 2.2.2 auf ihr Wirken in Bezug auf das Naturverständnis genauer betrachtet. Die Wissenschaft spricht weiterhin von der tertiären Sozialisation im Erwachsenenalter (Ausbildung, Universität, Betrieb) sowie der quartären Sozialisation im späteren Lebensalter (Raithel et al. 2009; Tillmann 2010; Zimmermann 2003). An dem Punkt, wo innere und äußere Realität sich überschneiden, findet die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums im Sinne der Sozialisation statt (Raithel et al.

2009). Sie berührt vier Ebenen, die laut Tillmann (2010) entsprechend ihrer Distanz zum Sozialisationsprozess geordnet sind und in einem Gesamtzusammenhang stehen:

Die Subjektebene, welche die Persönlichkeitsmerkmale, Erfahrungen und Einstellungen eines Individuums beschreibt wird durch die Ebene der Interaktionen und Tätigkeiten direkt beeinflusst und vice versa. Diese beinhaltet Persönliche Beziehungen, wie die Eltern-Kind-Beziehung, Kommunikation in Peergroups, zwischen Freunden und Verwandten, Unterrichtsgeschehen, etc. Darüber steht die Ebene der Institutionen (Kindergärten, Schulen, Kirchen, Betriebe, Militär, etc.), welche die Ebene der Interaktionen und Tätigkeiten als Sozialisationsinstanz nutzt und

25 damit einen direkten Einfluss darauf ausübt. Tillmann (2010) gibt zu bedenken, dass bestimmte Institutionen allein den Zweck der Sozialisation bedienen (wie bspw.

Schulen und Kindergärten), während andere nur eine nebensächliche Rolle im Sozialisationsprozess spielen (bspw. Betriebe). Die dritte Ebene nimmt direkten Einfluss auf die vierte und letzte Ebene der Sozialisation, die Ebene der Gesamtgesellschaft. Hier finden gesamtgesellschaftliche Veränderungen statt, welche durch institutionelle Veränderungen und Bedeutungszuschreibungen nach unten an das Individuum weitergegeben werden. Die nächsthöhere Ebene ist für die Strukturierung der nächstniedrigeren zuständig, jedoch bedingen sich die einzelnen Ebenen gegenseitig, so dass eine gesamtgesellschaftliche Veränderung durch das Subjekt möglich ist.

Die Sozialisationsforschung weist heute eine Vielzahl an Theorien auf. Als eine für die vorliegende Studie besonders relevante Sozialisationstheorie soll die von Pierre Bourdieu im Folgenden näher betrachtet werden:

Nach Bourdieu erfolgt die Sozialisation durch die Inkorporation sozialer Handlungen, von Bourdieu auch als „Habitusformierung“ bezeichnet (1987, S. 122; vgl. auch Lenger &

Schneickert 2009). Die Grundzüge von Bourdieus Sozialisationstheorie des „Habitus“ wird auf dessen Sozialforschung in Algerien in den 1950er Jahren zurückgeführt (vgl. Krais 2004;

Rehbein 2006). Ursprung seiner Forschung war das Aufeinandertreffen traditioneller, sozial erworbener Handlungsmuster mit strukturell neuen Rahmenbedingungen, entstanden durch gesamtgesellschaftliche Veränderungen im Zuge der Kolonialisierung Algeriens durch die westlichen Länder (Bourdieu 1959 & 1960). In späteren Schriften fasste er seine empirischen Beobachtungen zusammen (Bourdieu 1976), führte das Habituskonzept weiter aus und übertrug es auf die Klassengesellschaft (Bourdieu 1982). Mit seiner Theorie will Bourdieu (1987) die Dichotomie zwischen Gesellschaft und Individuum überwinden, indem der Habitus eines Menschen versucht, gesellschaftliche Verhaltensweisen zu erklären.

Bourdieu (1987, S. 101) beschreibt mit dem Habitus die menschlichen „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“, welche aus allen verinnerlichten sozialen Erfahrungen innerhalb eines Lebens zusammengetragen werden. Der Habitus ist „opus operatum“ und

„modus operandi“ gleichermaßen (Bourdieu & Wacquant 1992, S. 173), d.h. „strukturierte und strukturierende Struktur“, also ein System unbewusster Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensentwürfe, welche die Gedanken, das Verhalten und die Wahrnehmung einer Gruppe leiten (Thiersch 2014, S. 64). Durch die wiederkehrenden Erfahrungen der Gruppe

26 bekommt der Habitus eine Form, wird strukturiert. Im Gegensatz dazu gibt der Habitus den Menschen einer Gruppe eine bestimmte Form des Handelns vor, so dass er ebenfalls eine strukturierende Aufgabe übernimmt (Flaig 2011). Mit dem Habitus beschreibt Bourdieu also die grundlegende Einstellung eines Menschen zu sich selbst sowie seiner Umwelt. Denk- und Verhaltensmuster eines Menschen, bedingt durch den verinnerlichten Habitus, bestimmen, lenken und limitieren das Handeln einer Person (Vester 2010). Der Habitus ist demnach verantwortlich für die Wahrnehmung der Wirklichkeit und deren Interpretation, das Einschätzen und Bewerten von Konstellationen und Standpunkten sowie die Reaktion auf Situationen und der Einschätzung ihrer Durchführbarkeit bzw. der Limitation der eigenen Möglichkeiten und er durchzieht unbewusst den gesamten Lebenslauf eines Individuums (Suter 2013).

Die von Menschen gemachten Erfahrungen haben einen Einfluss auf den Habitus und vice versa. Durch kontinuierlich neue Erfahrungen wird auch der Habitus durch das gesamte Leben hindurch angepasst, allerdings laut Bourdieu (1997) nur in den oberflächlichen Schichten – der Kern des Habitus und damit die in jungen Jahren erlernten Verhaltensweisen aus prägenden Erfahrungshandlungen bleiben unverändert (Thiersch 2014). Die Individuen strukturieren somit ihre eigene Lebensumwelt dem Habitus entsprechend und nehmen eine spezifische Position im sie umgebenden sozialen Raum ein. Diese Position ist verinnerlicht und ermöglicht die stabile Fortführung sozialer Ordnungen (Schwingel 2018). Bourdieu (1982 & 1987) ging davon aus, dass Menschen durch ihren Habitus in soziale Klassen einteilbar sind. Menschen gleicher Klasse weisen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ähnliche Verhaltensmuster, Denkweisen und Ideen der Lebensführung sowie Wahrnehmung von Sachverhalten auf, welche auf sich stark ähnelnde Erfahrungen im Leben zurückgeführt werden können. Neben den inneren Mustern lassen sich auch äußere Muster erkennen. So besitzen Menschen der gleichen sozialen Gruppe bspw. einen ähnlichen ökonomischen Status, eine bestimmte Art zu essen, eine Art sich zu bewegen oder zu kleiden und unterscheiden sich dadurch von anderen Gruppen (Krais & Gebauer 2002). Entsprechend ist davon auszugehen, dass ein Individuum Entscheidungen trotz theoretischer Wahlfreiheit immer nach seinem Habitus trifft, d. h. entsprechend der verinnerlichten klassenzugehörigen Muster.

Darüber hinaus entwickelte Bourdieu wissenschaftliche Definitionen zu den Termini „Feld“

und „Kapital“ (Bourdieu 1983; 1987, S. 122ff.), welche sich auf den Habitus beziehen.

Felder bezeichnen Bereiche des sozialen Raums, die dem Habitus angepassten Codes und

27 Strukturen sowie sozialen Positionierungen und Rangordnungen unterworfen sind. Felder bringen einen bestimmten Habitus hervor und definieren sich gleichzeitig über diesen (Fuchs-Heinritz & König 2014). Ein Handeln nach festgelegten Denk- und Wahrnehmungsmustern ohne formelle Anweisung geschieht innerhalb der sozialen Felder, welche Bourdieu als Handlungsebene des Individuums beschreibt (Lenger, Schneickert &

Schumacher 2013). Ein gesellschaftliches System besteht aus verschiedenen sozialen Feldern mit individuellen Feldinteressen und -funktionen. Mit seiner Feldtheorie gibt Bourdieu Aufschluss über die Abläufe möglicher Sozialisationsprozesse innerhalb festgelegter sozialer Teilbereiche wie bspw. Institutionen im Sinne des Kindergartens oder der Schule (Bourdieu 1999). Die Feldstruktur gibt Auskunft darüber, wie innerhalb des Feldes interagiert wird, welche Regeln zu befolgen sind, welche Teilnahmebedingungen vorherrschen, usw. (Vester 2010). Die Akteure eines Feldes legen zudem dessen Grenzen fest und können darüber andere Akteure ausgrenzen. Die Strukturen innerhalb eines Feldes sind von den Teilnehmenden stark umkämpft und bedürfen einer ständigen Bestätigung.

Demnach gibt es herrschende Akteure, welche die Strukturen prägen, daran festhalten bzw.

diese zu ihren Gunsten anpassen / formen (Lenger et al. 2013; Vester 2010). Bourdieu &

Passeron (1971) verweisen dabei auf die unterschiedlichen Zugänge zum Bildungswesen und den damit verbundenen sozialen Gruppen und Klassenhabitus in bildungsrelevanten Institutionen. Laut Bourdieu spielt hier die Primärsozialisation eine entscheidende Rolle für die weiterführende Nutzung von sekundärsozialisierenden Instanzen.

Die Unterschiedlichkeit der sozialen Felder wird durch das zur Verfügung stehende feldspezifische Kapital charakterisiert, im Besonderen das ökonomische, kulturelle, symbolische und soziale Kapital. Dabei unterscheidet er die Kapitalsorten wie folgt (Bourdieu 1983; vgl. auch Esser 2011; Flaig 2011; Vester 2010):

§ Kulturelles Kapital: 1. Inkorporiert (d.h. verinnerlicht) – Bildung, Erziehung, Wissen, Sprache, etc.;

2. Institutionalisiert – Titel, Zertifikate und Zeugnisse, Ehrungen, Positionen, etc.;

3. Objektiviert – Kulturobjekte wie Bücher, Kunstwerke, etc.

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§ Soziales Kapital: Jegliche Form sozialer Beziehungen, Kooperationen und Zugehörigkeiten innerhalb einer Gruppe

§ Ökonomisches Kapital: Jegliche Form monetären Eigentums und wirtschaftlicher Besitztümer, etc.

§ Symbolisches Kapital: Jegliche Form von sozialer Anerkennung und eine damit verbundene natürliche Legitimität innerhalb eines Feldes (etwa Privilegien, Verhalten und Status aber auch Kleidung, Lebensstile, etc.); Symbolisches Kapital ist die Summe der anderen Kapitalsorten.

Das Kapital eines Individuums bestimmt die Teilnahmemöglichkeiten innerhalb des Feldes sowie den Grad der Mitbestimmung (Bourdieu 1996). Grundsätzlich entsteht soziales Handeln nach Bourdieu im Zusammenspiel zwischen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und den Bestimmungen im Handlungsfeld (Bourdieu 1982, S.

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„[(Habitus) (Kapital)] + Feld = Praxis“

Dabei spielen ebenso die Beziehungen zwischen sowie die Ausprägungen der einzelnen Kapitalarten eine entscheidende Rolle und führen zur Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen.