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2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.4 N ATURERFAHRUNG IN DER K INDHEIT UND DEREN R ELEVANZ FÜR DIE KINDLICHE E NTWICKLUNG 36

2.5.1 Naturerfahrungsdimensionen

Spricht man von Dimensionen eines Gegenstandes, wird stets versucht mit Hilfe von Parametern und deren Ausprägung diesen Gegenstand zu klassifizieren und greifbar zu machen. Wie bereits gezeigt, ist eine konkrete Definition des Naturbegriffs nur schwerlich möglich, so dass verschiedene Studien versuchten, das Erfahren und Begreifen von Natur in Dimensionen zu gliedern, um so einen Zugang zu ermöglichen und Unterscheidungen sichtbar zu machen. Im Folgenden werden ausgewählte Naturerfahrungsdimensionen vorgestellt, da anzunehmen ist, dass sie wichtige Impulse für die Auswertung der erhobenen Daten im Sinne der Interpretation von Natur durch die Studienteilnehmer geben werden.

Kattmann (1993) nennt als Ergebnis seiner Studie „7 Weisen, die Natur zu verstehen“ sieben Dimensionen mit starkem Bezug auf die Nutzungsabsichten von und in der Natur:

1. Benötigte Natur (Natur wird als Lebensgrundlage verstanden, aus der Lebensmittel als Ernährungsgrundlage gewonnen werden. Natur hat zudem einen übergeordneten Wert im Sinne von Erholung)

2. Geliebte Natur (Natur besitzt eine starke emotionale Komponente, welche sich bspw.

auf eigenen Naturbesitz im Sinne eines Gartens o.ä. oder auch das Halten von Haustieren als Naturerfahrung definieren)

42 3. Verehrte Natur (Menschen, die Natur im Sinne einer Naturreligion verehren und entsprechend umsichtig im Sinne der Vorgaben und Überzeugungen dieser Religion mit der Natur interagieren)

4. Erlebte Natur (Natur wird insbesondere über die sinnlichen Kanäle wahrgenommen.

Sinnliche Erfahrungen von Naturgegenständen und -situationen sind vordergründig) 5. Beherrschte Natur (Mensch als Beherrscher über die Natur, indem er sich Flächen

aneignet und für seine Zwecke durch gezielte Umgestaltung nutzbar macht)

6. Bedrohte Natur (Mensch als Gegner der Natur: Natur ist gleichermaßen bedroht durch den Menschen als auch bedrohend für den Menschen. Natur wird als Ort wahrgenommen, der durch den Menschen und dessen Umgestaltungswillen, bedroht, zurückgedrängt und zerstört wird)

7. Gelebte Natur (Mensch ist Teil der Natur, lebt entsprechend seiner Überzeugungen als Mitglied innerhalb dieses Universums und greift weniger invasiv in die Natur ein) Wals untersuchte 1994 die Wahrnehmung von Natur und die damit verbundenen Einstellungen und Bewertungen zum Naturbegriff bei Jugendlichen zwischen zwölf und 13 Jahren, mit dem Ergebnis, dass Natur ein Spektrum unterschiedlicher Assoziationen und Einstellungen hervorruft. Wals sieht historisch gewachsene und teilweise romantisierte Naturwahrnehmungen im Vordergrund. Er beschreibt acht Wahrnehmungsdimensionen:

1. Natur als friedlicher Ort (Natur wird als friedlicher Ort wahrgenommen für Ruhe und Entspannung. Eine gewisse Einsamkeit in der Natur ist Ausgangspunkt für den empfundenen Frieden)

2. Natur als Lernort, insbesondere Ausgangspunkt für ökologisches Lernen (Natur ist ein attraktiver Ort, an dem (unbewusst) Lernen stattfindet. Durch das Fördern kreativer und kognitiver Kompetenzen kann Wissen aufgebaut werden, insbesondere im Bereich der Umweltbildung und des ökologischen Lernens)

3. Natur als Abbild einer romantischen Vergangenheit (Natur als Ort der Freiheit und Spontanität, als Ort der „wahren“ Natur ohne menschlichen Einfluss. Insbesondere Vergangenheitsszenarien und -assoziationen spielen hier eine Rolle)

4. Natur als Ort zum Spaß haben mit Unterhaltungswert (Natur als Ort zum Spaßhaben mit entsprechender Assoziation einer positiven Grundstimmung)

5. Natur als Ort für gezielte Aktivitäten (Natur als Ort für gezielte Aktivitäten, welche unter Umständen auch abenteuerlichen und risikobereiten Ursprungs sein können.

Natur wird zum Treffpunkt)

43 6. Natur als bedrohlicher Ort (Natur als ein für den Menschen bedrohlicher Ort. Natur

kann dem Menschen Schaden zufügen)

7. Natur als bedrohter Ort (Respektive des bedrohlichen Ortes wird Natur als bedroht wahrgenommen. Hier steht die persönliche Reflektion des Verhaltens der einzelnen Studienteilnehmer im Vordergrund sowie die eigene Umweltwahrnehmung)

Brämer (1999) konstatiert, dass der Naturbegriff ein weitreichendes Definitionsspektrum umfasst und beschreibt Natur in Perspektiven. Neben der Inhaltsperspektive sieht er die Handlungsperspektive als essentiell. Für die vorliegende Arbeit soll jedoch die Wertperspektive von Natur von besonderer Bedeutung sein. Brämer weist auf eine tiefgehende Verankerung des Naturverständnisses in der Persönlichkeit des Individuums und dessen Entwicklung hin. Er sieht die einwirkenden Reize während der Entwicklung als zentral für die Ausprägung der späteren Naturwahrnehmung.

Brämer (ebd.) entwickelte sechs Dimensionen des Naturverständnisses und beschreibt diese in einer Dichotomie positiver und negativer Zuschreibungen:

1. Befinden (Natur ist Quelle positiver Gefühle und Verbindungen (wie bspw.

Erholung, Gesundheit, Geborgenheit, Genuss, Glück, Abenteuer und Erlebnis).

Dem gegenüber stehen negative Gefühle der Belastung durch Natur im Sinne von Arbeit, Gefahren, möglichen Krankheiten, Tod, Stress, Schmerz oder Schrecken) 2. Ästhetik (Natur als Ort von Vielfalt, Formen, Farben, Schönheit und Harmonie im

positiven Spektrum, sowie einer Demonstration von Unordnung, Monotonie und Leere im negativen Sinne)

3. Sinn (Natur als Lebensverständnis: Sinn des Lebens, Schöpfung Gottes, Frieden und Gleichgewicht. Dem entgegen steht die Hilflosigkeit gegenüber einer übermächtigen Natur, in der sich der Mensch als Opfer von Vernichtung und Katastrophen sieht, auf die er keinen Einfluss hat)

4. Norm (Natur gibt dem Individuum Orientierung: sie liefert Vorbilder, setzt aber auch Maßstäbe und Grenzen. Auf der negativen Seite bedeutet Natur Chaos und ein Ohnmachtsgefühl durch die Allmacht der Natur)

5. Erkenntnis (Natur als Speicher von Wissen und Weisheit, welches für das eigene Leben und dessen Weiterentwicklung bspw. in der Bionik genutzt wird. Dem entgegen steht Natur mit einem verstellten Zugang zu Wahrheit, Sicherheit und Sinn)

44 6. Nutzen (Natur als Mittel zum Überleben und als Träger von Heilkräften.

Entsprechend muss sie geschützt und bewahrt werden. Dem entgegen steht die optimale Nutzung der Natur, deren Ausbeutung und wissentliche Zerstörung) Brämer fügt seiner Theorie an, dass die Bewertung von Natur in starker Abhängigkeit zur jeweiligen Lebenssituation eines Individuums gesehen werden sollte und somit über den Lebenszyklus eines Menschen veränderbar ist. Dies gilt sowohl innerhalb der Perspektiven als auch in den jeweiligen positiven oder negativen Ausprägungen.

Bögeholz & Mayer (1999) analysierten eine Reihe ausgewählter internationaler Studien zum Thema Naturerfahrung aus den Jahren 1984 bis 1993 (vgl. Eagles & Muffitt 1990; Greaves Stanisstreet, Boyes & Williams 1993), aus denen sie fünf Naturerfahrungsdimensionen herausarbeiteten. Ziel dieser Arbeit war die biologiedidaktische Nutzung der Erkenntnisse für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Der Fokus lag entsprechend auf dem Zusammenhang von Naturerfahrung und späterem Umwelthandeln:

1. Ästhetische Dimension (Alle Formen der sensorischen Wahrnehmung von Natur:

neben audiovisuellen und haptischen Eindrücken ist die Wahrnehmung von Bewegung sowie das ästhetische Empfinden von landschaftlicher Schönheit zentral) 2. Erkundende Dimension (Beschäftigung mit der Natur als Erfahrungs- und

Forschungsraum, insbesondere Untersuchungen von Flora und Fauna. Die Frage des Nutzens der Natur für das Individuum wird vollständig hintenangestellt)

3. Instrumentelle Dimension (Nutzen von Natur für das Individuum im Fokus:

Kultivierung der Natur in Hinsicht auf das gezielte Erwirtschaften durch Pflanzen und Tiere)

4. Ökologische Dimension (Alle Maßnahmen des Natur- und Artenschutzes sowie relevante Arbeiten zum Erfassen und Begreifen eines Ökosystems. Die Übernahme von Verantwortung für die Natur steht im Vordergrund)

5. Soziale Dimension (Naturerfahrung über den Aufbau sozialer Beziehungen zu Tieren als positives Erlebnis für das Individuum)

Lude (2001) erarbeitete acht Naturerfahrungsdimensionen mit Schwerpunkt auf der medialen Vermittlung von Naturerfahrung. Er unterscheidet darin primäre bzw. unmittelbare Naturerfahrung von sekundären bzw. indirekten Naturerfahrungen durch Bücher, Filme oder weitere Medien. Da die von Lude entwickelten Naturerfahrungsdimensionen eine

45 Weiterführung von Mayer & Bögeholz (1998) darstellen, soll hier nur auf drei Dimensionen eingegangen werden:

1. Rekreative Dimension (Erholungsbezogene Dimension) (Natur als Ort der Erholung und der emotionalen Zufriedenheit. Zur Erholung werden vor allem sportliche Tätigkeiten im Alltag und während des Urlaubs in der Natur ausgeübt)

2. Ernährungsbezogene Dimension (Ernährung im Sinne eines umweltbewussten und gesundheitlich unbedenklichen Konsums: Tendenz zum Kauf der Lebensmittel in Bioläden bzw. mit nachhaltigem, im besten Fall regionalem Herkunftsnachweis ist bedeutend. Lude grenzt sich hier aktiv von der von Bögeholz & Mayer entwickelten instrumentellen Dimension ab)

3. Mediale Dimension (Indirekte Naturerfahrung bspw. durch das Schauen von Naturfilmen, Dokumentationen oder das Ansehen von Fotos, Büchern zu Naturthemen, Nachrichten oder Berichterstattungen über Naturschutzaktionen in Digital- und Printmedien, etc.)

Cheng und Monroe (2012) untersuchten die Grundeinstellung von US-amerikanischen Kindern zur Natur. Ziel der Studie war es mit Hilfe von Gruppeninterviews sowie einer Fragebogenerhebung an Schulen einen Naturbezugs-Index zu entwickeln. Cheng und Monroe konnten aus ihren Daten vier Naturdimensionen herausarbeiten:

1. Freude an der Natur (Positive, sensorische Erfahrungen in der Natur, insbesondere in Hinblick auf das Hören und Sehen sowie Gefühle, welche dem Individuum durch Natur vermittelt werden, wie Ruhe, Frieden, Glück und Zufriedenheit. Natur ist zudem ein Erlebnisort, an dem man Spaß haben kann)

2. Empathie für Lebewesen (Die soziale Beziehung zu Tieren, aber auch Pflanzen, wird fokussiert. Das Wohlergehen wilder Tiere wird als bedeutend, das Verletzen wilder Tiere nicht toleriert. Der Tier- und Artenschutzgedanke ist Teil dieser Dimension) 3. Gefühle von Einssein (Natur als übergeordnetes Ganzes: der Mensch wird als

untergeordneter Teil der Natur im System platziert wird. Ohne Natur und den darin lebenden Pflanzen und Tieren wird das Leben als nicht lebens- und überlebenswert eingestuft. Durch das Bewusstsein Teil eines größeren Ganzen zu sein, fühlen sich die Befragten in der Natur glücklich)

4. Verantwortungsgefühl (Verantwortungsgefühl gegenüber der Natur: Reflektion des eigenen Handelns und des Effektes auf die Umwelt sind relevant. Der Mensch darf die natürliche Umgebung nicht nach seinen Bedürfnissen verändern)

46 Neben den hier genannten Studien sind einige weitere bekannt, die sich mit Einstellungen und Bewertungen zur Naturerfahrung und den korrespondierenden Dimensionen beschäftigen. Durch die ausgewählten Studien soll ein Überblick über das Spektrum bestehender Annahmen wiedergegeben sowie die Annäherung und gleichzeitige Unterschiedlichkeit der Naturdimensionen aufgezeigt werden. Auf weitere Studien zum Thema kann hier aufgrund der Komplexität und Umfänglichkeit nur verwiesen werden (vgl.

Braun 2000; Gebauer 2007; Gebhard 2015; Raith & Lude 2014; etc.).