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Sozialisationsinstanzen und deren Einfluss auf das Naturverständnis

2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.3 S OZIALISATION , FRÜHE K INDHEIT UND N ATURERFAHRUNG

2.3.2 Sozialisationsinstanzen und deren Einfluss auf das Naturverständnis

28

§ Soziales Kapital: Jegliche Form sozialer Beziehungen, Kooperationen und Zugehörigkeiten innerhalb einer Gruppe

§ Ökonomisches Kapital: Jegliche Form monetären Eigentums und wirtschaftlicher Besitztümer, etc.

§ Symbolisches Kapital: Jegliche Form von sozialer Anerkennung und eine damit verbundene natürliche Legitimität innerhalb eines Feldes (etwa Privilegien, Verhalten und Status aber auch Kleidung, Lebensstile, etc.); Symbolisches Kapital ist die Summe der anderen Kapitalsorten.

Das Kapital eines Individuums bestimmt die Teilnahmemöglichkeiten innerhalb des Feldes sowie den Grad der Mitbestimmung (Bourdieu 1996). Grundsätzlich entsteht soziales Handeln nach Bourdieu im Zusammenspiel zwischen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und den Bestimmungen im Handlungsfeld (Bourdieu 1982, S.

175):

„[(Habitus) (Kapital)] + Feld = Praxis“

Dabei spielen ebenso die Beziehungen zwischen sowie die Ausprägungen der einzelnen Kapitalarten eine entscheidende Rolle und führen zur Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen.

29 Bearbeitung der Forschungsfrage aufweist. Von Anfang an spielen materielle und soziale Lebensbedingungen der Familie eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines Kindes, persönlich wie auch gesellschaftlich. Neben der Ausbildung erster Grundstrukturen in der Persönlichkeit verinnerlicht ein Individuum aus der Familie heraus Werte und Normen von elementarer Bedeutung und erlernt Regeln und Umgangsformen, die typisch sind für die individuelle, familiäre Umgebung (vgl. Hurrelmann 2002; Seel & Hanke 2015; Vollmer 2012). Diese Vermittlung normativer Orientierungen sowie wertebezogener Einstellungen vollzieht sich als bewusster oder unbewusster Prozess (Mühler 2008). Die Familie wird zum Vermittler zwischen Individuum und sozialer sowie physikalischer Umwelt (Hurrelmann 2002). Dieser Vermittlungsprozess geschieht in der Regel zielgerichtet durch die Familie (ebd.). Etwa ab dem vierten Lebensjahr kommen weitere Sozialisationsaspekte hinzu, bspw.

das Erlernen spezieller Interaktionsmuster oder situativer Erwartungshaltungen. Die Bereitschaft sich den Mustern, Anschauungen und Orientierungen anzunehmen, wird erst durch die Identifizierung des Kindes mit seinen Bezugspersonen ermöglicht. Durch die Übernahme der entsprechenden Haltungen durch das Kind wird diesem der Zugang zur Gesellschaft bzw. zur Lebenswelt im Allgemeinen ermöglicht, dem Individuum ein Platz in der Familie und damit in der Gesellschaft zugewiesen (Berger & Luckmann 2009). Die Menschen um das Individuum herum werden zum Resonanzkörper in Hinblick auf eigene Gefühle, Eindrücke, Ansichten und Bedürfnisse und prägen es somit grundlegend (ebd.).

Erneut ist hier Bourdieu mit seiner Habitus-Theorie zu nennen, der Familie als den Ort sieht, an dem Kinder ihre ursprüngliche Prägung erfahren und „über das alltägliche Miteinander als soziale und kulturelle Praxis kollektiv erzeugt und aufrechterhalten“ (Ecarius, Köbel &

Wahl 2011, S. 86) wird. Durch Nachahmung alltäglicher Handlungen werden Wahrnehmung, Denken, Urteilsvermögen und Handlungsschemata gefestigt, welche wiederum dem Bourdieu´schen Habitus entsprechen und „von Kindheit an antrainiert werden, die sich zu einem Komplex von Fähigkeiten, Gewohnheiten manifestieren, sich in Haltung, Erscheinungsbild oder Stil äußern oder auch sich zu Automatismen von Körperbewegung, banalster Deutungen oder Geschmack verinnerlicht haben“ (ebd., S.

86f.).

Es ist also anzunehmen, dass die Sozialisation in der Familie einen erheblichen Einfluss auf das Verständnis von Natur sowie dem der Natur beigemessenen Wert ausübt. Dieser geht über soziale und materielle Bedingungen der Familien hinaus: „Wie Menschen Natur jeweils erfahren, empfinden und nutzen, hängt nicht nur davon ab, wie alt sie sind oder welchen

30 Schulabschluss sie haben. Jenseits soziodemographischer Faktoren sind es insbesondere Wertorientierungen und Lebensstile, die zu verschiedenen Einstellungen und Zugangsweisen zur Natur führen“ (Kleinhückelkotten & Neitzke 2012, S. 15). Damit hat die primäre Sozialisation und deren Einfluss auf das Naturverständnis bedeutende Relevanz für die vorliegende Arbeit. Im Sinne des Verinnerlichens eines positiven Verständnisses von Natur sehen Schleicher & Möller (1997) als auch Bögeholz (1999) oder Cheng & Monroe (2012) die Familie als essentiellen Bestandteil, um dem Kind in geborgener und vertrauensvoller Umgebung die Erkundung der Natur zu ermöglichen. Diese Ansicht unterstützt auch Gebhard (2013, S. 99), wenn er sagt, dass „die Erfahrung von Natur verknüpft ist mit der Beziehung zu Menschen, [das] gilt insbesondere für kleinere Kinder, die eine personale Beziehung und damit Geborgenheit brauchen, um sich auf die Dinge der Welt, auf die Natur zubewegen zu können“. Natur bekommt demnach eine Bedeutung durch die Interaktionsprozesse mit Bezugspersonen in der Natur.

Greiner (2001, S. 191ff.) beschäftigte sich in seiner Dissertation mit dem Thema des Einflusses verschiedener Bezugspersonen auf die „Wissensbildung, Interessenbildung, Einstellung und Handlungsbereitschaft im Bereich des Natur- und Umweltbewußtseins“ bei Schülerinnen und Schülern der dritten und vierten Klassenstufen. Er fand heraus, dass in erster Linie die Eltern Einfluss auf die soeben genannte Bewusstseinsbildung nehmen. Es folgen in zweiter Instanz die Großeltern, die einen besonders großen Anteil an der Wissensvermittlung rund um das Thema Natur ausmachen. Greiner konnte zudem eine Korrelation innerhalb der Geschlechter feststellen, d.h. Mütter haben für die Bewusstseinsbildung einen größeren Einfluss auf die Mädchen, Väter auf die Söhne. Das Interesse an der Natur und damit verbundenen Themen ist bei beiden Geschlechtern gleichermaßen ausgeprägt. Gebhard (2013, S. 100) erklärt dazu:

„Die Tönung, die die Beziehung zu den Dingen erhält, spiegelt auch die Tönung wieder, die in der Beziehung zu Bezugspersonen gelegen hat. Abgesehen davon, sind natürlich Bezugspersonen in gewisser Weise Vorbilder für die Kinder. So überträgt sich innerhalb der Beziehung zwischen Kind und (beispielsweise) Mutter die Bedeutung, die die Dinge, auch die Dinge der Natur, für die Mutter haben. So werden nicht nur die Gegenstände, also auch Naturphänomene, gewissermaßen zu Merkzeichen der Beziehung zu den primären Bezugspersonen, sondern die Bedeutung und die Wertigkeit, die die Natur für die Eltern hat, überträgt sich auf diese Weise in frühkindlichen Szenen auf die jeweils nächste Generation. Die Einstellungen und Wertmaßstäbe der Eltern […] prägen das Wahrnehmungsmuster von Kindern […]

und überträgt sich auf das jeweilige Verhältnis zur Natur“.

Als weitere Sozialisationsinstanzen nennt Greiner (2001) die Schule sowie Verwandte, Bekannte und Freunde. Studien (Meske 2011; Pohl 2006; Raith & Lude 2014) zeigen auf,

31 dass das Naturverständnis bei Kindern in der Mehrheit sehr positiv ausfällt und teilweise sogar idealisiert wird. Pohl fand in seiner Dissertation heraus, dass Landkinder in Bezug auf

„erfahrungs- und naturwahrnehmungsrelevante […] Faktoren und Variablen“ (2006, S.

142) signifikant besser abschneiden als Stadtkinder, d.h. über mehr Wissen verfügten, mehr Zeit in der Natur verbrachten, eine ausgeprägtere Naturaktivität sowie differenziertere Naturwahrnehmungen aufwiesen. Diese Erkenntnisse korrelieren mit der Annahme, dass neben dem sozialen Umfeld auch das räumliche Umfeld einen Einfluss auf die Sozialisation von Individuen hat. Kindheit wird also einerseits geprägt durch die sozialen Beziehungen und Bindungen, die man als Kind und Jugendlicher eingeht, sowie durch die Umgebungen selbst, denen ein Sinn verliehen wird und die einem sodann als positive Erinnerung im Gedächtnis bleiben (Hurrelmann 2002). So zeigen Studien des Fachbereichs Architekturpsychologie etwa den Zusammenhang zwischen der Sozialisationsumgebung und deren Einfluss auf die spätere Wahrnehmung und das Wohlfühlgefühl in Bezug auf Räume und Umgebungen auf (Rohde 2018). Dabei kommt den Jahren vor Eintritt in die Schule eine besondere Bedeutung zu. Laut Studie üben die umweltbiografischen Erfahrungen einen bedeutenden Einfluss darauf aus, ob ein Mensch sich in späteren Umgebungen wohlfühlt oder nicht, d.h. „haben Menschen während des Vorschulalters auf dem Lande gewohnt, so werden im jungen Erwachsenenalter natürliche Umwelten besonders positiv beurteilt“ (ebd., S. 21). Die Ursache dafür ist eine unbewusste Prägung in der frühen Kindheit und das Verbinden positiver Erlebnisse mit diesen Umgebungen, denn

„sie alle hinterlassen Spuren in unserem Unbewussten und steuern unsere Wahrnehmung von Räumen und unseren Umgang damit“ (ebd.). Menschen können nach diesen Studien nicht nur Bindungen zu anderen Menschen eingehen, sondern auch zu biografierelevanten Umgebungen.

Auch die Hirnforschung kommt zu ähnlichen Aussagen, in denen die ersten Erfahrungen prägend für das weitere Leben sind: „Wichtige individuell gemachte Erfahrungen hinterlassen Spuren in Form gebahnter neuronaler und synaptischer Verschaltungsmuster im Gehirn. Diese Muster oder inneren Bilder werden im späteren Leben durch neue Eindrücke überlagert und weiter modifiziert, bleiben aber zeitlebens eng an die emotionalen und körperlichen Reaktionen gekoppelt, die mit der primären Erfahrung einhergingen“

(Hüther 2008, S. 15). Sebba (1991) fand Ähnliches in einer Befragung von israelischen Erwachsenen nach deren Kindheitserinnerungen in Bezug auf für sie bedeutsame Plätze ihrer Kindheit heraus: 96,5% gaben dabei „draußen“ als Antwort.

32 b) Sekundäre Sozialisationsinstanzen und Naturverständnis

Während unter primärer Sozialisation die elterliche bzw. direkte Sozialisation durch die Bezugsfamilie zu definieren ist, bieten Kindergarten und Schule sowie Verwandte, Freunde und Peergroups den Rahmen sekundärer Sozialisation.

Da der Kindergarten für die vorliegende Studie den Kern des Forschungsgegenstandes darstellt, soll ein kurzer Überblick über die Entwicklung von Kindertageseinrichtungen sowie deren rechtliche Grundlage gegeben werden, um anschließend auf die Sozialisationsprozesse in dieser Sozialisationsinstanz eingehen zu können:

Rechtliche Grundlage

Als Kindertageseinrichtungen (als Sammelbegriffe auch Kindergarten oder Kita genannt) werden laut achtem Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland Tageseinrichtungen verstanden, welche die „Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern ab dem dritten Lebensjahr bis zum Eintritt in die Schule [zur Verfügung stellen]. Jedes Kind hat ab dem vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz“ (§ 24 SGB VIII). Der Kitabesuch geschieht auf freiwilliger Basis und ist in einigen Bundesländern kostenfrei (Deutscher Bildungsserver 2020)13. Der Kindergarten ist in Deutschland gleichzeitig eine Einrichtung der Bildung als auch der Jugendhilfe (Hemmerling 2007). Morgan (2016) ergänzt dazu, dass der Begriff Kindertageseinrichtung zusätzlich die Betreuungsformen der Krippe (null bis drei Jahre) und Horte (Betreuung der Kinder nach der Schule ab der ersten Klasse) sowie übergreifende Einrichtungen, die mehrere Altersgruppen betreuen, meint.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz regelt in § 22 SGB VIII die Aufgaben von Kindertageseinrichtungen und beschreibt die Aufgabentrias von Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder durch sozialpädagogisch geschultes Personal. Die Bildungs- und Erziehungsziele in Kindertageseinrichtungen sind in den Orientierungs- und Bildungsplänen festgeschrieben, welche von den Bundesländern individuell ausgearbeitet werden (Deutscher Bildungsserver 2018).

13Die gesetzlichen Regelungen zur Beitragsfreiheit richten sich nach den einzelnen Bundesländern und unterliegen unterschiedlichen Voraussetzungen. So ist die Kinderbetreuung in Berlin für jedes Kind seit dem 01.08.2019 kostenfrei, in Hamburg ist die Beitragsfreiheit an die Anzahl der Betreuungsstunden gekoppelt. Andere Bundesländer bieten eine beitragsfreie Betreuung mit Vollendung des dritten Lebensjahres oder übernehmen die Kosten für das letzte

Kindergartenjahr. Ausführliche Informationen dazu unter Deutscher Bildungsserver (2020). Kita-Gebühren: Wo sind Kitas beitragsfrei? Verfügbar unter https://www.bildungsserver.de/Kita-Gebuehren-und-Beitragsfreiheit-5674-de.html [10.07.2020]

33 Historische Entwicklung

Historisch gewachsen stellten Kindergärten in ihrer Anfangszeit vor allem einen Ort der Kinderverwahrung (Franke-Meyer 2011; Konrad 2012; Reyer 2006) während der elterlichen Arbeitszeiten dar. Der Pädagoge Friedrich W. A. Fröbel erkannte Mitte des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der frühen Kindheit und erschuf ein System der Kinderbetreuung, das über die reine Betreuung der Kinder hinaus ging und die Felder Erziehung und Bildung miteinbezog (Hemmerling 2007; Konrad 2012; Petermann & Wiedebusch 2017). Fröbel stellte das Kind in den Mittelpunkt und entwickelte auf Altersgruppen abgestimmte Lernmaterialien, Lieder und Spiele, wobei das kindliche Spiel im Zentrum seiner Konzeption stand (Konrad 2012).

Heute steht oftmals der Bildungsaspekt der Kitas im Vordergrund. Der Kindergarten wird

„gesellschaftspolitisch als ein Ort frühkindlicher Bildung gesehen“ (Hemmerling 2007, S.

13). Internationale Überprüfungen der Bildungsqualität (bspw. die PISA-Studie14) tragen zur Erhöhung der Bildungsrichtlinien in Kindergärten oder der Umsetzung spezieller Frühförderprogramme bei (vgl. Aden-Grossmann 2011; Wetzel 2015). Grundsätzlich soll der Kindergarten in seiner Komplexität und strukturellen Ausrichtung eine Ergänzung zum familiären Leben und Lernen des Kindes darstellen (Hemmerling 2007). Er soll zudem einen Beitrag zur Chancengleichheit in Deutschland leisten und Kinder auf das Leben im Allgemeinen sowie auf den Übergang in die Schule vorbereiten (Hinz & Schumacher 2006).

Pädagogische Grundlage

Kindergärten in Deutschland verfügen in der Regel über eine pädagogische Konzeption als Grundlage ihres Arbeitens. Je nach Lebensentwurf und Schulformwunsch können Eltern bereits im Kindergarten verschiedene Konzepte wählen, die am ehesten mit ihren familiären Wertvorstellungen und dem eigenen Menschenbild harmonieren. Die Kinder sollen so in ihrer „sozialen, kognitiven und emotionalen Entwicklung [entsprechend der elterlichen Vorstellungen und Lebensweisen] gefördert“ (Spies 2015, S. 35) werden. Während im Kindergartenbereich noch eine hohe Konzeptvielfalt besteht (Konrad 2012; Petermann &

Wiedebusch 2017), verringert sich diese ab dem Schuleintritt (Wetzel 2015). Besonders bekannte, pädagogische Ansätze außerhalb der Regelkindergärten sind die Montessori-Pädagogik, Waldorf-Montessori-Pädagogik, Reggio-Montessori-Pädagogik, der Situationsansatz, offene Konzepte

14PISA (Programme für International Student Assessment) – Größte internationale Schulleistungsstudie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung);Durchführung der Studie alle drei Jahre mit derzeit 79 teilnehmenden Ländern; Geprüft werden die Bereiche Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Weitere Informationen unter http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/ [10.07.2020]

34 sowie seit Beginn der 1990 er Jahre die Waldkindergärten (Morgan 2016, S. 100f.). Zudem existieren eine Vielzahl weiterer Ansätze, die in Kindergärten pädagogisch umgesetzt werden, etwa spielzeugfreie Kitas, Bewegungskindergärten, Kneipp-Kindergärten, Emmi Pikler, Bilinguale Kindergärten bzw. Kindergärten mit spezieller Sprachförderung, Musikkindergärten, Kunstkindergarten, Integrative Kindergärten, uvm. (Knauf, Düx &

Schlüter 2007). Da das Konzept der Natur- und Waldkindergärten für die vorliegende Studie von elementarer Relevanz ist, beschreibt das Kapitel 3 diese Einrichtungen im Detail.

Sozialisationsgeschehen im Kindergarten

Aus Sicht der Sozialisationsforschung übernahmen Kindertageseinrichtungen im Zuge der Industrialisierung teilweise die Funktion der familiären Sozialisation bzw. ergänzen diese seitdem (Hurrelmann 2002). Lell-Schüler (2012) geht sogar so weit, dass Kinderkrippen und Kindertageseinrichtungen als erste Einrichtungen der sekundären Sozialisation Eltern als Hauptbezugspersonen ablösen. Kindertageseinrichtungen tragen somit als außerfamiliäre soziale Systeme eine große Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem Individuum (Hemmerling 2007; Seel & Hanke 2015; Vollmer 2012). Im Sinne einer Weiterführung der primären Sozialisation in den Familien, sollen die bereits erlernten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata in den Kindergärten weiter vertieft werden sowie

„durch die Interaktion mit gleichaltrigen Spielpartnern […] wird dem Kind ermöglicht, sein eigenes Verständnis von Welt qualitativ zu verändern“ (Ecarius et al. 2011, S.103). Dabei sind besonders positive Ergebnisse durch eine enge Kooperation zwischen Familie und sekundärer Sozialisationsinstanz zu erwarten (Seel & Hanke 2015). Eine gesunde Beziehung zwischen Eltern und Kindertageseinrichtung ist einem positiven Sozialisationsprozess des Kindes hochgradig förderlich.

Das Hauptaugenmerk dieses Sozialisationsprozesses in den Kindertageseinrichtungen liegt laut Lell-Schüler (2012) in der Vermittlung von Werten und Regeln sowie nach Ecarius et al. (2011, S. 102) auf dem Erlernen sozialer Kompetenzen, um die Kinder „für das Handeln in konkreten Lebenssituationen […] zu qualifizieren, wobei der Förderung übergeordneter Kompetenzen wie Eigeninitiative und Selbständigkeit ein hoher Stellenwert zukommt“.

Kindergärten tragen zudem zur Persönlichkeitsentwicklung sowie zur Herausbildung von Individualität und Identität eines Kindes bei (Lell-Schüler 2012). Von besonderer Bedeutung wird im Zusammenhang der Identitätsentwicklung von Kindern im Kindergarten das Rollenspiel genannt, in dem Kinder sich selbst und ihr gegenüber in immer unterschiedlichen Situationen und Rollen erfahren können. So bekommen sie Rückmeldung

35 und Reaktionen auf ihr Verhalten und können außerhalb des bisher bekannten Bezugsrahmens Familie eigene Muster entwickeln und sich mit den gesellschaftlichen Anforderungen auseinandersetzen (Abels & König 2016; Niederbacher & Zimmermann 2011; Oswald 1997; Zimmermann 2011).

Wie in der Definition des Sozialisationsbegriffes bereits erwähnt, nimmt neben der sozialen auch die materielle Umwelt einen entscheidenden Einfluss im Entwicklungsprozess (Hurrelmann 2002). Ernst & Theimer (2011) gehen davon aus, dass eine möglichst frühe Begegnung mit Natur, die Wahrscheinlichkeit für ein positiveres Naturbild erhöhen kann.

Dies soll insbesondere über sinnliche Erfahrungen möglich sein sowie in engem Bezug zur Familie und den Bezugspersonen, da sich die Naturvorstellungen von Kindern in Symbiose von Naturerfahrung und sozialen Rahmenbedingungen festigen: „Auch eine Untersuchung in Deutschland zeigte, dass das Naturbild in der frühen Kindheit gefestigt wird und dass die Naturbildung deshalb spätestens im Grundschulalter beginnen sollte“ (Raith & Lude 2014, S. 55). Raith & Lude (ebd.) verweisen hier auf die Studie von Mara Meske (2011), die anhand einer kindlichen Lebensweltanalyse eine Typologie kindlicher Naturbildtypen erarbeitete. Dafür untersuchte sie Kinder im Grundschulalter auf deren Verbindungen zur Natur. Auch sie geht davon aus, dass in der Kindheit gemachte Erfahrungen – insbesondere in Familien und sekundären Sozialisationseinrichtungen – Auswirkungen auf das Naturbild haben. Raith & Lude (2014: 46f.) ergänzen dazu, dass eben diese Erfahrungen selbst und unmittelbar vom Kind gemacht werden müssen, um nachhaltig im Mindset des Individuums verankert zu werden: „Die Vorstellungen, was Natur ist und was sie für Kinder bedeutet, entstehen in der Begegnung mit Natur. Die eigenen, körperlichen Erfahrungen des jeweiligen Kindes lösen diese Naturvorstellungen aus“. Eine von Brämer (2003) durchgeführte Studie mit Kindern der sechsten Klassenstufe kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass durch gezielte, angeleitete waldpädagogische Einheiten das Bekenntnis zur Natur zunimmt und sich diese im Anschluss an einen Waldtag in der Natur sicherer fühlten. Collado, Staats & Corraliza (2013) fanden ähnliches für Spanien heraus.

Einrichtungen der sekundären Sozialisation scheinen zudem einen Einfluss auf das Bewusstsein von Individuen zu haben sowie deren Verhalten verändern oder maßgeblich beeinflussen zu können. De Haan gibt dazu an „Wo Verhaltens- und Bewußtseinsänderungen gefordert werden, liegt es nahe, diese über (institutionalisierte) Erziehungsprozesse zu erzeugen“ (de Haan 1985, S. 17). Verschiedene Studien in Schulen

36 zeigen auf, dass durch Unterricht und naturpädagogische Anteile in der Schule das Wissen zu Natur- und Umweltthemen steigt, während die Einstellung zur Natur bzw.

Umwelthandeln schwerer zu beeinflussen ist (vgl. Beach 2003; Bögeholz 1999; Bögeholz 2002; Bogner 1998; Greiner 2001; Stern, Powell & Ardoin 2008).

Dem theoretischen Kenntnisstand folgend, haben also sowohl die primäre als auch die sekundäre Sozialisation Einfluss auf das Naturbild eines Individuums. Es ist anzunehmen, dass Kindergärten (und Schulen) durch häufige Aufenthalte in der Natur maßgeblich zur Festigung des Naturverständnisses der Kinder beitragen bzw. zur Erweiterung des Verständnisses, wie es in den Familien gelebt wird. Hüther (2008, S. 26) betont auch hier die neurobiologische Relevanz einer frühen Naturerfahrung: „Die frühe Erfahrung von Natur [trägt] zur Festigung einer engen, weniger über den Verstand als vielmehr über das Gefühl vermittelten Mensch-Natur-Beziehung bei[…]. Eine mit positiven Gefühlen verbundene Begegnung des Kindes mit Natur prägt die Einstellung des späteren Erwachsenen. Seine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung gegenüber der Natur wird durch die Begegnung im Kindesalter geweckt und fest im Frontalhirn verankert. Dies kann nur durch möglichst frühe und möglichst emotional vermittelte Erfahrungen gelingen“.

Entsprechend ist anzunehmen, dass die konzeptuelle Ausrichtung eines Kindergartens, im Sinne einer naturpädagogischen Einrichtung und einer damit aktiv gestalteten besonderen sozialen und materiellen Umwelt, wie es etwa Natur- und Waldkindergärten tun, zur positiven Prägung des Naturverständnisses der Kinder beitragen und damit auch das Naturverständnis der Eltern beeinflussen können.

2.4 Naturerfahrung in der Kindheit und deren Relevanz für die kindliche