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Weibliche Gelegenheitsdichtung wird zum Phänomen (1780er–1790er Jahre)

9. Soziale Herkunft der Adressantinnen

Wie sich aus dem Vorhergehenden schon erahnen lässt, gehören die meisten Frauen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts Gelegenheitsgedichte unter-zeichnet haben, dem gehobenen Stadtbürgertum an, nur ein Bruchteil war ad-liger Herkunft. Schon seit dem Beginn der weiblichen Gelegenheitsdichtung im Nordbaltikum sichtbar, ist der Anteil bürgerlicher im Vergleich zu adligen Adressantinnen stätig gestiegen und erlangte jetzt eine überragende Mehrheit.

Der Kreis solcher Frauen in Riga beschränkte sich auf 80 Familien (in einem Duzend Fällen war die Familie nicht zu ermitteln), die anscheinend regen Kon-takt mit einander hatten. Dabei sticht eine Dominanz der Kaufmannstöchter unter ihnen ins Auge, die in Riga 45% Prozent ausmachten, die Hälfte von ihnen allerdings Kinder bis 12 Jahre. Oft bekleideten diese Kaufleute auch wichtige Ämter wie Ältester der Großen Gilde, Ratsherr, Bürgermeister (z.B.

Berens, Ehlers, Grave, Hackmann, Klatzo, Pander, Sengbusch, Schwartz, Wöhrmann). Eine weitere größere Gruppe bildeten Töchter von Gouverne-ments- und Stadtbeamten (z. B. Broecker, Enkelmann, von Hurko, Jannau, Merkel, Trey), während Berufsgruppen, die uns in früheren Zeiten begegnet sind wie Ärzte (Ramm, Zweitinger), Pädagogen (Roemer, s. Naumow) oder Pastoren (z. B. Lado s. Kirchhoff, Stein s. Schröder) eher selten anzutreffen sind. Eine Zwischenposition zwischen den Literaten- und sehr selten vertrete-nen Handwerkerberufen scheivertrete-nen Apotheker (Brandt, Balemann s. Fromhold) eingenommen zu haben. Bei den äußerst raren Handwerkern in der Väter-generation fällt auf, dass sie eine beachtliche Karriere vorzuweisen hatten wie Bernhard Gottfried Kleberg, der es vom Knochenhauer zum Ältesten der Kleinen Gilde gebracht hatte oder Abraham Hayen, der vom Steinmetz zum Stadtbauaufseher aufgestiegen ist. Auch die Kinder eines Malers, Ludwig Christian August Schultz, sind unter Adressanten zu finden.

Hinter einer gewissen Diversität der Berufe der Väter wird aber bei näherem Hinsehen eine Gemeinsamkeit sichtbar, die praktisch alle rigischen Adressan-tinnen als aus einem Milieu stammend betrachten lässt: sie sind entweder in der Dom- oder St. Petrikirche getauft, in den zwei altehrwürdigsten, wichtigsten und angesehensten Innenstadtkirchen Rigas. Auf den sehr nahen Kontakt dieser Gemeinden weist einerseits die Tatsache hin, dass beide Kirchen von denselben Geistlichen betreut wurden,433 andererseits aber überraschend oft Kinder dersel-ben Eltern mal in dieser, mal in der anderen Kirche getauft worden sind. Noch mehr, man kann auch sehen, dass einige adlige Adressantinnen, die im Zu-sammenhang mit anderen Anlassorten erscheinen, mit diesen Kirchen ver-bunden gewesen sind. So ließ Ottilie Charlotte von Ekesparre (geb. Weißmann von Weißenstein), die 1794 ihrer Schwester Amalie anlässlich ihrer Hochzeit in Weißenstein ein Gedicht gewidmet hat,434 in demselben Jahr ihre jüngere Tochter in der Domkirche taufen und einer der Brüder von Lisette von Bock,

433 Vgl. Berkholz 1867: 31–33 und 53–56.

434 Vgl. GBKA 2435, LVVA, f. 4011, apr. 1, l. 319: 5 [1794].

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mit denen zusammen sie 1796 ihrem Großvater in Lindenruh zu seinem Ge-burtstag gratulierte,435 ist in St. Petri getauft worden.

Nur eine einzige Adressantin ist in der Kronskirche St. Jakobi getauft wor-den – Juliana Elisabeth Merkel, Tochter des Registrators am Rigaer Gewissens-gericht Hermann Gottfried Merkel,436 die kleine Nichte des livländischen Abolitionisten Garlieb Helwig Merkel, der bekanntlich auch zum Grohmann-Freundeskreis gehörte.437 Ihr anderthalb Jahre jüngerer Bruder ist allerdings schon in der Domkirche getauft worden. Noch eine weitere Adressantin lässt sich indirekt mit dem Grohmann-Kreis und St. Jakobi verbinden – Helena Augusta Gräfin von Mellin (geb. von Mengden-Altenwoga), die 1792 und 1795 in Koltzen ihrer Mutter zum Geburtstag gratuliert hat – gemeinsam mit ihrem Gatten August Ludwig Graf von Mellin, Autor des im Vorwort zitierten Berichts in Hupels Neuen Nordischen Miscellaneen und ein Freund Karl Gott-lob Sonntags.438

Noch weniger kommt die Rigaer evangelisch-reformierte Kirche von George Collins als Herkunftsmilieu zum Vorschein. Hier ist keine einzige Adressantin getauft worden. Allerdings gibt es mehrere Frauen, die Männer aus dieser Konfession geheiratet haben, allen voran Gertrud Collins (geb. Bulmerincq), die Ehefrau George Collins’, die mit der älteren seiner beiden Schwestern – Marga-rethe – ein Hochzeitsgedicht der jüngeren – Charlotte Elisabeth – gewidmet hat.

Den Kaufmann John Mitchell aus der reformierten Kirche heiratete Eva Elisa-beth Berens, Tochter des Rigaer Ratsherrn Johann Christoph Berens, um den sich in den 1760er Jahren der sog. Berens-Kreis gebildet hatte, der Männer wie Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann, Johann Friedrich Hartknoch und Johann Gotthelf Lindner vereinigte, 439 die alle in Königsberg studiert hat-ten. Auch die obenerwähnte Schauspielerin Regine Louise Mende war in ihrer ersten Ehe verheiratet mit einem Mann aus der Gemeinde Collins’.

Schauspieler- und Musikertöchter sind zuweilen schwer einzuordnen, da sich ihre Geburtsdaten nicht immer aus den Registern der erwähnten Kirchen er-mitteln lassen, auch August Buchholtz scheint sie nicht gekannt zu haben, z. B.

Barbara und Catharina Kurzwig (2. Ehefrau des Druckers J. C. D. Müller), die wahrscheinlich Töchter des Rigaer Stadtmusikers David Christoph Kurzwig440 gewesen sind. David Christophs Sohn David Georg, später ein bekannter Rigaer Arzt, ist 1763 in der Domkirche getauft worden. Genauso unklar ist, wo Regina Louise Mende getauft worden ist, während ihre Halbschwester Gerdruta Catha-rina in der St. Petri verortet werden kann. Unbekannt ist ebenfalls, wo und wann genau Carolina Augusta Pauser, Tochter des Schauspielers Johann Matthias Pauser441 zur Welt kam. Das könnte auf den mobilen Lebensstil dieser Berufe

435 Vgl. Sammlung Pauser, LUAB, Mscr. 388: 73 [1796].

436 Vgl. LVVA, f. 3142, apr. 1, l. 18: 22.

437 Vgl. Gottzmann, Hörner 2007, II: 909.

438 Vgl. Gottzmann, Hörner 2007, II: 900.

439 Siehe Gottzmann, Hörner 2007, II: 181–182.

440 Siehe DbBL: 435.

441 Siehe Rudolph 1890: 179.

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hinweisen, was von einer weiteren Schauspielerin bestätigt wird – Theresia Reinner, die 1754 zu München geboren worden ist.442 Dabei ist das Schau-spielermilieu das einzige, aus dem handschriftliche Gelegenheitsgedichte einer hiesigen Frau überliefert sind – von Carolina Augusta Pauser, einer Rigaer Schauspielerin, Konzertsängerin und Pianistin.443 Aber auch von ihr sind Ge-dichte erhalten, die einem Mann zugesprochen werden. Ein unautorisierter handschriftlicher Vermerk spricht ein undatiertes Gedicht für das Rigaer Publi-kum aufgrund der Handschrift George Collins zu.444 In der Sammlung Pauser gibt es auch handschriftliche Gedichte von Daniel Friedrich Romanus445 – ein Hinweis, dass Carolina Pauser nahe Kontakte zum Freundeskreis dieser Männer hatte.

Bedenkt man, dass die im Namen der Frauen schreibenden männlichen Autoren mit der St. Jakobi- und der evangelisch-reformierten Kirche verbunden waren, die Adressantinnen aber fast ausschließlich mit der Domkirche (in der übrigens auch Barbara Juliane von Krüdener getauft worden ist)446 und St. Petri, ist eine erstaunlich klare Trennungslinie zwischen Autoren und Adressantinnen zu konstatieren, was die Vermutung vertieft, dass es sich bei einem Großteil der im Frauennamen verfassten Gedichte Ende des 18. Jahrhunderts um Bestel-lungsarbeiten handelt, die von Hofmeistern, Privatlehrern sowie Geistlichen in weniger wichtigen Position bzw. von kleineren Gemeinden ausgeführt wurden.

Sowenig wie Karl Gottlob Sonntag, Oberpastor von St. Jakobi, finden wir Anton Bärnhoff (1733–1800)447 oder Liborius (von) Bergmann (1754–1823),448 zwei bekannte Rigaer Gelegenheitsdichter, die sowohl an St. Petri als auch am Dom wichtige Positionen bekleidet haben, unter Männern, die im Frauennamen gedichtet haben. Aber auch andere Geistliche der zwei wichtigsten Stadtkirchen erscheinen nicht in dieser Funktion. Dass ein kleiner Teil der Adressantinnen ihre Gedichte zumindest zum Teil selbst geschrieben haben, ist wahrscheinlich, lässt sich aber aufgrund der Quellenlage kaum nachweisen. Der einzige Beleg aus Schauspielerkreisen legt den Verdacht nah, dass echte Autorschaft mit be-stimmten Vorbehalten behaftet war, die gewisse Segmente des Bürgertums als Herkunftsmilieu realer Autorinnen wahrscheinlicher macht als andere.

442 Vgl. Rudolph 1890: 195.

443 Vgl. Rudolph 1890: 179 und Rig. Tageblatt 1894.07.10, Nr. 153

444 Vgl. Sammlung Pauser, LUAB, Mscr. 388: 470.

445 Vgl. Sammlung Pauser, LUAB, Mscr. 388: 328, 483, 496.

446 Vgl. LVVA, f. 1426, apr. 1, l. 297: 70, Nr. 87

447 Siehe Gottzmann, Hörner 2007, I: 168.

448 Siehe Gottzmann, Hörner 2007, I: 217–218.

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