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Estland: Sämtliche Cousines mütterlicher Seite, Geschwister von Rehbinder Geschwister von Rehbinder

A. Vereinzelte Sternschnuppen. Die ersten Exemplarischen Gelegenheitsgedichte Exemplarischen Gelegenheitsgedichte

4. Die Rückkehr des Friedensengels. Gelegenheitsgedichte von Frauen aus den 1750er bis 1770er Jahren von Frauen aus den 1750er bis 1770er Jahren

4.3 Estland: Sämtliche Cousines mütterlicher Seite, Geschwister von Rehbinder Geschwister von Rehbinder

Ende der 1750er Jahre erscheint auch in Estland endlich ein Gelegenheits-gedicht, das von hiesigen Frauen unterzeichnet worden ist, allerdings anders als alle vorhergehenden Texte: anonym und kollektiv. 1759 drücken “sämtliche Cousines mütterlicher Seite” in Reval den Eltern der jungen Baronin Anna Christiana von Delwig anlässlich ihres frühen Ablebens ihr Beileid aus. Es ist ein in Alexandrinern verfasstes, an den Revaler Totentanz in der St. Nikolai (estn. Niguliste) erinnernder Dialog zwischen dem Tod und den Cousinen.294 Als Antwort auf den Vorwurf der Basen, er habe ihnen ihre liebste Verwandte allzu frühzeitig geraubt,295 weist der Tod darauf hin, dass er im Auftrag Gottes handle und die Verstorbene nur zu einem besseren Leben hingeführt habe:

Ihr die ihr mich so haß’t, so tadelt und so schmähet Gut! ich gedenck es euch, ihr habt nicht ew’ge Jahre Komt! sehet Gottes Hand! Komt! sehet was hier stehet Ich rufe jung und alt, der Reihe nach zur Bahre.

Ich bin des Herren Knecht, ich thu was er befiehlet?

Ich trage das herbey, worauf die Allmacht ziehlet.

Haß’t immer meine That, verfluchet mein Beginnen;

Ich lache alle dem, ihr könt doch nichts gewinnen.

Gewiß! ihr Freundin irr’t, ihr habt euch selbst vergessen;

Wiß’t ihr vielleicht die Zeit, wenn eur Sarg wird gemessen?

Wen hat das beste Loos, wohl unter euch getroffen?

Christianen oder euch? gewiß! ihr müß’t noch hoffen, Das was Sie schon besizt, dereinst noch zu erlangen.

Inzwischen kan Sie dort, da ihr hier leidet, prangen.

Sie wählte nicht der Art, wie sonst die mehrsten wählen Der Cranz der jene, hier, als Braut nur zeitlich ziert Der ists mit dem Sie wird dem Heyland zugeführt;

Um sich als Braut mit Ihm auf ewig zu vermählen.296

294 GBKAu 488: EAAr, A II 220c: 229 [1759].

295 Siehe die Textpassage aus dem Gedicht am Anfang dieses Unterkapitels (V. 12–17).

296 GBKAu 488: EAAr, A II 220c: 229: Bey dem , den 8ten May 1759 erfolgten Ableben (1759), V. 22–39.

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Ob das makabre Gespräch tatsächlich von einer oder mehreren Cousinen ge-schrieben worden ist, ist fraglich. Es scheint sich hierbei lediglich um ein Rollengedicht zu handeln. Es signalisiert zwar, dass man nach der langen, durch den Krieg verursachten harten Zeit estländischen Frauen (zunächst in adligen Kreisen) wieder mehr Recht aufs Wort zuzuerkennen im Begriff war. Der kol-lektive Auftritt könnte auch als ein Zeichen gedeutet werden, dass dieses Wort-recht sich auszubreiten begann und nicht mehr nur einzelnen Ausnahmefrauen wie Anna Sidonia Morian Anfang des Jahrhunderts zukam. Da die Autorschaft der Adressantinnen aber sehr wahrscheinlich nur fiktiv war und die Unterzeich-nenden durch den anonymen Auftritt “verschleiert” blieben, war dieses Recht noch sehr bedingt und begrenzt.

Aber schon etwa ein Jahrzehnt später sind hier Frauennamen unter einem Gedicht zu finden: Bey der Feyerlichen Beerdigung der Hochwohlgebohrnen Freyherrin Dorothea Sophia von der Pahlen, des Hochwohlgebornen Freyherrn Otto Magnus von Rehbinder, gewesenen Frau Gemahlin, welche den 10. April zu ihrer Ruhestätte gebracht wurde, wolten ihre tiefe Betrübniß an den Tag legen/ Der Wohlseelig Verstorbenen hinterlassene Kinder; Gustav Dietrich, Magdalena Elisabeth, Wilhelmina Helena Friederica, Otto Magnus, Carl Friedrich von Rehbinder.297 Die biographische Recherche bestätigte, dass es sich bei den Adressanten dieses 1768 in Reval erschienen Epicediums tat-sächlich um minderjährige Kinder handelte: Magdalena Elisabeth wurde 1758 geboren, Wilhelmina Helena Friederica 1760 und ihre Brüder Gustav Dietrich 1756, Otto Magnus 1761 und Carl Friedrich 1764.298 In Estland scheinen sich Prozesse abzuwickeln, die in Kurland um 1690 schon einmal festzustellen waren.

4.4 Kurland: Catharina Elisabeth Gause (geb. Marggraf) und Agatha Louise de la Myle (geb. Brunnengräber)

Auch in Kurland scheint das weibliche Gelegenheitsgedicht zumindest z. T. wie in Livland ein Reimport aus dem Ausland zu sein, aber anders als in Livland, von Frauen, die in Kurland geboren und wahrscheinlich auch aufgewachsen sind.

Aus der ersten Hälfte der 1760er Jahre sind zwei Gelegenheitsgedichte erhalten – beide mit Namen unterzeichnet, beide im Unterschied zu den Ge-dichten des 17. Jahrhunderts von Frauen mit einem bürgerlichen Hintergrund, beide aus dem Ausland nach Kurland geschickt.

1763 hat Hofrätin Catharina Elisabeth Gause (geb. Marggraf) mit einem in Berlin veröffentlichten Gedicht299 um ihre zu Sallgallen (lett. Salgale) in Kur-land gestorbene Schwester Anna Henrietta Marggraf getrauert:

297 EAA.3232.1.12 [1768].

298 Vgl. GHbR Estland, I: 192.

299 GBKA 2169: LUAB, R 35128 [1763].

94 Laß mich geliebter, sanfter, bester, Mein allertreuester laß mich

Aus deinen Armen fort, zum Grabe meiner Schwester Die fern von mir verblich.

So seufz ich meinem lieben G - - Stark abgedrungne Bitten zu;

Wann mir der Schmerz in meinem väterlichen Hause Ertödtet Freud und Ruh.

O Himmel! wie mit deinem Blitze Getroffen, sank ich auf das Blatt,

Das mir mit mehr als eines Dolches Spitze, Mein Herz verwundet hat.300

In der Person der 1735 geborenen Catharina Elisabeth tritt erstmals nach-weislich eine Kaufmannstochter als Adressantin eines Gelegenheitsgedichts auf:

sie war Tochter des herzoglich kurländischen Faktors und Kaufmanns in Mitau Heinrich Christian Marggraf und Anna Martina (geb. Wewell), Tochter des Bauskeschen Gerichtvogts Friedrich Wewell. 1761 hatte sie den Berliner Hofrat Philipp Gause geheiratet.301 Es könnte allerdings sein, dass sie nicht von ihrem Vater, sondern von ihrer Mutter und Großeltern aufzogen worden ist, denn in der 8. Strophe des Gedichts wird auf einen frühen Tod des Vaters hingewiesen:

Dort an der ganz verwesten Seite Des Vaters, den Sie nie gekant,

Verweset Ihre Stirn, der schon den Kranz der Bräute Die keusche Liebe wand. 302

Der im Ausland lebenden bürgerlichen Kurländerin gebührt die Ehre der Ein-führung des Motivs eines mit Blumen bestreuten vaterländischen Grabes in die hiesige Frauendichtung:

O Vaterland! in deiner Erde Sind die Gebeine, liegt der Staub,

Auf den ich Blumen noch und Mirthen streuen werde, Und jedem Zuruf taub,

In ganzen langen Mitternächten Wehklagend wünschen, daß so zart,

So treu als Wir geliebt, sich Schwestern lieben möchten, Mit Herzen gleicher Art.303

300 GBKA 2169: LUAB, R 35128: Klagen über dem zu Sallgallen (1763), Str. 1–3.

301 Vgl. Buchholtz 32M3: 690.

302 GBKA 2169: LUAB, R 35128: Klagen über dem zu Sallgallen (1763). Str. 8.

303 GBKA 2169: LUAB, R 35128: Klagen über dem zu Sallgallen (1763), Str. 9–10.

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Ob sie dieses Gedicht selbst geschrieben hat, lässt sich nicht mit Gewissheit be-antworten. Es ist durchaus möglich. Genauso ungewiss ist, ob sie bewusst an eine kurländische Tradition anknüpfte oder eine Gepflogenheit der Hauptstadt Preußens nach Kurland neu einführte. Im Vergleich zu früheren Trauer-gedichten fehlen hier sowohl der gelehrte Habitus als auch betonte Chris-tlichkeit. Schwerfälliges und Weltabgeneigtes ist aus diesem Gedicht versch-wunden, trotz der Schilderung ihrer Betroffenheit/Trauergefühle wirken ihre Verse irgendwie leicht, nahezu galant – die barocke Erhabenheit ist einem alltäglicheren, persönlicheren, man möchte fast sagen, einem Causerie-Ton ge-wichen. Daher fällt es schwer, dieses Trauergedicht als ein Epicedium zu be-zeichnen, zu modern und urban wirkt es dazu. Neben Schilderungen aus ihrem Privatleben trägt zum alltäglich-leichten Ton aber auch die Form des Gedichts bei. Sie drückt ihre Trauer nicht in Alexandrinern oder Kirchenliedstrophen aus, sondern benutzt eine kürzere vierzeilige Strophe, die zwar gereimt ist, aber deren Verse alle unterschiedlich lang sind (abab; 9/8/13(11)/6; trochäisch).

Lange nach den Gedichten auf den livländischen Generalgouverneur Gustav Horn und Festspiel und Rede auf den Schwedenkönig Karl XII, im Jahre 1764, hat Agatha Louise de la Myle (geb. Brunnengräber, 1724–1787) aus Finnland in einer von Georg Rudoph Weckherlin eingeführten barocken Odenstrophe den Namenstag des Herzogs Ernst Johann von Biron (bzw. Bühren; 1690–1772) besungen:304

Willkommen hoher Namenstag!

Auf! reg die Dir geweihte Lippen, damit ich Dich besingen mag,

so scheu ich weder Meer noch Klippen:

Durch alle dringt mein treuer Geist, der sich aus Finnlands Grenzen reißt, nur Dir ein Opfer anzuzünden;

Erheitre den verweinten Blick, und laß mein trauriges Geschick, durch Dich ein neues Leben finden.305

Auch sie stammte aus einem für Gelegenheitsautorinnen neuen Milieu: als Tochter des kurländischen Propstes Andreas Johann Brunnengräber ist sie die erste Pastorentochter, die als Gelegenheitsdichterin sichtbar wird. Gemahlin des Kapitäns Carl Johan de la Myle, lebte sie in Maanpää in der Nähe von Turku.

Sie soll mit dem bekannten deutschen Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert im Briefwechsel gestanden und außerdem Gedichte auf Lettisch geschrieben haben.306

304 GBKA 2273: LVVA; f 554, apr 1, l 2961: 16–17 [1764]; F10.8 (ababccdeed; 8/9/8/9/

8/8/9/8/8/9; jambisch), vgl. Frank 1993: 710–711.

305 GBKA 2273: LVVA; f 554, apr 1, l 2961: Bey dem hohen Namensfeste (1764), Str. 1.

306 Stålberg, Wilhelmina 1864–1866. Anteckningar om svenka qvinnor. Stockholm: P. G. Berg.

S. 67. Eine erste Erkundigung im Archiv von Turku hat leider keine weiteren Gedichte von

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Offen bleibt, warum die Namen der zwei Kurländerinnen nicht den Weg in die deutschbaltischen Literaturlexika gefunden haben. Entweder waren ihre Texte den Lexikographen nicht bekannt oder es wurden die Adressantinnen wegen der ausländischen Entstehungsorte ihrer Gedichte nicht als Kurlände-rinnen erkannt.