• Keine Ergebnisse gefunden

Weibliche Gelegenheitsdichtung wird zum Phänomen (1780er–1790er Jahre)

II. DIE ERSTEN GEDICHTBÄNDE UND – AUSWAHLEN NORDBALTISCHER FRAUEN AUSWAHLEN NORDBALTISCHER FRAUEN

16. Elisa von der Recke, Geistliche Lieder einer vornehmen Churländischen Dame (1780) 689Churländischen Dame (1780)689

16.3 Zur Beschreibung der Gedichte Die Titel Die Titel

Selten länger als 3–5 Strophen, tragen die Gedichte dieses Bands auch kurze Titel: der Band beginnt mit einem Morgenlied (S. 3), dem sich ein Abendlied

696 Vgl. Rachel 1900: 63 und 66.

697 Siehe z. B. McCalman, Iain 2003. The last Alchemist. Count Cagliostro , Master of Magic in the Age of Reason. New York: HarperCollins.

698 Näheres zu seiner Person s. DbBL: 709.

699 Lessing, Gotthold Efraim 1997. Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Auf-zügen. Anmerkungen von Peter von Düffel. (Universal-Bibliothek; 3). Stuttgart: Reclam. S. 16 bzw. Nathan an Recha, 1. Akt, 2. Auftritt, V. 359–361.

700 Vgl. Rachel 1900 und 1902; Gottzmann, Hörner 2007, III: 1052–1058.

197

(S. 5) anschließt, gefolgt von Am Geburtstage (S. 7), gegen Ende der Sammlung findet sich ein Neujahrslied (S. 27), dazu Titel wie Bußlied (S. 29) und Men-schenliebe (S. 17). Die Betonung der Zeitdimension kommt länger und abstrak-ter (als Zeitlichkeit oder Zeitlosigkeit) auch anderswo zum Ausdruck – Die Flüchtigkeit unsers Lebens (S. 15), Von der Vorsehung Gottes (S. 13), Bey der Betrachtung des Lebens Christi (S. 31), Feude über die Allgegenwart Gottes (S. 33) und in dem Abschlussgedicht des Bandes Trost des zukünftigen Lebens (S. 35). Neben der Zeit wird in den Gedichten wiederholt auf Krankheit und Leiden hingewiesen: Trost im Leiden (S. 19), Morgenlied eines Kranken (S. 21), Danklied nach einer Krankheit (S. 23). Außer der Menschenliebe wird die Liebe Gottes (Gott ist die Liebe, S. 25) und die beseligende Kraft des Betens besungen (in Das Glück und die Art zu beten, S. 11).

Lyrische Gebete

Elisa betet nicht einfach, sie singt ihre Gebete – schon lange bevor der Kom-ponist Hiller Melodien für sie geschaffen hat. Lied und Gebet sind eins (sowie das Gedicht, obwohl man das Wort ‘Gedicht’ in dieser Sammlung nirgends findet) und Beten ist eine Kunst – im alten Sinne dieses Wortes, (vgl. lat. ars), etwas was sachkundig, mit handwerklichem Geschick und nach bestimmten Regeln und Vorgaben richtig ausgeführt werden soll. Mit dieser Auffassung steht sie in der baltischen Frauenliteratur in einer längeren Tradition – schon Catharina von Gyldenstern hat in ihrem 1677 in Riga erschienenen Andachts-buch Geistliches Heil-Pflaster und Seelen-Artzney der Betkunst ein gesondertes Kapitel gewidmet.701 Allerdings war die Verbindung zwischen Lyrik und Gebet, Dichtung und religiöser Literatur sowie Musik nicht von Anfang an so stark.

Man kann Elisas Geistliche Lieder einer vornehmen Churländischen Dame als Kulminationspunkt einer lyrisierenden Entwicklung der hiesigen religiösen Frauenliteratur betrachten: während Anna von Medem ihre Schrift 1646 noch durchgehend in ungebundener Rede abgefasst hatte, die mit gelehrten Verweisen durchsetzt war, wie wir sie bei Gertrud Paffrath vorgefunden haben, streute Catharina von Gyldenstern in ihr weitgehend in Prosa abgefasstes Buch, das in vielem noch dem ihrer Vorgängerin Medem ähnelt, immer wieder ein-zelne Strophen, manchmal aber auch längere Gedichte ein, wobei es sich oft nicht um eigene Dichtungen, sondern um Lesefrüchte zu handeln scheint, wie ja auch der den kompilativen Charakter dieses Werkes betonende Untertitel Aus Gottes Wort zusammengetragen, und offt bewähret erfunden nahelegt.702 Im

701 Vgl. Gyldenstern, Catharina von 1677. Geistliches HeilPflaster/ Und Seelen-Artzney/ In allerley Geistlichen Kranckheiten. Aus Gottes Wort zusammen getragen / und offt bewähret erfunden : Anjetzo männiglichen zum seeligen Gebrauch mitgetheilet von Catharina / Freyherrin von Gyldenstern. Riga: Wilcken. S. 365–400. Mir stand das Exemplar R W2s/ 1890, inv. Nr. R 14403 der Handschriften und Rara-Abteilung der Lettischen Nationalbibliothek zur Verfügung.

Außerdem ist dieses Buch in der Königlichen Bibliothek zu Stockholm und in der Universitäts-bibliothek Uppsala zu finden.

702 Eine genauere Untersuchung der Quellen des umfangreichen Geistlichen Heilpflasters steht noch aus. David Lindquist, der die Quellen des Andachtsbuchs Ett andeligit apoteek untersucht

198

Gedichtband Benigna Gottliebes finden wir schon das umgekehrte Bild vor:

neben ihren Gedichten sind nur noch einzelne Rudimente des Prosagebets zu verzeichnen, in Elisas erstem Gedichtband sind aber auch diese getilgt und es werden nur noch religiöse Gedichte (die jetzt statt Verweisen auf Melodien altbekannter Kirchenlieder von neuen Originalnoten begleitet werden) abge-druckt. Gerade hier, bei der religiösen Literatur, wird besonders gut sichtbar, wie die baltische Schriftstellerin sich im Laufe von weniger als anderthalb Jahrhunderten, relativ zeitgleich mit ihren Genossinen in Deutschland, vom

“gelehrten Frauenzimmer” über die barocke und pietistisch-herrnhutische

“Fromme” in eine “empfindsame Frau” verwandelt hat (für die die Wahr-nehmung als ‘Gelehrte’ zu einer Schreckensvision geworden ist).

Metrum und Strophenformen

Im Einklang mit dem Verständnis vom Gebet als handwerkliche Kunst, ist das Metrum ihrer Gedichte durchgehend regelmäßig, die Reime ordentlich. Als Kind einer ruhigeren und wohlhabenderen Zeit hatte Elisa bessere Möglich-keiten, eine strenge Formschule zu durchlaufen als Benigna. Die meisten Ge-dichte dieses Bands sind in regelmäßig alternierenden Jamben geschrieben, nur Buße und die Leiden Christi haben ihren Ausdruck in schwerfälligeren Trochäen gefunden. Von allen Strophenformen scheint Elisa zu der Luther-strophe (F 7.7; ababccx, 8/7/8/7/8/8/7, jambisch) die innigste Verbundenheit gespürt zu haben – in dieser Strophe sind fast die Hälfte der “Lieder” (ganze 8) dieser Sammlung geschrieben worden.

Elisa bevorzugt maßvoll lange Strophenformen, die in der Gelegenheits-dichtung so beliebten Vierzeiler findet man bei ihr wenig. Mit zwei Ausnah-men: so ist das Gedicht Der Welten Schöpfer ist auch der meine (S. 9) in einer Form abgefasst, die ihren Siegeszug wie die Lutherstrophe im evangelischen Kirchenlied der Reformation ansetzte (F 4.58; aabb, 8/8/8/8, jambisch).703 In feierlichen und erhabenen heroischen Alexandrinern ist das Danklied nach der Genesung geschrieben; in dieser Form waren auch zwei Gedichte von Benigna abgefasst – Immanuel, Gott, stehe mit meinem Sohn im Bunde704 und Ich trau allein auf Gott, und bau auf seine Güte705. Überhaupt fällt auf, dass von 9 in diesem Band benutzten Strophenformen schon 7 von Benigna verwendet wor-den sind. Zusätzlich gebraucht Elisa noch einen jambischen Achtzeiler (F 8.12;

ababccdd, 8/7/8/7/4/4/7/7), der sich als evangelische Kirchenliedstrophe im 16.

hat – eine schwedischsprachige Kompilation, die Catharina von Gyldenstern 1678 in Riga heraus-gegeben hat und bei dem es sich nicht um eine Übersetzung des deutschsprachigen Werkes han-delt (vgl. Lindquist, David 1939. Studier i den svenska andaktslitteraturen under stormaktsti-devarvet, med särskild hänsyn till bön-, tröste- och nattvardsböcker. Stockholm: Svenska kyrkans diakonistyrelses bökförlag. S. 111, Anm. 9) – nennt Werke (z. T. Florilegien) von Martin Hyller, Joachim Iheringius, Johann Arndt, Thomas a Kempis, Ahasverus Fritsch, Philipp Kegelius, Josua Stegmann und Philipp Mornay als Vorlagen, vgl. Lindquist 1939: 113–122.

703 Frank 1993: 208–213.

704 Vgl. Kreuzträgerin 1777: 8.

705 Vgl. Kreuzträgerin 1777: 57–60.

199

Jahrhundert auszubreiten begann und als dessen bekanntestes Beispiel aus dem 18. Jahrhundert Christian Fürchtegott Gellerts (1715–1769) Vertrauen auf Gottes Vorsehung zu nennen ist.706 Elisa schrieb ihr Gedicht Trost im Leiden in dieser Stropheform. Obwohl die Strophenformen der beiden Damen weitgehend dieselben sind, verrät ihre Verwendungshäufigkeit unterschiedliche weltanschauliche Schwerpunkte. Benigna hat einen stärkeren Bezug zum barocken, während des Dreißigjährigen Krieges geschaffenen Kirchenlied, Elisa aber zu den ursprünglichsten und traditionellsten lutherischen Hymnen.

Allerdings können auch Herausgeber und Redakteure dieser Gedichtbände eine Rolle gespielt haben, auch mit dem Einfluss vermittelnder Vorbilder muss gerechnet werden.

Grundstimmungen und –tendenzen

Eine auffallende Tendenz der Dichtung Elisas ist ihr Streben nach gehobener Stimmung, Feierlichkeit, Erhabenheit und Würde. Sie ruft ihre Seele auf, sich von der Erde losreißend auf- oder emporzuschwingen – so heben große majes-tätische Vögel ihren Flug an; ein fernes Echo von Paul Gerhardts Schwing dich auf zu deinem Gott (1653). Mit wenigen Worten versucht Elisa große kosmi-sche Panoramen vor das Auge zu zaubern, bei deren Beschreibung sie gern das Wort “Pracht” verwendet. Oft ist es der Anblick des “Sternenheers” (ein Wort das wir schon bei Martin Opitz und Gertrud Cahlen vorgefunden haben), eine von gewaltigen Naturerscheinungen (später z. B. auch Gewitter, Sturm, Erdbeben) erweckte Meditation über die Macht Gottes, die sie in einen gehobenen Seelenzustand versetzt.

Das Gedicht Der Welten Schöpfer ist auch der meine beginnt mit einem großen Bild: die Dichterin beschreibt ihren in der “Welten Pracht” herum-irrenden Blick. Dankbar gedenkt sie “dessen Güt’ und Macht, der sie erschuf”, womit eine Stimmungserhöhung einhergeht: “so steigt mein Geist empor, und betet an, und preist”707. In einer negativen Gradation beginnt sie dann die Perspektive Strophe für Strophe vom Größeren zum Kleineren einzuengen, um von den Himmeln ausgehend bei den Spatzen, Würmchen, einzelnen Haupt-haaren, die alle von Gott gezählt sind, und dem kleinsten Staub anzulangen und dann die Perspektive wieder umzudrehen, indem der Blick auf die Seraphen gerichtet wird. Zwischen diesen und dem Staub verortet sich nun das “Ich”, gleichzeitig andeutend, dass der “Vater der Natur” trotz aller Größenunter-schiede für alle gleichermaßen sorgt.

Und so sorgt auch sein Vatersinn Für mich! Und was ich hab’ und bin Den Geist, den Leib, dieß Glück, den Stand, Verdanck’ ich seiner Liebeshand.708

706 Frank 1993: 588–589.

707 Geistliche Lieder 1780: 9, V. 1–4.

708 Geistliche Lieder 1780: 9, Str. 7, V. 25–28.

200

So wie Elisa ihren gehobenen gesellschaftlichen Stand als gottgegeben und na-türlich ansieht (s. V. 27), so verwendet sie auch oft das scheinbar gleichwertige Glieder reihende Asyndeton, um einen gefühlsmäßigen Steigerungseffekt zu erzeugen. Insbesondere am Ende des Gedichts soll dieses in der Barock be-liebtes Stilmittel den Eindruck mächtiger Schlussakkorde vermitteln:

Erhalte den Gedanken mir,

O Gott! “Was kommt, das kommt von dir!

Und was nur deine Fürsicht thut, Ist herrlich, weise, seelig, gut.709

Das ganze Gedicht – wie auch die Motive des rechten Gebrauchs der Zeit in anderen Texten – verweist aber neben einigen Anklängen des Barocks auf das Weltgefühl des Aufklärungszeitalters, wie es in der deutschsprachigen Dichtung die Naturlyrik von Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) artikuliert. Der Titel des Gedichts verrät jedoch, dass das konkrete Vorbild Elisas eher das von Brockes inspirierte Gedicht C. F. Gellerts Die Ehre Gottes aus der Natur ge-wesen sein könnte, dessen letzte Strophe mit der Wendung Gottes Ich bin dein Schöpfer, bin Weisheit und Güte beginnt.710

Elisas Streben nach Erhabenheit ist vor allem ein Streben nach der Nähe – mit dem Gott-Vater, der ähnlich wie bei Benigna einerseits ein ferner Herr (die meistbenutzte Bezeichnung Gottes neben “Vater”), groß und mächtig ist, und andererseits ein gnädiger Geber (geben ist das am häufigsten benutzte Verb dieses Gedichtbands, das fast immer in Verbindung mit Gott auftritt). Eine Rute findet man in seiner Hand jedoch nicht, er ist sanfter als der Gott Benignas. Er ist ein großes Du. Dein und mein sind die am häufigsten anzutreffenden Stichwörter dieses Bands, dank ihnen atmet aus den Gedichten Herzlichkeit und Unmittelbarkeit. Sie atmen aber auch eine Verzweiflung, die nur mit äußerster Hingabe zu überwinden sind. Neben mein und dein sind wichtige Stichwörter voll, ganz und alles. Mit völliger Hingabe bemüht sich das kleine Ich dieses Bands, manchmal wortwörtlich als Kind bezeichnet, dessen Ausgangsposition in den Gedichten oft horizontal ist (es liegt, fühllos und siech, mit matten Gliedern), auf- und über seine Lage zu stehen, indem es mit seinen “schwachen Lieder” ”früh und spät” den Beifall dieses Vaters ernten will, der alles ist, was es nicht ist. Polarisierung, ebenfalls beliebt in der Barockdichtung, ist sicherlich ein weiteres Lieblingsverfahren der Dichterin. Diesem schnellverfließenden, flüchtigen, irdischen und niederziehenden, drückenden, als eine Last emp-fundenen Leben, voll Leiden, Sorgen, Not, Kummer und Schmerzen steht jenes ewige und himmlische entgegen. Ein kleiner, irrender und fehlender Mensch ist gegenübergestellt einem großen Gott und dessen oft unverständlichem Willen.

Aber wie Benigna, so versucht auch Elisas “Ich” sich zu überzeugen, dass dieser Wille eines guten Vaters auf jeden Fall gut, weise und das Beste für das

709 Geistliche Lieder 1780: 9, Str. 9, V. 33–36.

710 Siehe Gellert, C. F. 1766. Geistliche Lieder und Oden. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich.

S. 12.