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A. Vereinzelte Sternschnuppen. Die ersten Exemplarischen Gelegenheitsgedichte Exemplarischen Gelegenheitsgedichte

0. Fiktive und ausländische Vorbotinnen

Ist denn schon nicht mehr zu finden/

Darmit wir euch können binden/

Alß diß eingeleegte Band/

Das von dreyer Schwestern-Hand In einander ist gewunden/

So ist doch das Hertze guut/

Das euch diese Würde tuht.

Seht die angenehmen Stunden/

Diese Stunden/ die uns allen Manchen einen Wohlgefallen/

Tausend und noch tausend mahl.

Der gestirnte Himmels-Saal Wil sein Ja wort auf drein geeben/

Daß ihr unbetrübt mögt leeben.

Wie denn auch die drei Geschwister Welche halten das Register

Über Leeben/über Todt/

Die nur unser Glükke spinnen/

Gönnen Euch/ was wir euch gönnen/

Was euch gönnet selbsten GOtt.

So viel besser ist der Raht

Und der dreyen Schwestern Hand/

Die euch das geschrieben hat.94

Hält man Ausschau nach ersten Gelegenheitsgedichten von Frauen aus dem Nordbaltikum, stößt man auf ein Phänomen, das im Falle von Frauenbeiträgen in den deutschbaltischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts schon einmal fest-zustellen war: den authentischen Schriften weiblicher Verfasserinnen gingen fingierte voraus. Etwa 1–2 Generationen vor dem Auftreten wirklicher Auto-rinnen erscheinen Texte, die eine weibliche Autorschaft vortäuschen. Im Fall von Gelegenheitsgedichten kann diese Erscheinung in den 1630er Jahren beo-bachtet werden. Ihre Entstehung scheint sie Einflüssen von außen zu verdanken – z. B. dem Aufenthalt der Holsteinisch-Gottorpischen Gesandtschaft in Reval oder genauer einem Mitglied der Gesandschaft, dem deutschen Barockpoeten Paul Fleming (1609–1640, in Reval 1635–1636 und 1639). Fleming hat zu

94 Vor drey Jungfrauen. Auff dero guten Ehren-Freundes Geburtstag. Zuerst erschienen in der Prodromus-Ausgabe 1641, vgl. Lappenberg, J. M. 1865. Paul Flemings deutsche Gedichte. 2 Bde. Stuttgart: Litterarischer Verein, hier II: 704; hier zitiert nach der Ausgabe: Dr. Paul Flemings Teütsche Poemata. Lübeck in Verlegung Laurenz Jancken Büchh. [1642] S. 88.

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verschiedenen Anlässen mehrere Gelegenheitsgedichte im Namen von Revaler Frauen geschrieben,95 unter denen das eingangs zitierte Gedicht besonders auf-fällt, da es explizit eine weibliche Verfasserschaft suggeriert, indem in den letz-ten Zeilen behauptet wird, dass das Gedicht von “der dreyen Schwestern Hand”

“geschrieben” worden sei. Ohne die Präposition vor (=für) in dem später hin-zugefügten Titel Vor drey Jungfrauen, auf dero guten Ehren-Freundes Geburts-Tag, würde im Gedicht nichts darauf hinweisen, dass das Gedicht nicht von, sondern im Namen der “drey Jungfrauen” geschrieben worden ist.

Mit diesem Gedicht hat Fleming neue Möglichkeiten für Frauen eröffnet, sich an dem Spiel der Gelegenheitsdichtung und der damit verbundenen Gaben-ökonomie zu beteiligen. Da im Falle von Gelegenheitsgedichten eine doppelte Patron-Klient Beziehung besteht – einmal eine Autor [Klient1] – Adressant [Patron1] und zweitens eine Adressant [Klient2] – Adressat [Patron2] Be-ziehung –, kann man sagen, dass Fleming mit diesem Gedicht gleich einen dop-pelten Zuwachs an “Recht aufs Wort” bzw. Möglichkeiten der Einflussnahme hiesiger Frauen ankündigte. Erstens erhob er sie aus der ehrenwerten, aber pas-siven Stellung einer Adressatin in die Stellung einer Adressantin – eine not-wendige Stellung, um an dieser Art der Gabenökonomie aktiv teilzunehmen, um so für sich symbolisches Kapital bei den (sowohl Erst- als Zweit-) Adressa-ten zu sammeln. Und zweiAdressa-tens verhieß er mit der Angabe der weiblichen Ver-fasserschaft, dass Frauen als Autorinnen direktesten Einfluss darauf nehmen bzw. selbst bestimmen könnten, wie die Gabe, deren Übergabe ihren Interessen dienen soll, zustande kommt.

Was mag ihn dazu veranlasst haben, welche Ziele verfolgte er? Zwei Ant-worten kommen dafür in Frage, je nachdem, wen man für den eigentlichen Adressaten dieses 1636 entstandenen Gedichts hält. Die erste mögliche Antwort lautet, dass der Adressat der Ehrenfreund – ein Gesandtschaftsmitglied Otto Brüggeman, einer der Anführer der Expedition96 – war, der vielleicht eine freundliche Beziehung zu den Schwestern – (Elisabeth, Elsabe und Anna) Niehusen97 – unterhielt. Fleming als Autor hätte sie als Adressantinnen benutzt, um über sie, als vom Adressaten geschätzte Personen, eine gütige Aufnahme bei ihm für sich selbst zu verschaffen. Die andere Antwort wäre, dass das Gedicht eigentlich die Schwestern Niehusen adressierte, und der Autor ihre Gunst erreichen wollte, indem er sie durch die Angabe ihrer Verfasserschaft dem Wohlwollen des angegebenen Adressaten Brüggeman empfahl. Für die erste Version spricht, dass Fleming weitere Otto Brüggeman weitere Gedichte gewidmet hat, das Hauptmotiv wäre dann Ehrenbezeugung gegenüber einem Vorgesetzten. Für die zweite spricht die bekannte Tatsache, dass Fleming zu-nächst in eine der Schwestern, Elsabe Niehusen, verliebt war und später, als

95 Bspw. Lappenberg 1865, I: 148: Im Namen sechs Schwestern auf ihres Vaters J. M.(üller) Geburtstag; I: 149 Im Namen dreier Schwestern auf ihres Vaters (H. Niehusen) Namenstag; II:

154, Auf ebenselbige [Maria Müller] im Namen etlicher ihrer Schwester.

96 Siehe Lappenberg 1865, II: 872f. Ich danke Dr. Kristi Viiding für den Hinweis.

97 Informationen zum Entstehungsjahr und Namen des Adressaten und der Adressantinnen aus Lappenberg 1865, I: 127 und II, 880–885.

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diese einen anderen Mann geheiratet hatte, sich mit ihrer Schwester Anna ver-loben ließ,98 so dass Liebe und Zuneigung als sein Hauptmotiv angenommen werden können. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass beide Motive gleich-zeitig von Bedeutung waren.

Diese möglichen Antworten zeigen, dass die Adressantinnen, die gleich-zeitig nicht Autorinnen waren, zwischen dem Autor und dem Adressaten eine mehrdeutige Position einnahmen. Sie konnten, falls sie Akzeptanz bei dem Adressaten besassen, für den Autor Patron sein, um seine Interessen zu fördern.

Dadurch kam ihnen eine gewisse Macht gegenüber dem Autor zu. Und sie konnten Klient für den Adressaten sein, um ihre eigenen Interessen zu fördern.

Solange sie aber nicht als Autorinnen selbst in ihrer eigenen Sache sprechen konnten, waren sie auf den Autor als Vermittler angewiesen. Dadurch haben sie Macht eingebüßt.

Wenn Fleming nun Frauen als Autorinnen angegeben hat, entsprach dies zwar nicht den Tatsachen, aber Außenstehende, z. B. spätere Leserinnen, die nicht über genaue Entstehungsumstände informiert waren, konnten diese An-gabe unter Umständen als ein Zeichen deuten, dass weibliche Autorschaft existiert und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit selbst die Feder ergrei-fen, in dem Glauben, sich einer schon vorhandenen Tradition anzuschließen.

Auch ein weiterer Text, der die Vorstellung einer realexistierenden weib-lichen Autorschaft vermitteln konnte, stammte aus dem Umfeld der Holstein-Gottorpischen Gesandtschaft. 1640 schickte eine sich hinter den Initialen A. H.

verbergende Frau, die sich in der Gedichtunterschrift als “eine gute Freundin”

bezeichnet, anlässlich der Hochzeit des Gesandtschaftsmitgliedes und Hof-mathematicus Adam Olearius mit Katharina Müller aus Leipzig ein Epitha-lamion, das in Reval gedruckt wurde.99 Dieser Text ist übrigens das früheste Gelegenheitsgedicht einer Frau in den estnisch-lettischen Beständen.

Das Vorbildpotenzial scheint sich in Reval jedoch nicht realisiert zu haben.

Aus dem 17. Jahrhundert ist aus dem ganzen Gebiet des heutigen Estlands kein einziges Gelegenheitsgedicht einer hiesigen Frau bekannt. Im Tallinner Stadtarchiv wird zwar ein handschriftliches Gedicht100 aus den 1640er Jahren aufbewahrt,101 das im Titel eine Frau namens Anna Ovena Mayer oder Mayers als Urheberin angibt, bei dieser Frau scheint es sich auf den ersten Blick aber wieder um eine fiktive Autorin zu handeln, denn das Gedicht entstammt einer kleinen Sammlung Gedichte des Ritterschaftssekretärs Caspar Meyer an seine Geliebte Katharina von der Hoyen und es ist von seiner Hand geschrieben.

Erhalten ist das Gedicht dank “abenteuerlicher” Umstände – es gehört zu einer Gruppe werbender Gedichte eines verheirateten Mannes, der sich mit ihnen an eine “Jungfraw” wendete und die im Zusammenhang eines Gerichtsverfahrens in einer anderen Ehebruchssache beschlagnahmt worden sind.102 Es ist auch

98 Vgl. Lappenberg 1865, II: 881–885.

99 GBKA 4055: LNB RGRN, R Bs/ 694: 14.

100 TLA, B.O.10: 78–79.

101 Ich danke Kristi Viiding für den Hinweis und die Vermittlung der Texte.

102 Siehe Klöker 2005, I: 335.

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kein Gelegenheitsgedicht, sondern eine lange und ausgiebige Warnung in Ver-sen an die Söhne der angeblichen Verfasserin und alle jungen und alten Männer, sich nicht mit einem alten Weib zu vermählen. Man könnte meinen, dass Caspar Meyer diese Epistel selbst gedichtet hat oder eine von seiner Mutter (vielleicht mündlich) gereimte Dichtung wiedergibt, denn im Gedicht wird angegeben, dass die Mutter es an ihre Söhne “Casparo, Christiano und Friderico Mayern”

adressiert hat. Meyer oder Mayer – kein großer Unterschied in einer Zeit, als die Rechtschreibung noch nicht festgelegt war. Tatsächlich handelt es sich um eine Verschreibung größeren Formats, denn nicht Mayers, sondern Hoyers nannte sich die Verfasserin eigentlich. Das Gedicht Kurtz Bedencken, von der alten Weiber Heirath, da Gott nichts mit zu schaffen hatt des Tallinner Stadtarchivs ist in den Geistlichen und Weltlichen Poemata (1650) von Anna Ovena Hoyers (1584-1655), eine der wenigen bekannten deutschen schreibenden Frauen aus dem frühen 17. Jahrhundert,103 wieder zu finden.104 Wie das 1643 in “Wäster-wijck”/Schweden verfasste Gedicht der ebenfalls aus Schleswig-Holstein-Got-torp stammenden geistlichen, aber auch satirischen Dichterin – noch vor ihrer Veröffentlichung in einer größeren Gedichtsammlung – nach Reval gelangte, bleibt vorerst eine offene Frage.

Eines deuten diese Gedichte jedoch mit Sicherheit an – die weibliche Auto-rin ist in dieser Region, auch an ihrem nördlichen Rand denk- und vorstellbar geworden.

103 Becker-Cantarino, Barbara 1987. Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart: Metzler. S. 222-230, hier. S. 222.

104 Hoyers, Anna Ovena 1650. Geistliche und Weltliche Poemata. Amsterdam: Elzevier. S. 152-156 bzw. http://www.zeno.org/Literatur/M/Hoyers,+Anna+Ovena/Gedichte/Geistliche+und+

Weltliche+Poemata/Christi+G%C3%BClden+Cron/Kurtz+Bedencken+von+der+Alten+Weiber+

Heyrath [14.03.2013]

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