• Keine Ergebnisse gefunden

Weibliche Gelegenheitsdichtung wird zum Phänomen (1780er–1790er Jahre)

8. Hintergründe der Explosion

Das Erscheinen der ersten Gedichtbände nordbaltischer Frauen

Sucht man nach möglichen Erklärungen für das Aufblühen der Gelegenheits-dichtung gegen Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere in Riga, fällt die Auf-merksamkeit auf mehrere Faktoren.

Als Erstes sticht ins Auge, dass unmittelbar vor der Welle der weiblichen Gelegenheitsdichtung mehrere Gedichte einiger wenigen Frauen in Almanachen und Zeitschriften, und noch wichtiger, die ersten Gedichtbände von deutsch-baltischen – adligen – Frauen veröffentlicht worden sind.

Den Anfang machten die Kurländerinnen. 1777 erschien in Mitau bei Johann Friedrich Steffenhagen anonym ein 70-seitiger Band mit religiösen Gedichten und einigen Gebeten Eine große Kreuzträgerin, dem 1780 Geistliche Lieder einer vornehmen Churländischen Dame, gedruckt in Leipzig, folgten. Dann zo-gen auch Livländerinnen nach. 1781 erschienen im 3. Stück von August Wilhelm Hupels Zeitschrift Nordische Miscellaneen bei Hartknoch in Riga (und Leipzig) Vermischte Gedichte und Lieder einer Liefländerin von Stande.

Auch Estland hatte seine Starpoetin. Sie kam allerdings aus Deutschland.

1779 und 1780 veröffentlichte Sophie Albrecht (1757–1840), eine zu ihrer Zeit bekannte deutsche Dichterin und Schauspielerin, unter ihrem Namen mehrere Gedichte in der Ehstländischen poetischen Blumenlese – einem literarischen Al-manach (eine in diesen Gegenden neumodische Erscheinung), der von ihrem Mann Johann Friedrich Ernst Albrecht, mit dem sie sich zwischen 1776 und 1779 vier mal in Estland für eine längere Zeit aufhielt,420 herausgegeben wurde.

Obwohl ein Gelegenheitsgedicht nur unter den Gedichten der Livländerin zu verzeichnen ist, könnte das Vorbild der erwähnten Gedichtsammlungen andere Frauen zum Dichten oder zumindest Unterzeichnen von Gedichten ermutigt haben.

Verbesserte Druckmöglichkeiten

Ein sicherlich wichtiger Faktor war das Vorhandensein von Druckereien und ihre Aktivität beim Verlegen der Gelegenheitsgedichte. Bis zum Jahr 1777, als Georg Friedrich Keil Gelegenheitsgedichte zu drucken begann, war in Riga nur eine Druckerei – Frölich – damit beschäftigt. Seit 1789, als die Zahl der Ge-legenheitsgedichte einen unerhörten Sprung machte, mischte Julius Conrad Daniel Müller (1759–1830)421 kräftig in der Konkurrenz mit und wurde schnell Marktführer. Müller hatte schon 1786 die Führung der Frölichschen Druckerei übernommen, wirkte zunächst aber unter dem Namen von Frölichs Erben. 1789, als Müller die Tochter Gottlob Christian Frölichs422 heiratete und so zum

420 Sangmeister, Dirk 2011. Von Blumenlesen und Geheimbünden. Die Jahre von Johann Friedrich Ernst Albrecht als Verleger in Reval und Erfurt. In: Bosse, Heinrich; Elias, Otto-Hein-rich; Taterka, Thomas (Hrsg) 2011. Baltische Literaturen in der Goethezeit. Königshausen &

Neumann. S. 411–487, hier S. 421.

421 Zu seiner Person s. DbBL: 536.

422 Siehe DbBL: 232.

129

sitzer seiner Druckerei und Buchhandlung wurde,423 änderte sich auch der Name der Druckerei. Auch wenn bis zum Ende der betrachteten Periode noch eine nicht unbeträchtliche Zahl Gelegenheitsgedichte bei Keil erschienen, dominierte J. C. D. Müller übermächtig.

In Rujen betrieb Gustav Bergmann seine eigene Druckerei. Das noch altmo-disch großformatige Trauergedicht von Johanne Luise Königk aus dem Jahr 1780 wurde in Reval bei Lindfors gedruckt, das Gedicht von Amalia Baroth verrät keinen Drucker. In Dorpat war Michael Gerhard Grenzius, der Ehemann der obenerwähnten Maria Catharina Grenzius (geb. Müller), als Buchdrucker tätig.

Wirtschaftlicher und bürgerlicher Aufschwung

Das Hervortreten neuer und die Modernisierung der alten Druckereien sowie die Ausweitung ihres Angebots weist darauf hin, dass mit einem größeren zah-lungsfähigen und besser gebildeten Publikum als bisher gerechnet werden kon-nte. Und tatsächlich, auch andere Indizien, z. B. die Entwicklung der Ein-wohnerzahlen und der Bauboom in den Vorstädten und der nächsten Umgebung Rigas, weisen auf eine wirtschaftliche Blütezeit hin. Während im Zentrum der Stadt 1777–1797 nur 16 neue Bauten errichtet wurden, wuchsen die Vorstädte um rund 800 neue Häuser an.424 Neue Gebäude waren auch notwendig, denn die Zahl der Rigenser wuchs. Wohnten 1767 in Riga 19485 Menschen, waren es 1782 bereits 24515 und 1789 25829. Nach einem kleinen Rückgang 1790 (24549 Einw.), begann aber 1791 ein schnelles Wachstum, das 1795 mit 29381 Einwohnern den Höhenpunkt des 18. Jahrhunderts erreichte. In den folgenden Jahren hat die Einwohnerzahl allerdings abgenommen, mit einem Tief 1797 (27795 Einw.). Ab 1800 gab es einen neuen Anstieg und 1803 wurde die Ein-wohnerzahl von 1795 schon überschritten.425 Diese Zahlen korrespondieren sehr gut mit den Tendenzen der Gelegenheitsdichtung.

Gestützt wurden diese Entwicklungen durch die Tatsache, dass Riga die bevorzugte Hafenstadt des Russischen Reichs an der Ostsee war. Der große russische Markt, der sich nach dem Großen Nordischen Krieg den hiesigen Provinzen eröffnet hatte und auf dem man seit Mitte des 18. Jahrhunderts Fuß zu fassen begann, bot gute Handelsmöglichkeiten und sicherte u.a. gute Ein-kommen für die hiesigen Gutsherren, die mit Viehzucht für den St. Petersburger Markt und der Branntweinbrennerei hohe Gewinne erzielten. Zuweilen hat man die eigenen Möglichkeiten dabei auch überschätzt – in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts fällt auch die erste größere Bankrottwelle der Güter.426

423 Reimo 2001: 212.

424 Latvijas mākslas vēsture 2004: 155.

425 Die Angaben zu Einwohnerzahlen stammen aus Brambe, R. 1982 Rīgas iedzīvotāji feo-dālisma perioda beigas. 18. gs. beigas – 19. gs. pirmā puse. [Rigas Einwohner am Ende des Zeitalters des Feudalismus. Ende des 18. Jahrhunderts – erste Hälfte des 19. Jahrhunderts] Riga:

Zinātne. S. 76–82.

426 Eesti ajalugu IV. Põhjasõjast pärisorjuse kaotamiseni. [Estnische Geschichte IV. Vom Großen Nordischen Krieg bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft] Kirjutanud Mati Laur, Tõnu

130

Ein wichtiger Einfluss war sicherlich die Einführung der Statthalterschaft 1783 und insbesondere die neue Stadtordnung Russlands, die ab 1785 auch in Estland und Livland galt.427 Beide boten mehr Raum für soziale Mobilität, insbesondere der bürgerliche Stand bekam dadurch mehr Chancen. Dies fand seinen Ausdruck auch in den Gelegenheitsgedichten. Von bürgerlichem Selbst-bewusstsein strotzt die Unterschrift eines Hochzeitsgedichts, das anlässlich der Vermählung des Kaufmanns Johann George Stresow mit Demoiselle Gerdrutha Elisabeth Babst überreicht worden ist: “Von ihren Freunden und Freundinnen, das heißt: von allen Edlen und Guten in Riga.”428 Die neuerlangten Möglich-keiten des Bürgertums wurden durch die Wiedereinführung der alten Verfas-sung Ende des Jahres 1796 durch Kaiser Paul I. jedoch wieder eingeschränkt.

Auch die von ihm 1796/1797 verschärfte Zensur429 und das Verbot der Aus-landsstudien 1798 traf besonders hart den bürgerlichen Stand. Diese letzteren Entwicklungen könnten u. a. verantwortlich für die sinkenden Zahlen der Gele-genheitsgedichte gegen Ende der 1790er Jahre sein.

Der verbesserte Lebensstandard eröffnete auch mehr Ressourcen, die zur Erlernung des dichterischen Handwerks und den Druck der Gedichte verwendet werden konnten – neben immer mehr Männern auch für Frauen.

Gewachsene Bedeutung von Repräsentativität

In Folge der Zunahme des Wettbewerbs in den oberen Gesellschaftsschichten wuchs wahrscheinlich auch die Bedeutung des Sich-Zeigens, der Repräsenta-tivität, für diesen Zweck eignete sich das aus der panegyrischen Tradition erwachsene Gelegenheitsgedicht aber hervorragend. Eine Gedichte widmende Frau konnte gewissermaßen ein Statussymbol sein, ein Merkmal für die guten materiellen Verhältnisse einer Familie, ein Zeichen, dass man dem “Club” der Wohlhabenden angehörte.

Nebenbei bemerkt, gerade in den 1780er Jahren fand auch tatsächlich eine Gründungswelle von Clubs statt: 1781 wurde in Reval die ‘Bürgerliche Clubbe’

gegründet, 1785 initiierte der Vizegouverneur von Livland, Balthasar von

Tannberg, Helmut Piirimäe. Tegevtoim. Mati Laur. Peatoim. Sulev Vahtre. Õpetatud Eesti Selts.

Tartu: Ilmamaa. S. 169.

427 Siehe dazu z. B. Pistohlkors 1994: 287–294; Elias, Otto-Heinrich 1978. Reval in der Reform-politik Katharinas II. Die Statthalterschaftszeit 1783–1796. (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; Bd. 3). Bonn; Bad Godesberg: Verlag Wissenschaftliches Archiv; Elias, Otto-Heinrich 2001. Der aufgemunterte Bürger . Ein aufklärerisches Stadtrecht sollte in Reval das Lübische Recht ersetzen. In: Schweizer, Robert; Bastman-Bühner, Waltraud; Hachmann, Jörg (Hrsg.) 2001. Die Stadt im europäischen Osten. Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts bis zur Aufklärung. Beiträge anläßlich des II. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur im europäischen Nordosten der Stiftung deutscher Kultur (Aue-Stiftung) Helsinki in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Tallinn, dem Estnischen Kunstmuseum, der Ostsee-Akademie Lübeck-Travemünde und dem Deutschen Kulturinstitut Tallinn vom 10. bis 13.

September 1998 in Tallinn, Estland. Helsinki und Lübeck. S. 297–317.

428 GBKA 1784: LUAB, P 1/1, R 35089: 41; dubl. 3765.

429 Zur Einführung der Zensur s. Reimo 2001: 291–302. Die Strenge der Rigaer Zensur habe diejenige von St. Petersburg sogar übertroffen! (s. ebd. S. 301).

131

penhausen, einen Männerclub in Arensburg, 1787 ist das Gründungsjahr des bekanntesten Rigaer Clubs, der ‘Musse’, 1789 das des Beamten- und Kauf-mannsclubs ‘Harmonie in Walk’ (estn. Valga, lett. Valka), 1791 riefen die Dor-pater nach dem Rigaer Vorbild ihre ‘Bürgermusse’ ins Leben.430 Auch wenn Frauen nicht Mitglied der Clubs werden konnten, waren sie gerngesehene Gäste bei Bällen und Maskeraden, die von den Clubs regelmäßig veranstaltet wur-den.431

1786 wurde in Riga noch etwas errichtet, wo man andere sehen und sich selbst zeigen konnte – das erste Theaterhaus, gebaut für die 1782 gegründete erste lokale professionelle Theatertruppe im Nordbaltikum. Theaterzeitalter war auch in Reval, 1784–1795 wirkte unter Leitung von August von Kotzebue (1761–1819) das Revaler Liebhabertheater, jedoch war diese Truppe im Gegensatz zu derjenigen in Riga nicht professionell. Eine eigene professionelle Truppe erhielt Reval erst 1795 und ein eigenes Theaterhaus erst 1809432 – ein Zeichen, dass Repräsentationszwecke hier etwas später als in Riga wichtig wur-den.

430 Eesti ajalugu IV 2003: 248 .

431 s. Reimo 2001: 46. So war es auch in Riga, s. Bosse, Heinrich 1997. Die soziale Einbettung des Theaters in Riga und Tallinn. In: Kitching, Laurence P. (Hrsg.) Das deutschsprachige Theater im baltischen Raum, 1630–1918 = the German language Theater in the Baltics. (Thalia Germanica; 1). Frankfurt a. M; Berlin; Bern; Paris; Wien: Lang. S. 105–122, hier S. 115.

432 Eesti ajalugu IV 2003: 248.

132