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A. Vereinzelte Sternschnuppen. Die ersten Exemplarischen Gelegenheitsgedichte Exemplarischen Gelegenheitsgedichte

1. Die erste Autorin: Gertrud Paffrath

2.2 Judith von Alkens

1677 – in demselben Jahr wie Katharina von Gyldenstern ihr Geistliches Heilp-flaster – hat eine Judith von Alkens bei Heinrich Bessemesser in Riga anlässlich des Todes der kurländischen Herzogin Luise Charlotte (1617–1676) zwei Trauergedichte181 veröffentlicht: zunächst das in heroischen Alexandrinern ge-schriebene O Grosses Hertzeleid! O Jammer der Elenden!, dem das motivisch ähnliche, aber eine andere Strophenform benutzende Hertzeleid in allen Stän-den folgt – diese trochäische Kirchenliedstrophe (F 8.25; ababccdd, 8/7/8/

7/7/7/8/8),182 wurde im 17. Jahrhundert häufig für geistliche Klage-, Abend- und Todeslieder verwendet. Eingeführt wurde sie 1537 von Ambrosius Lobwasser mit seiner Übersetzung des 42. Psalms ins Deutsche Wie nach einer Wasser-quelle/ ein Hirsch schreiet mit Begier. Gewöhnlich wurden diese Lieder mit einer Melodie aus dem Gesangbuch der französischen Hugenotten vorgetra-gen,183 auf die auch im Kopf dieses Gedichts hingewiesen wird. Es sind übri-gens die frühesten Gelegenheitsgedichte in den estnisch-lettischen Beständen, die aus der Feder einer möglicherweise hiesigen Frau stammen.

Wer Judith von Alkens war, steht nicht fest. In deutschbaltischen Litera-turlexika sucht man nach diesem Namen vergebens, vielleicht weil die Familie

gefundene stehend Eingemauerte, Versionen und Ergänzungen zu den Kommentaren Johann Christoph Broces] In: Mākslas Vēsture un Teorija 12/2009, lp. 58–70.

181 GBKA 437: LUAB, R 26143: Ehren-Gedichte/ Auf der weiland Durchläuchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen Lovysen Charlotten/ Gebohrnen Marggräffin und Churfürstlichen Princessin zu Brandenburg/ Magdeburg/ in Preussen/ Gülich/ Cleve und Bergen/ auch zu Stettin/ Pommern/

wie auch in Lieffland/ zu Churland und Semgallen/ Hertzogin/ Fürstin zu Halberstad und Minden/

Gräffin zu der Marck und Ravensberg/ Frauen zu Ravenstein/ Eiligen und unverhofften jedoch Gottseligen Abschied/

Geschrieben von einem wolmeinenden Hertzen/ (wiewol es besser kan gegeben werden von hochgelahrten Leuten nach der Weltweißheit/) bleibend bey ihrer Einfältigkeit und guten Meynung/ und verbleibend des Fürstlichen Hauses unterthänigsten Dienerin/ und bey GOtt Vorbitterin/ solang sie lebet Judith von Alkens. RIGA/ Gedruckt bey Heinrich Bessemessern/

Anno 1677.

182 Vgl. Frank 1993: 618–619.

183 s. Frank 1993: 618.

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von Alkens nicht zu den baltischen Adelsgeschlechtern gehörte.184 Es könnte sich bei ihr z. B. um eine Kurländerin handeln, die einen Mann mit einer nicht est-, liv- oder kurländischen Herkunft geheiratet hatte oder um eine Hofdame, die Luise Charlotte aus ihrer brandenburgisch-preußischen Heimat nach Kur-land mitgenommen hatte – Luise Charlotte war die Tochter von Georg Wilhelm (1595–1640), Kurfürst von Brandenburg und Herzog von Preußen, der sich wegen der Wirren des Dreißigjährigen Krieges oft in Preußen aufgehalten hat und als einziger Brandenburger Kurfürst im Königsberger Dom beigesetzt wurde185 (übrigens, unweit von Königberg, in der Nähe der Stadt Wormditt, poln. Orneta gibt es eine Ortschaft Alken) sowie die Schwester des sog. Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) – oder um eine Edelfrau, die den angesprochenen Adressaten der Gedichte – neben Herzog Jakob Kettler von Kurland (1610–1682, Regierungszeit 1642–1682) auch des-sen Kinder, “Printzen sambt den Princessinen”186 – freundschaftlich, aus Verehrung oder “aus Pflicht und Schuldigkeit” verbunden war. In beiden Gedichten wird neben Brandenburg das Land Hessen erwähnt, ein Hinweis auf die Töchter Luise Elisabeth und Amalia, die nach Hessen verheiratet worden waren,187 womit auch diese Gegenden als Schreibort der Gedichte nicht aus-geschlossen werden können.188 Die Tatsache, dass Judith von Alkens im ersten Gedicht bei der Anrede “O Churland und Semgall” eine identifizierende “Wir”-Form benutzt (O Grosses Hertzeleid, Strophe 2, V. 1–2), lässt jedoch eher eine kurländische Verfasserschaft vermuten:

O Churland und Semgall/ laßt Blut vor Thränen fliessen/

Auf diesen Trawerstand! das wir nicht mehr geniessen Des aufrecht-Edlen Muths/ des thewren wehrten Pfands Ja der Barmherzigkeit und Liebe dieses Lands!189

184 Vgl. hierzu die Bände des genealogischen Handbuchs der baltischen Ritterschaften (= GHbR;

Teil: Estland. Bd. 1–3. Stackelberg, O. M. von; Transehe-Roseneck, Astaf von (Bearb.) 1930–

1931. Görlitz: Starke; Teil: Livland. Bd. 1–2. Transehe-Roseneck, Astaf von (Hrsg.) 1929–1943.

Görlitz: Starke; Genealogisches Handbuch der baltischen Ritterschaften. Teil: Kurland.

Stavenhagen, Otto (Hrsg.) 1937. Görlitz: Starke; Teil: Oesel. Essen, Nicolai von (Bearb.) 1935–

1939. Tartu: Saaremaa Üldkasuliku Ühingu kirjastus); Mühlendahl, Ernst von; Hoyningen gen.

Huene, Heinrich von (Bearb.) 1973. Die Baltischen Ritterschaften. Übersicht über die in den Matrikeln der Ritterschaften von Livland, Estland, Kurland und Oesel verzeichneten Gesch-lechter. 2., verb. u. erw. Aufl. Limburg/Lahn: Starke und Hansen, Alfred 1961–1963. Stamm-tafeln nichtimmatrikulierter baltischer Adelsgeschlechter. 2 Bde. Hamburg; Hamm: Hofmann.

185 Vgl. Schumacher, Bruno 1977. Geschichte Ost- und Westpreußens. 6., durchges. Aufl. Würz-burg: Holzner. S. 166–168.

186 GBKA 437: LUAB, R 26143: Hertzeleid in allen Ständen (1677), Str. 9, V. 1.

187 Luise Elisabeth heiratete 1670 Landgraf Friedrich II. von Hessen-Homburg, Amalia 1673 Landgraf Karl von Hessen-Kassel. Vgl. Buchholtz 25K3: 564.

188 Zur Distribution des Familiennamens (von) Alken in Deutschland s. http://wiki-de.genealogy.net/Alken_%28Familienname%29 [03.04.2012], den Wappen und die Geschichte der aus der belgischen Ortschaft Alken stammenden deutschen Familie Dalquen, Dalken, d’Alken, van Alken usw. http://www.dalquen.info/texte/wappen1.html [10.11.2010].

189 GBKA 437: LUAB, R 26143: O grosses Herzeleid! O Jammer der Elenden (1677), V. 1–4.

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Das Bild der Landesmutter und der trauernden fürstlichen Familie

Zum ersten mal – zeitgleich mit der geistlichen Andachtsliteratur – steht hier eine Herrscherin, mit allen ihren Titeln und Ländereien, im Mittelpunkt der weiblichen Gelegenheitsdichtung. Die beiden “Ehren-Gedichte”, wie Judith von Alkens ihre panegyrischen Dichtungen bezeichnet hat, verfolgen ein fast iden-tisches Aufbauschema: sie setzen mit der betroffenen Schilderung eines großen Jammerns und Klagens ein: des Landes Mutter ist tot. Es folgt eine Beileids-bekundung gegenüber Kurland und Semgallen sowie eine Beschreibung der Persönlichkeit der seligen Fürstin, die den allgemeinen Kummer verständlich macht: das Land hat an ihr eine edle und kultivierte Frau, eine “Mutter der Elenden”, eine vorbildliche Christin verloren.

Die thewre Fürstin war auß Grossem Stam-Geblüthe/

Von überhohem Ruhm und von Tugend und Gemüte/

Von Demuth/ Gütigkeit hat Sie so hellen Schein/

Daß man die Lieblichkeit in ihr meint selbst zu seyn.

Ihr gantzes Leben war sehr fromm und Rühmens-rüchtig/

Sie war von Hertzen keusch/ belebet und gar züchtig/

Holdseelig redt ihr Mund/ anmuthig war ihr Wesen/

Sehr herrlich ihr Gebärd’/ ihr Wandel außerlesen:

Voll Demuths war ihr Hertz/ die Mutter der Elenden/

Zu dem was trawrig war pflag Sie sich hin zuwenden/

Sie war voll Lieb und Trosts/ barmhertzig allezeit/

Der Hochbetrübten Frewd’ in ihrer Trawrigkeit.190

Genau diese Vorbildlichkeit war aber der Grund, warum ihr nach Ansicht der Autorin nur ein relativ kurzes Leben beschieden war. Weil sie außerordentlich tugendhaft war, zu gut für diese sündhafte Erde, habe Gott sie frühzeitig zu sich gerufen wie Enoch und Elias, zwei besonders gottgefällige Männer des Alten Testaments, die nicht starben, sondern direkt in den Himmel aufgenommen wurden.191

Erde du kannst nicht mehr tragen Dieses herrlich fromme Bild:

Hefftig trawrend must Sie klagen/

Wie die Welt so bös und wild:

Ach wie geht es zu im Land/

Sünden nehmen überhand!

GOtt wird Sie nicht lassen sehen Straffen/ die hernach ergehen.192

Es folgt eine Darstellung des Herzogs und der Kinder in heftiger Trauer.

190 GBKA 437: LUAB, R 26143: O grosses Herzeleid! O Jammer der Elenden (1677), V.

9–16.

191 Vgl. Gen 5: 24 bzw. 2. Kön 2: 11.

192 GBKA 437: LUAB, R 26143: Hertzeleid in allen Ständen (1677), Str. 5.

65 Die Fürstin ist dahin/ ist nun nicht mehr betrübet Der Hertzog bleibet hie/ der Sie von Hertzen liebet:

Wie wird so mancher Thrän auß seinen Augen gehn/

Weil Er sein Eh-Gemahl nicht mehr kan lebend sehn.

Er geht bald hie/ bald dort/ kan nicht mehr mit Ihr sprechen/

Das Hertz im Leide will ihm schier für Leid zerbrechen:

Der Fürsten-Kinder nun/ (ach!) zwey gedritte Zahl/

Hat Trawren/ Schmertzen/ Leid/ Sie klagen allzumahl/193

Kurbrandenburg und Hessen wird das Beileid ausgesprochen. Im ersten Gedicht folgt dann eine lange Schilderung der himmlischen Seligkeit (Strophen 13–16 bzw. V. 52–64): genesen und glücklich, tanzt die Herzogin mit den Engeln und sitzt zur Rechten des Gottes. Dann werden die Trauernden in beiden Gedichten gebeten, ihren Kummer zu bändigen:

Ach Landes-Vater wollt das Hertzens-Trawern stillen/

Denn alles kompt von GOtt und seinem guten Willen.

Die grosse Trawrigkeit zernagt Ihm sonst das Hertz/

Und grosse Kranckheit zeucht nach sich des Klagens Schmertz.

Gebt Euch zufrieden doch! ach wollet doch verhälen Ihr Fürsten Ewer Leid! wie lang wollt Ihr Euch quälen?

Die Landes-Mutter ist sehr hoch im Freuden-Saal/

Weg ist nun all’ Ihr Leid/ die Trübsaal und die Qvaal.194

Zum Schluss des ersten Gedichts wird die Hoffnung geäußert, dass die ganze fürstliche Familie sich dereinst im Jenseits treffen werde:

Gönnt ihr die Frölichkeit/ den wunderschönen Himmel/

Sie ist nu schnell hinweg auß diesem Welt-Getümmel/

Und gebe Gott der HErr dem gantzen Fürstenstand Zu kommen zu Ihr hin ins rechte Vaterland.195

Wie ein Vergleich mit zwei von Sara Smart analysierten Gelegenheitsge-dichten von Michael Stechow (ca. 1630–1681), einem Mitglied des Elbschwa-nen-Ordens und Pfarrer in Brandenburg, und Martin Kempe (1637-1683), Königsberger Dichter und späterer Hofhistoriograph, anlässlich des Todes von Luise Henriette von Oranien (1627–1667), der ersten Gemahlin des Bruders von Luise Charlotte, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, zeigt,196 sind die

193 GBKA 437: LUAB, R 26143: O Grosses Hertzeleid! O Jammer der Elenden (1677), V.

33–40.

194 GBKA 437: LUAB, R 26143: O Grosses Hertzeleid! O Jammer der Elenden (1677), V.

65–72.

195 GBKA 437: LUAB, R 26143: O Grosses Hertzeleid! O Jammer der Elenden (1677), V.

73–76.

196 Smart, Sara 2010. Höfische Trauer und die Darstellung der fürstlichen Gemahlin. Zur Funktion des Trauergedichts am Berliner Hof zwischen 1667 und 1705. In: Keller, Andreas;

Lösel, Elke; Wels, Ulrike; Wels, Volkhard (Hrsg.) 2010. Theorie und Praxis der Kasualdichtung

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Gedichte von Judith von Alkens in vielem zeittypisch und ähneln panegyrischen Gedichten aus Brandenburg-Preußen. Auch sie hat beim Verfassen ihrer Ge-dichte die drei Hauptfunktionen des traditionellen Epicediums berücksichtigt:

sie setzt an mit einer Klage (lamentatio), fährt fort mit dem Lob der Ver-storbenen (laudatio) und spricht zuletzt Trost (consolatio) aus.197 Insbesondere für protestantische Länder zeittypisch ist auch die Bezeichnung des Herzogs als Landesvater und der Herzogin als Landesmutter, die auf Martin Luther zu-rückzuführen ist.

“Genauso wie in der reformatorischen Hausväterliteratur die Verantwortlichkeit für den Unterhalt des Hauses zwischen dem Hausvater und der Hausmutter geteilt war, so wurden in der Übertragung dieses Ideals auf das Herrscherpaar – bestimmte Tätigkeitsbereiche dem Landesvater und der Landesmutter zugeteilt. Während sich der Fürst den Regierungs- und Kriegsgeschäften widmete, unterstützte ihn seine Frau, indem sie für das Wohl der Untertanen sorgte.”198

Laut Smart hatte die fürstliche Gemahlin drei Aufgaben: die Erfüllung der lan-desmütterlichen Verpflichtungen, das Zementieren der dynastischen Allianzen und die Absicherung der Erbfolge.199 Judith von Alkens demonstriert, dass Luise Charlotte alle diese Aufgaben erfolgreich ausgeführt hat. Der Erfüllung der landesmütterlichen Pflichten entspricht die Darstellung Luise Charlottes als

“Mutter der Elenden”, die für das Leid ihrer Untertanen ein offenes Ohr hatte.

(Luise Henriette wurde analog dazu als eine Wohltäterin der Armen und Waisen dargestellt, die als eine vorbildliche Christin der protestantischen Verpflichtung, für die moralische Erziehung ihrer Landeskinder zu sorgen, gewissenhaft nach-kam.)200 Als Ausweis der Zementierung dynastischer Allianzen dienen die Bei-leidsbekundungen an Kurbrandenburg und Hessen. Die Absicherung der Erb-folge wird durch die Erwähnung der Kinder angedeutet. Außerdem scheint die Schilderung des Gefühlsausbruchs des Fürsten beim Anblick des Leichnams als auch das Trösten der Hinterbliebenen durch den Hinweis, dass die Fürstin jetzt ja zum besseren, ewigen Leben gelangt sei, zum festen Repertoire solcher panegyrischer Trauergedichte gehört zu haben.201 Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass Judith von Alkens in ihren Epicedien – charakteristisch für das 17. Jahrhundert – Luise Charlotte als eine Vertreterin des Typus “fromme Landesmutter” entworfen hat.

in der frühen Neuzeit. (Chloe – Beihefte zum Daphnis; 43). Amsterdam; New York: Rodopi. S.

277–300, hier insbesondere S. 278-293.

197 Vgl. Smart 2010: 280.

198 Smart 2010: 283. Zur Hausväterliteratur im Baltikum siehe Plath, Ulrike 2010. Stille im

“Haus”. Hausvater, Verwalter und transkulturelle Gesellung in der baltischen ökonomischen Literatur zwischen 1750–1850. In: Schmidt-Voges, Inken (Hrsg.) 2010. Ehe. Haus. Familie.

Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens 1750-1850. Köln: Böhlau, S. 179–208, Landesvater und -mutter S. 197–198.

199 Smart 2010: 290.

200 Smart 2010: 284–285.

201 Vgl. Smart 2010: 291.

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Selbstdarstellung der Dichterin: wohlmeinendes, einfältiges, krankes Weib Hertzeleid in allen Ständen endet jedoch anders als das erste Gedicht, mit der Loyalitätsbekundung der Autorin – die so weit geht, dass sie entgegen ihren eigenen Ratschlägen, die Trauer zu stillen, sich als vor Kummer krank schildert und den Tod wünscht, um bei der geliebten Herrscherin zu sein:

Ich betrübte will nun schliessen Dieses schlechte Lied: Ach/ Du/

GOtt/ laß Gnaden mich geniessen/

Gib mir krancken Judith Ruh/

Die ich leid in meinem Sinn;

Nur zur Landes Mutter hin Wollst Du mich/ O Vater/ setzen/

Und mit Ihr mich dort ergetzen.202

Neben der Betonung ihrer Betroffenheit und Loyalität demonstrieren diese Verse wieder Bescheidenheit: die Dichterin bezeichnet ihr Lied als “schlecht.”

Damit kann zweierlei gemeint sein: einerseits eine geringe Qualität, andererseits Schlichtheit, Ungelehrtheit. Auch in der Selbstdarstellung der Autorin auf dem Titelblatt werden diese Aspekte hervorgehoben:

“Geschrieben von einem wolmeinenden Hertzen (wiewol es besser kan gegeben werden von hochgelahrten Leuten nach der Weltweißheit) bleibend bey ihrer Einfältigkeit und guten Meynung und verbleibend des Fürstlichen Hauses unterthänigste Dienerin und bey GOtt Vorbitterin solang sie lebet Judith von Alkens.”

Das Faktum, dass die Autorin ihren Namen ganze zweimal nennt – auf dem Titelblatt und am Ende des zweiten Gedichts – zeigt allerdings, dass diese Demutsformeln wie im Falle Gertrud Paffraths nicht überbewertet sollten. Die Autorin steht zu dem, was und wie sie schreibt: sie lässt nicht gelehrte Welt-weisen bzw. Philosophen in ihrem Namen sprechen, statt fremder Bildung will sie authentische Gefühle ihres eigenen “wohlmeinenden Hertzens” ausdrücken.

Aber auch nicht unterbewerten: im Gegensatz zu den Rigenserinnen scheint sie tatsächlich ernsthaft bemüht gewesen zu sein, keinen gelehrten Eindruck zu hin-terlassen – Hinweise auf die antike Mythologie, aber auch auf Kirchenväter und antike Philosophen fehlen vollkommen. Außer Elias und Enoch werden auch keine biblischen Figuren des Alten Testaments erwähnt und selbst diese stam-men aus einem zum lutherischen Kanon gehörenden, nichtapokryphen Teil der Bibel. Bibelreminiszenzen gibt es dennoch mehr, z. B. auf die zur Rechten Got-tes sitzenden Gläubigen, was zusammen mit der Abwesenheit von antiken und humanistischen Zitaten die Gedichte dezidiert christlich-lutherisch erscheinen lässt.

202 GBKA 437: LUAB, R 26143: Hertzeleid in allen Ständen (1677), Str. 12.

68 Eine adlige Verfasserin

In ihrer betonten Christlichkeit ähneln die Gedichte der ersten bekannten Schrift einer Kurländerin (und einer nordbaltischen Frau überhaupt), Geistlicher jüdi-scher Wundtbalsam/ von den Allerheilsambsten vnd Herrlichsten Specereyen Göttliches Worts aus der Himmlischen Apothek des H. Geistes bereitet vnd zu-gerichtet/ so da dienet für alle/ der Juden Gebrechen vnd Wunden/ wofern sie sich nur von dem rechten vnd Himlischen Artzt dem Sohne David verbinden und heylen lassen wollen etc. von Anna von Medum aus dem Jahr 1646. Aus dieser Schrift geht außerdem hervor, dass in Kurland der Adressatin Landesmutter (bei Judith von Alkens) die Adressatin Mutter vorausging, einer Frau in der abso-luten Spitzenposition der lokalen Hierarchie eine Frau aus dem nächsten Ver-wandtenkreis: neben Jesus als dem Erstadressaten ist Anna von Medums Buch ihrer Mutter, Anna Dorothea von Tiesenhausen gewidmet. Von Anfang an stell-ten die Kurländerinnen eine andere Frau als Adressatin stärker in den Mittel-punkt der Aufmerksamkeit als die Rigenserinnen. Zusammen mit dem Auftritt unter ihrem eigenen Namen weist das darauf hin, dass sie ihre eigene Position bzw. die der Frauen überhaupt als machtvoller erfahren haben als die Frauen der größten Stadt der Region. Zu begründen ist das vor allem mit ihrer adligen Herkunft. Einerseits hat der Adel im Allgemeinen dem Namen des Geschlechts und seiner Tradierung schon sehr früh eine größere Bedeutung zugesprochen als die Stadtbürger, andererseits verfügten adlige Frauen, auch wenn sie in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihren Männern standen, über Untergebene.

Und last but not least: schon 1570 war in Kurland das adlige Erbrecht auf Ver-wandten beiderlei Geschlechts ausgedehnt worden, in Estland und in den Stiften sogar früher.203 Das heißt nicht unbedingt, dass adlige Töchter Erbgüter in gleichen Anteilen wie Söhne erben konnten.204 Dennoch bedeutete diese Ände-rung des Erbrechts, dass Frauen der wohlhabendsten Schicht anfangen konnten, wirtschaftliches Kapital zu akkumulieren. Dieses Kapital ging auch in der Ehe nicht ganz verloren, denn kurländische Edelfrauen verfügten über ein Sonder-gut, das nicht unter das Verwaltungsrecht ihres Ehemannes fiel. Ihr Gatte durfte

203 Pistohlkohrs, Gert von (Hrsg.) 1994. Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder. Berlin: Siedler. S. 243. Laut Friedrich Georg von Bunge fand die Ausweitung des Erbrechts in Estland schon 1397 mit dem Gnadenbrief des Hochmeister Conrad von Jungingen statt, für das Stift Riga kann eine ähnliche Urkunde 1457 nachgewiesen werden (obwohl das Gnadenrecht schon früher eingeführt wurde, allerdings erst nach Estland). Aus der Rigaer Urkunde geht außerdem hervor, dass auch die Ritterschaften der Stifter Dorpat und Ösel, aber auch der Ordenslande gleiche Gnadenrechte genossen. Erhalten sind Bestätigungen und Erneuerungen dieses Rechst: für Ösel 1524, für Dorpat 1540 und für die Ordenslande 1546. Vgl.

Bunge, Friedrich Georg von 1839. Das liv- und esthländische Privatrecht. T. 2, Das Familien- und Erbrecht enthaltend. Dorpat: Kluge. S. 235–236.

204 Zumindest in Livland galt auch noch im 18. Jahrhundert die Regelung, dass adelige Töchter und Söhne zwar bei der Erbe beweglicher Güter gleichberechtigt waren, bei Erbgütern aber die Söhne zwei Teile, die Töchter aber einen Teil erbten, vgl. Gadebusch, Friedrich Konrad 1783.

Von dem gesetzmäßigen Erbgange in Livland. In: Gadebusch, Friedrich Konrad 1779–1785.

Versuche in der livländischen Geschichtskunde und Rechtsgelehrsamkeit. Riga: Hartknoch. St. 6, 1783, S. 1–56, hier S. 11 (§§ 3 und 4).

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ihre Grundstücke und Grundgerechtigkeiten weder veräußern noch beleihen.205 Das bedeutete auch, dass Töchter ihre Mütter beerben konnten.206 Wie wir bei Elisa von der Recke in späterer Zeit gesehen haben, war das für die Bewahrung ihrer Autonomie von entscheidender Bedeutung: das von ihrer Mutter geerbte Gütchen Subern, das ihr Sondergut ausmachte, ermöglichte ihr nach ihrer Scheidung, wenn auch nicht ein standesgemäßes Leben zu führen, dann doch zu überleben. Damit war eine Grundsicherheit gegeben, aber auch ein zusätzlicher Grund, sich um das Wohlwollen weiblicher Verwandten zu bemühen. Hinzu kommt, dass es in Kurland anscheinend leichter war, Kapital anzusammeln, als etwa in Estland, da das Klima in der südlichsten Provinz der Region eine ertrag-reichere Landwirtschaft zuließ.

Ihr Stand ist jedoch nicht die einzige Begründung.

Der Name der Mutter

Interessante Entwicklungen bezüglich der Nennung des Namens der Mutter fallen auf, wenn man die Geburtenregister Rigas mit denjenigen Mitaus ver-gleicht. Die deutsche Stadtgemeinde St. Trinitatis in Mitau hat mit der Auf-zeichnung der Namen der Mütter mindestens ein halbes Jahrhundert früher be-gonnen als die Rigaer Kirchenbücher (erhalten ist eine Abschrift der Geburten-verzeichnisse aus den Jahren 1642–1700),207 schon im Jahr 1642 ist das erste Beispiel dafür zu finden: am 20. Oktober ist Johann Hinrichs und Elisabeth Hespins Sohn Joachimus getauft worden.208 Zunächst dominieren jedoch Ein-träge, bei denen nur der Name des Vaters angegeben worden ist. Dies ändert sich im Jahr 1656, als im Monat Juni eine systematische Aufzeichnung der Müt-ter ohne besondere Rücksichten auf ihren Stand mit ihrem Vor- und Mädchen-namen einsetzt. In dieser Form werden die Namen der Mütter bis etwa 1680 konsequent aufgezeichnet, doch dann beginnt eine Veränderung sich abzu-zeichnen. Mütter, deren Vor- und Mädchenname angegeben werden, versch-winden nicht, aber sie werden immer seltener. Es gibt immer mehr Einträge, die ohne Vornamen nur den Mädchennamen (d. h. den Familiennamen des Vaters

Interessante Entwicklungen bezüglich der Nennung des Namens der Mutter fallen auf, wenn man die Geburtenregister Rigas mit denjenigen Mitaus ver-gleicht. Die deutsche Stadtgemeinde St. Trinitatis in Mitau hat mit der Auf-zeichnung der Namen der Mütter mindestens ein halbes Jahrhundert früher be-gonnen als die Rigaer Kirchenbücher (erhalten ist eine Abschrift der Geburten-verzeichnisse aus den Jahren 1642–1700),207 schon im Jahr 1642 ist das erste Beispiel dafür zu finden: am 20. Oktober ist Johann Hinrichs und Elisabeth Hespins Sohn Joachimus getauft worden.208 Zunächst dominieren jedoch Ein-träge, bei denen nur der Name des Vaters angegeben worden ist. Dies ändert sich im Jahr 1656, als im Monat Juni eine systematische Aufzeichnung der Müt-ter ohne besondere Rücksichten auf ihren Stand mit ihrem Vor- und Mädchen-namen einsetzt. In dieser Form werden die Namen der Mütter bis etwa 1680 konsequent aufgezeichnet, doch dann beginnt eine Veränderung sich abzu-zeichnen. Mütter, deren Vor- und Mädchenname angegeben werden, versch-winden nicht, aber sie werden immer seltener. Es gibt immer mehr Einträge, die ohne Vornamen nur den Mädchennamen (d. h. den Familiennamen des Vaters