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Weibliche Gelegenheitsdichtung wird zum Phänomen (1780er–1790er Jahre)

6. Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Autorschaft der Gelegenheitsgedichte von Frauen der Gelegenheitsgedichte von Frauen

6.2 Dichten im Namen von Kindern

Noch verwickelter ist die Frage nach der Autorschaft bei Texten, deren Adres-santinnen erst im Kindesalter gewesen sind, da sie sowohl von Privatlehrern, Hofmeistern und Gouvernanten bzw. anderem Lehrpersonal oder Freunden des Hauses als auch von Eltern, älteren Geschwistern oder auf Bestellung angefer-tigt worden sein könnten. Elisa von der Recke erinnert sich in ihren 1795 ent-standenen Kindheits- und Jugenderinnerungen an solche Praktiken:

“Das erste Familienfest in meinem väterlichen Hause wurde von meiner Stiefmutter am Geburtstage meines Vaters im Stillen veranstaltet; unser Tanzmeister war zweiter Balletmeister am Warschauer Theater gewesen, konnte daher meiner Stiefmutter behülflich sein, dies Fest anzuordnen. Im Garten war, ohne daß mein Vater es wußte, auf einer Terrasse eine Illumination veranstaltet, meine Stiefmutter hatte ein kleines Prolog gemacht, in welchem meine Schwester mit ihrer lieblichen Stimme etwas zu singen bekam; hinter dem Altare, auf welchem der Name meines Vaters illuminiert stand, war die Musik. Am Altare knieten meine beiden jüngsten Brüder als Hymen und als Amor; meine Schwester war als Schäferin gekleidet, sang

incl., mit Ergänzungen und Zusätzen, zum Theil aus dem seit 1858 in Riga erscheinenden Rigaschen Almanach bis 1880 incl. Riga: Schnakenburg. I: 76–77.

372 Latvijas mākslas vēsture [Kunstgeschichte Lettlands] 2004. Rīga: Pētergailis. S. 177.

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das kleine Liedchen auf der Terrasse; mein ältester Bruder als Schäfer forderte die singende Schwester auf, den Göttern ein Dankopfer zu bringen und diese für das Glück der Tage des edlen Herrn dieses Ortes anzuflehen. Ich erschien als Flora, bekränzte den Altar unter Musik und pantomimischen Bewegungen und deklamirte nicht nur das, was meine Stiefmutter zum Lobe meines Vaters aufgesetzt hatte, mit vielem Gefühle, sondern ohne daß meine Stiefmutter es wußte, hatte unser Tanz-meister mir noch etwas aufgesetzt, worin das Glück meines Vaters durch diese Gattin, so wie das Glück der Kinder durch diese Mutter gepriesen wurde, und zum Schlusse sanken wir fünf Kinder auf die Knie, hoben unsre Hände gen Himmel empor, dankten diesem für den guten Vater und unserm Vater, daß er uns die Mutter gegeben hatte. Nun erscholl hinter dem Altare ein frölicher Lobgesang im Chore, denn wer im Hause nur etwas singen konnte, war von unserm Tanzmeister Schleifer, der auch Musik verstand, unterrichtet worden, im Chor zu singen. – Von diesem Zusatze zum Prolog wußte meine Stiefmutter nichts, und da war sie eben so gerührt und überrascht als mein Vater.”373

Boten die Auftritte der Kinder schon ihren unmittelbaren Veranstaltern un-erwartete Überraschungen und Verwirrung, dürfen wir – lange nach der Entstehung dieser Texte – nicht allzu viel für die genaue Identifizierung ihrer Autorschaft erhoffen. Wir können den potenziellen Verfasserkreis höchstens umkreisen und bei ganz kleinen Kindern annehmen, dass sie nicht die Autoren ihrer Gedichte waren. Der zitierte Abschnitt, der außerdem einen genaueren Einblick gewährt, wie das höfische Festspiel für mächtige Herrscher über (ehemaliges) Hofpersonal zu einer Unterhaltungs- und Umgangsform des Landadels “abgesunken” ist, schildert Ereignisse im Jahr 1766. Die beschrie-bene Praxis wurde aber auch noch in den 1790er Jahren fortgesetzt. Man findet dialogische Gespräche – sowohl in Prosa als auch in Versen –, die in Kinder-mund gelegt sind, fast zu jedem Anlass. Aus Bauenhof (lett. Bauņi), ein Gut im lettischen Distrikt Livlands im Besitz des ehemaligen livländischen Landrats, wirklichen Geheimrats und bekannten russischen Staatsbeamten Jacob Johann von Sievers (1731–1808),374 ist z. B. aus dem Jahr 1788 Ein Gespräch in Ver-sen von Lisette, Annette, Peter und Charlotte erhalten, das sie anlässlich des Geburtstags ihres Onkels geführt haben.375 Besonders ins Auge sticht eine mit Gedichten untersetzte Prosa-“Unterredung” der Geschwister von Rennen-kampff, dezidiert als Dramentext ausgeführt, anlässlich des Begräbnisses ihres Großvaters, des estländischen Landrats Jakob Gustav von Rennenkampff (1716–1791): am Anfang des Textes werden die handelnden Personen mit ihren vollen Namen aufgeführt, es folgen Anweisungen zur Gestaltung der “Scene”, das ganze wird abgeschlossen mit einem “Epilog” in Versen, “hergesagt von dem Fräulein Margaretha, als Tugend”.376 Diese Beispieltexte deuten an, dass der Brauch, Mädchen bei feierlichen Anlässen auftreten zu lassen, die in den 1690er Jahren erstmals in der Familie des kurländischen Oberhofmarschalls von

373 Rachel 1900: 63.

374 Vgl. DbBL: 732.

375 GBKA 763, dubl. 4099: LUAB, R 15214: 15 [1788].

376 GBKA 2236, dubl. 3485, 3486, 4431: LUAB, R 35135: 98 [1792].

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Knigge beobachtet werden konnte, sich im Laufe des Jahrhunderts in adeligen Kreisen in alle Teile der Region ausgebreitet hatte.

Das Novum der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts besteht darin, dass der Brauch, im Namen von Kindern zu schreiben, auch die hiesigen städtischen Oberschichten erreichte (auf Adressantinnenebene allerdings sichtbar nur in Riga) und geradezu massenhaft wurde. Beim näheren Hinsehen entpuppen sich 40% der festgestellten Adressantinnen der Jahre 1780–1800, die meistens unter ihrem vollen Namen aufgeführt sind, als Mädchen unter 12 Jahren, von denen wiederum etwas weniger als ein Drittel bis zu dreijährige Kleinkinder waren.

Zuweilen legte man Verse sogar Säuglingen bei, die noch nicht einmal sprechen, geschweige denn schreiben konnten. Beispielsweise Johanna Frie-derica Knieriem (geboren am 30. Januar 1794), Tochter des Rigaer Märklers Johann Friedrich Knieriem und seiner Frau Johanna Elisabeth (geb. Baronne von Laudon), war am Geburtstag ihrer Großmutter, der in ihrem Namen ein Ge-dicht gewidmet ist, nur 5 Monate und 4 Tage alt. Komplizierter ist die Frage nach der möglichen Autorschaft der Adressantin im Falle Elisabeth Carolina Krögers (geboren am 26. März 1784), Tochter des rigischen Vogteigerichts-sekretärs Paul Adam (von) Kröger,377 die als zweimonatiges Kind ihre Mutter378 verloren hat. War sie zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres ersten erhaltenen Ge-dichts379 am 19. November 1784 erst 8 Monate alt und als Autorin undenkbar, könnte sie das zweite, mit “Lisette von Kröger” unterzeichnete Gedicht380 aus dem Jahr 1796 als zwölfeinhalbjähriges Mädchen immerhin schon selbst ver-fasst haben. Jede zehnte Adressantin scheint eine Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren gewesen zu sein und vom Alter her als Autorin vorstellbar. In vielen Fällen werden jedoch trotzdem andere für sie geschrieben haben, wobei der Autorenkreis, der im Namen von Kindern geschrieben hat, wohl zu einem beträchtlichen Teil mit demjenigen, der für erwachsene Frauen geschrieben hat, deckungsgleich gewesen ist. Sowohl die obenerwähnten Schwester Neudahl als auch Brandt, in deren Namen Johann Daniel Horeb gedichtet hat, wie auch die Tochter des Stadtbuchdruckers Müller waren im Kindesalter. Von Friedrich Gustav Arvelius sind aus der zweiten Hälfte der 1770er Jahre zwei Dramen für Kinder erhalten – Lydia. Ein Schauspiel für Kinder in dreien Aufzügen und Der Neujahrstag. Ein Nachspiel für Kinder in einem Aufzug (beide Leipzig, 1779).381 Auch sein Bruder Martin Heinrich hat Dramen für Kinder verfasst, wie ein Epilog nach Vorstellung der beiden Billets auf einem Liebhabertheater auf dem Lande gesprochen von Fräul. Annette von Krusenstiern, welche das

377 Nobilitiert 1786, vgl. GHbR Livland, II: 836–837.

378 Elisabeth Friederica Kröger (geb. Brümmer)( 1764.11.5–1784.06.16), vgl. GHbR Livland, II:

836–837.

379 GBKA 2980, dubl. 3175, 3176, 2974: LVVA, f. 4011, apr. 1, l. 2114: 61 [1784].

380 GBKA 3800, dubl. Sammlung Pauser, LUAB, Mscr. 388: 116: LVVA, f. 4011, apr. 1, l.

5743: 26 [1796].

381 Vgl. Gottzmann, Hörner 2007, I: 154.

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Mädchen gespielt hat, am Geburtstage ihres alten Pfleg-Vaters des Baron Wrangel in seinem Gedichtband belegt.382