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Estnischer Distrikt Livlands: Eleonore Elisabeth Dorothea und Anna von Münnich und Anna von Münnich

A. Vereinzelte Sternschnuppen. Die ersten Exemplarischen Gelegenheitsgedichte Exemplarischen Gelegenheitsgedichte

4. Die Rückkehr des Friedensengels. Gelegenheitsgedichte von Frauen aus den 1750er bis 1770er Jahren von Frauen aus den 1750er bis 1770er Jahren

4.2 Estnischer Distrikt Livlands: Eleonore Elisabeth Dorothea und Anna von Münnich und Anna von Münnich

Unter den Initialen E. v. M. ist in St. Petersburg ein am 7. Januar 1754 in Lunia (bei Dorpat, estn. Luunja) verfasstes Epicedium Denkmal Schwesterlicher Liebe aus betrübt- und treuer Pflicht Trauervoller Herzens Triebe ihrem Anton auf-gericht gedruckt worden, dem ein kurzes Trauergedicht von A. v. M. an-geschlossen ist: Grabschrift auf die Ruhestatt des wolseeligen Herrn Barons Anton von Münnich, Der im sechzehnten Jahr Seines rühmlichen Lebens in dem Adelichen Cadets-Corps zu St. Petersburg den 30. December 1753. sanft und seelig verschieden.277 Das Gedicht von E. v. M. ist schon früh rezipiert worden, Friedrich Konrad Gadebusch erwähnt es 1777 in seiner Livländischen Bib-liothek und identifiziert die Autorin als Eleonore Elisabeth Dorothea von Münnich (1729–1775),278 während das Gedicht ihrer Schwester Anna (1732–

1760,279 das bei der Identifikation der Adressantinnen von entscheidender Be-deutung gewesen sein könnte, da sie den Familiennamen des Bruders erwähnt, außer Acht geblieben ist. Eleonore Elisabeth, Anna und Anton waren Kinder

277 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296 [1754]; dubl GBKA 99 ja 3303; F8.35.

278 Gadebusch 1777, II, 281–282.

279 Seit 1757 verheiratet mit dem Freiherrn Harald Gustav von Igelström, Erbherr auf Cabbina (estn. Kabina), Kerrafer (estn. Kärevere) und Laiwa (estn. Laeva). Lebensdaten und Ehemann Gottzmann, Hörner 2007, II: 625, s. auch LVVA f 4011, apr 1, l 3856: 1 und Gottzmann; Hörner 2007, II: 935.

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des Barons Christian Wilhelm von Münnich (1686–1768), Oberhofmeister in St. Petersburg und Bruder des berühmten Feldmarschalls Burchard Christoph von Münnich,280 und der Anna Elisabeth (geb. von Witzendorf,281 1697–

1761).282

Geboren in der ostfriesischen Stadt Esens, wurde Eleonore Elisabeth seit 1730, als ihre Eltern nach St. Petersburg gingen, von ihrer Tante, der Landrätin von Witzendorf, in Lübeck erzogen.283 Dort blieb sie – abgesehen von einer Reise nach St. Petersburg Anfang der 1740er Jahre – bis 1749, als sie mit ihrer Mutter nach Riga ging, wo sie von ihrem Vater empfangen wurden, um die Reise gemeinsam nach Lunia fortzusetzen. Im Alter von 25 Jahren heiratete sie im Herbst 1754 Magnus Johann von Berg, einen livländischen Gutsherrn auf Holstfershof (estn. Holstre, in der Nähe von Fellin, estn. Viljandi), der als Offizier am Siebenjährigen Krieg teilgenommen hat und später u. a. in Schlesien und Krim stationiert gewesen ist.284 Gestorben ist sie 1775 auf dem Gut ihres Mannes auf eine Art, die an den deutschen Dichter August Graf Platen gemahnt – statt der Arznei führte sie sich versehentlich Gift zu.285

Neben der Tatsache, dass ihr Gedicht trotz des Erscheinens unter Initialen von deutschbaltischen Literaturlexikographen wahrgenommen worden ist – was mehrere Gründe gehabt haben kann: vielleicht kannte der seit 1750 in Doprat ansässige F. K. Gadebusch286 die unweit der Stadt wohnende Familie von Münnich persönlich, vielleicht war die Nähe dieser Familie zum russischen Zarenhof und damit ihre überdurchschnittlich hohe gesellschaftliche Stellung und Bekanntheit ausschlaggebend –, ist dieses Gedicht auch in einer anderen Hinsicht interessant. Erstmals steht ein Familienmitglied im Fokus des Gelegen-heitsgedichts. Während Anna Katharina Karlick von Netzetitz den Ausdruck ihrer Trauer noch einem gebildeten Mann überlassen hatte, glaubte Eleonore Elisabeth Dorothea von Münnich diese Aufgabe trotz ihrer tiefen Betroffenheit selbst übernehmen müssen:

280 Vgl. Recke, Napiersky 1827–1832, III: 288–289, s. auch Eckardt, Julius 1876. Livland im 18.

Jahrhundert. Umrisse zu einer livländischen Geschichte. Leipzig : Brockhaus. S. 307.

281 Vgl. Gottzmann, Hörner 2007,II: 935.

282 Eine ausführliche Darstellung des Lebens Anna Elisabeth von Münnichs gibt in seiner Leichenpredigt Christian David Lenz (unter Personalia), s. Lenz, Christian David 1761. Der Grund zur wahren, dauerhaften und unvergänglichen Wolfahrt eines Menschen, wenn Christus sein Leben ist, und Sterben sein Gewinn wird, in einer Leichen-Predigt in der St. Johannis-Kirche bey dem im Jahr Christi 1761. den 28. Octobr. gehaltenen feierlichen Leichen-Begängniß Ihro Excellence, der Weiland Hochwohlgebornen nun aber Wolseligen Frauen, Frauen Anna Elisabeth Freiherrin von Münnich gebornen von Witzendorf, Hochansehnlichen Frau Ober-Hofmeisterin und wirklichen Geheimen Räthin, über den von der Wolseligen selbst erwählten Leichen-Text Philipp. 1, 21 abgehandelt und auf Verlangen Des Hochadelichen Trauer-Hauses herausgegeben von Christian David Lenz, Probst und Pastor ordin. der Evang. Teutschen St. Johannis-Gemeine in Dorpat, Assess. Consist. und Inspect. Schol. Riga: Frölich.

283 Lenz 1761: 20ff.

284 Vgl. Gottzmann, Hörner 2007,II: 935.

285 Vgl. Recke, Napiersky 1827–1832, III: 289.

286 Zu seinem Lebenslauf siehe die Übersicht von Indrek Jürjo in EEVA.

90 Soll ich von Deinem Tode singen, Ach Bruder, unsers Hauses Lust!

Da Gram und Leid mein Herz umschlingen, Und da der Kummer meiner Brust

Den stärksten Ausdruck übersteiget?

Da mein, noch blutend, Herze sich Zu Deinem stillen Schatten neiget, Gedenkt es seufzend stets an Dich!

Jedoch, bey Deinem Grabe schweigen Und nicht, wie zart ich Dich geliebt, Dir, durch ein Denkmahl zu bezeugen, So tieff mich auch Dein Tod betrübt;

Diß hieße nicht die Pflicht entrichten Der Du, mein ANTON, würdig bist.

Kan ich nicht hoch und zierlich dichten;

Genug, daß diß Dein Ruhm-Lied ist.287

Wie eine Blume, die kurz vor dem Aufblühen vom Sichelschlag des Todes abgemäht oder ein Obstbaum, der noch in der Blütezeit von einem unerwarteten Frost überfallen wird, so sei ihr Bruder von den Seinigen weggenommen wor-den. Und damit alle Hoffnungen, die an ihn gebunden waren:

Den theuren Eltern ähnlich wandeln, Durch Dein Betragen Sie erfreun, Bescheiden,288 richtig, klüglich handeln, Ein Abriß Ihrer Tugend seyn;

Durch Dein gefällig höfflichs Wesen Der Menschen Herzen an sich ziehn, Des Höchstem Lob zum Zweck erlesen, Diß war Dein ämsigstes Bemühn.289

Der Verlust wird umso schmerzlicher erfahren, da der Verschiedene als ein frühreifer und besonders begabter Mensch wahrgenommen wurde:

Der Schöpfer hatte Dich gezieret Mit Fähigkeit und mit Verstand, Da Witz und Tugend Dich geführet, War Dir die Weisheit schon bekannt.

Wie lieblich wustest Du zu singen!

Wie Anmuthsvoll klang Dein Clavier!

In allem must’ es Dir gelingen.

Es brannt’ in Dir die Ruhm-Begier

287 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296: Denkmal Schwesterlicher Liebe (1754), Str. 1–2.

288 Es fällt auf, dass Bescheidenheit jetzt, um die Mitte des 18. Jahrhunderts, offensichtlich auch im männlichen Tugendkanon eine bedeutendere Rolle einzunehmen beginnt.

289 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296: Denkmal Schwesterlicher Liebe (1754), Str. 5.

91 Vor andern Dich geschickt zu zeigen.

Wie zeichnetest, wie schriebst Du wol!

Vier Sprachen waren Dir schon eigen, Und sechzehn Jahre noch nicht voll.290

Stets habe sie an ihn gedacht, Gott für sein Wohlergehen und Leben gebeten und kann jetzt nicht verstehen, warum diese Wünsche nicht erhört worden sind.

Als ersten denkbaren Grund nimmt sie ihre eigenen Sünden an, die durch den Tod des Bruders gestraft worden seien. Dieser Gedanke bringt aber keine Lö-sung, denn ihr fällt ein, dass auch die Gebete ihrer Eltern, die sie ja für fromme Menschen hält, nicht erhört wurden. Dann jedoch erkennt sie ihr Fragen selbst als Sakrileg und begründet den frühen Tod – ähnlich wie Judith von Alkens – gerade mit der besonderen Gottgefälligkeit der Betroffenen:

Doch, still! verwegenes Befragen.

HErr Zebaoth! ach, zürne nicht!

Du bleibst gerecht, wenn wir auch klagen, Gerecht, und weise dein Gericht.

Der HErr schlägt die nur, die er liebet, Für die sein Vater-Herze brennt.

Die werden oft geprüft, betrübet, Die er im Kreuze standhaft kennt.291

Sie bittet ihre Eltern – wie Gertrud Paffrath im Gedicht an Gustav Horn und Judith von Alkens an die kurländische Fürstenfamilie –, ihre Trauer zu hem-men, da ihr Sohn jetzt ein besseres Leben im Himmel habe, und schließt mit einer rhetorischen Frage, die ihnen bezeugt, dass sie ihre Erziehungsaufgabe gut erfüllt haben:

Ihr zogt Ihn auf zu GOttes Ehren;

Hat Er nicht Euern Zweck erfüllt?292

Das kurze Gedicht der Schwester Anna fasst das Vorhergehende in knapperer Form in Alexandrinern nochmals zusammen:

Ein Jüngling, dessen Morgen den schönsten Tag verhies, Den jeder groß an Tugend, alt an Verstande pries, Von Seinigen geliebt, von allen wehrt geschätzet, Wurd unverhofft aus der, in jene Welt versetzet.

Zu früh – doch nein! Sein Geist sollt bald vollkommen seyn;

Drum nahm Ihn Gott so bald zu den Vollkommnen ein!293

290 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296: Denkmal Schwesterlicher Liebe (1754), Str. 6, V.

5–8 und Str. 7.

291 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296: Denkmal Schwesterlicher Liebe (1754), Str. 10.

292 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296: Denkmal Schwesterlicher Liebe (1754), Str. 11, V. 7–

8. 293 GBKAu 310, TÜR KHO, R III V 296: Grabschrift auf die Ruhestatt (1754).

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Diese Gedichte sind noch in einer weiteren Hinsicht interessant – sie sind die ersten erhaltenen Gelegenheitsgedichte von Frauen aus dem estnischen Distrikt Livlands in den hiesigen Beständen. Hatte der Krieg die erste Dorpater Ge-legenheitsdichterin Regina Gertrud Schwartz nach Norddeutschland verschla-gen, so brachten die Schwestern von Münnich mit einem kleinen Umweg über St. Petersburg die Gattung in die Hände der livländischen Frauen wieder zu-rück.

4.3 Estland: Sämtliche Cousines mütterlicher Seite,