• Keine Ergebnisse gefunden

A. Vereinzelte Sternschnuppen. Die ersten Exemplarischen Gelegenheitsgedichte Exemplarischen Gelegenheitsgedichte

1. Die erste Autorin: Gertrud Paffrath

2.1 Gertrud Cahlen

Gertrud Paffrath war jedoch nicht die einzige Gelegenheitsdichterin, die im 17.

Jahrhundert in Riga festzustellen ist. Nach einer im Anschluss an die Belage-rung und Pest eingetretenen längeren Pause ist 1683 wieder ein Gedicht zu ver-zeichnen, das möglicherweise von einer Frau geschrieben worden ist. Im Gegensatz zu den mit ihrem Namen signierten Gedichten Gertrud Paffraths ist die weibliche Verfasserschaft hier aber nicht ganz offensichtlich.

Mit dem Epithalamion Dem [sic!] güldnen Strahlen-Glantz hat Phöbus ganz verlohren hat jemand unter Initialen G. C. in heroischen Alexandrinern Herrn Heinrich Michelsen, Assessor des schwedischen Kriegskonsistoriums in Riga und Auditor des königl. Knorringschen Regiments und Hedwig Cahlen, Tochter des Leibarztes Ihr. Königl. Majestät und der Livländischen Garnisonen Phy-sicus Johannes Cahlen zu ihrer Hochzeit gratuliert.162

Phöbus, Luna und Hymen

Auch dieses Gedicht beginnt mit gelehrten Anspielungen auf die antike Mytho-logie. Etwas düster setzt es ein mit einer Schilderung, wie die Sonne, hier mit dem Beinamen des römischen Sonnengotts Sol Phoebus (der Scheinende) ge-nannt, ihre Strahlkraft eingebüßt hat, und die Welt der Regierung seiner Sch-wester Luna, der Mondgöttin und Herrscherin der Nacht, überläßt, mit deren Antritt eine Entfesselung der Traurigkeit einhergeht.

Dem güldnen Strahlen-Glanz hat Phöbus ganz verlohren Vnd Luna trat herfür als wer Sie neu gebohren/

Das grosse Sternen-Heer/ und schwartze Nacht brach an Auch alle Traurigkeit zugleich mit auff die Bahn.163

In diese melancholische sublunare Welt, deren karge Lichtquellen von Wolken der Traurigkeit zusätzlich verdunkelt werden, greift jedoch eine andere Macht, der Ehegott Hymen, ein, der die Wolken vertreibt und einen Kult der Freuden-feuer etabliert.

Die Wolcken Finsterniß wolt alle Freude dämpfen/

Da trat Hymen herfür und fieng darumb zu kämpfen/

Hub bald das Trauren auff/ ließ lauter Freude sehn/

Es muste Freuden-Feur an allen Orten stehn. 164

In der 3. Strophe wird angedeutet, dass im Leben des Bräutigams ein ähnlicher Kampf von Dunkelheit und Licht, Traurigkeit und Freude stattgefunden hat, der

162 GBKA 1471: LUAB, R 35064 [1683].

163 GBKA 1471: LUAB, R 35064: Dem güldnen Strahlen-Glanz (1683), Str. 1

164 GBKA 1471: LUAB, R 35064: Dem güldnen Strahlen-Glanz (1683), Str. 2.

58

durch das Ritual der Heirat positiv entschieden worden ist. Es wird ihm nun

“Freud und Glück” gewünscht, die – aus dem vorausgehenden gefolgert – ihm als einem Anhänger des Hymens natürlich zustehen.

Die Freude hatte sich Herr Michelsen erworben/

Da durch des Hymen-Fest sein Trauren war gestorben/

Drumb müsse Freud und Glück stets seyn vor seiner Thür Vnd was nur Freuden bringt/ bey ihm seyn für und für. 165

Selbstverteidigung als Frau: die tugendhafte Jungfrau

Das Gedicht schließt mit einer merkwürdig androgynen Selbstdarstellung des/der Unterzeichnenden, die Schlüsse auf sein/ihr Geschlecht kompliziert machen, da er/sie sich sowohl als “ein Freund” als auch “eine Freundin” be-zeichnet. Die zwei letzten Zeilen deuten jedoch an, dass es sich bei dem Adres-santen des Gedichts wahrscheinlich um eine Frau handelt, die von ihrer Um-gebung als männlich aufgefasst wird – aus welchen Gründen, geht aus dem Ge-dicht leider nicht hervor. Sie ist bereit, diese Zuschreibung als zum Teil zu-treffend zu akzeptieren, bestreitet jedoch, dass sie Männlichkeit absichtlich oder bewusst anstrebe. Im Gegenteil, sie weist eine anscheinend in der Luft liegende Beschuldigung, dass sie ein Mann sein möchte, explizit zurück und zeichnet statt dessen das Bild einer tugendhaften Jungfrau von sich.

So wünschet billich itzt ein Freund den man wol kennet/

Vnd der ihm kennen mag/ nur eine Freundin nennet/

Die zwar recht Mannbar ist/ und doch kein Mann wil seyn/

Von Männer Liebe frey und wandel [sic!] immer rein.166

Verborgen hinter Initialen

Wer war diese sich zurückhaltend hinter Initialen verbergende unverheiratete Frau, die dieses Gedicht vermutlich geschrieben hat? Und haben Frauen schon früher Gedichte unter Initialen oder anonym veröffentlicht? Die letzte Frage ist äußerst schwer zu beantworten, da die Autoren solcher Gedichte sehr schwer oder oft gar nicht zu identifizieren sind, weil die Texte häufig nicht genügend Anhaltspunkte für eine weitere Recherche liefern. Jedoch muss im Hinblick auf das 17. Jahrhundert konstatiert werden, dass die Taktik, unter Initialen aufzu-treten, zumindest unter Männern wesentlich seltener als im folgenden Jahr-hundert gewesen zu sein scheint. Mit dem Namen zu unterzeichnen, war die übliche Praxis. Als weitere interessante Tatsache fällt bei der Sichtung ins Auge, dass man damals zwar meistens unter eigenem Namen (dem oft eine latinisierte Form gegeben wurde), aber sehr oft in größeren Gruppen auftrat. Im 18. Jahrhundert lebte diese Tradition z. B. in den sog. Propemptika bzw.

165 GBKA 1471: LUAB, R 35064: Dem güldnen Strahlen-Glanz (1683), Str. 3.

166 GBKA 1471: LUAB, R 35064: Dem güldnen Strahlen-Glanz (1683), Str. 4.

59

begleit- oder Abschiedsliedern167 fort, die den Studierenden bei ihrer Abreise von der Universität von ihren Kommilitonen auf den Weg mitgegeben wurden.

Da baltische Frauen damals keinen Zutritt zum Studium hatten, handelte es sich hierbei übrigens um eine reine “Männergattung”, wie auch bei anderen universi-tären Untergattungen des Gelegenheitsgedichts.168 Dass G. C. ihren Namen nicht preisgeben wollte, zeigt m. E. unter anderem, dass sie die Bescheiden-heitsgebote viel tiefer internalisiert hatte als ihre Vorgängerin. Ob Besonder-heiten des persönlichen Temperaments, Sozialisation in einer wahrscheinlich von Mangel gekennzeichneten Nachkriegszeit, ein erhöhter familiärer, ständi-scher o.ä. Druck, sich zurückzuhalten, dafür verantwortlich zu machen sind, lässt sich wegen der spärlichen Quellenlage nicht genau bestimmen.

Die Identifizierung von G. C. ist einem glücklichen Zufall zu verdanken: ein unautorisierter handschriftlicher Vermerk auf dem Exemplar der Akademischen Bibliothek der Universität Lettlands buchstabiert die Initialen als Gertrud Cahlen aus. Wie die Durchsicht der Rigaer Kirchenbücher ergab, handelte es sich um die Schwester der Adressatin Hedwig Cahlen (geb. 1659).169 Merk-würdigerweise hat Gertrud ihre Schwester im Gedicht selbst – trotz oder wegen der nahen Verwandtschaft – im Gegensatz zum Bräutigam nicht direkt ange-redet.

Eine Arzttochter

Getauft unter dem Namen Gerdrud Kahl am 11. März 1664170 in der Petri-Kirche,171 war sie zur Zeit des Erscheinens dieses Gedichts 19 Jahre alt. Zum ersten Mal lässt sich auch das Herkunftsmilieu bestimmen. Ihr Vater war Dr.

Johann(es) Cahlen (im Kirchenbuch D. Kahl). Aus dem Rigaer Bürgerbuch geht hervor, dass er 1671 Waisensekretär war.172 Seit 1674 war er Arzt der schwe-dischen Garnisonen in Riga und später anscheinend Leibarzt des schweschwe-dischen

167 Zur Definition und Poetik der Propemptika, insbesondere im 17. Jahrhundert im Umfeld der Dorpater Academia Gustaviana s. Viiding, Kristi 2002. Die Dichtung neulateinischer Propemtika an der Academia Gustaviana (Dopratensis) in den Jahren 1632–1656. (Dissertationes studiorum graecorum et latinorum Universitatis Tartuensis; 1). Tartu: Tartu Ülikooli Kirjastus und Viiding 2005: 359–378.

168 Zu baltischen Studenten an den europäischen Universitäten siehe die umfangreiche Monographie von Arvo Tering Eesti-, liivi- ja kuramaalased Euroopa ülikoolides 1561–1798 (Est-, Liv- und Kurländer an europäischen Universitäten 1561–1798; dt. Zusammenfassung S.

748–780), Eesti Ajalooarhiiv : Tartu, 2008. Siehe auch Bosse, Heinrich 2011. Studentenliteratur.

In: Rasche, Ulrich (Hrsg.) 2011. Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Wiesbaden: Harrasowitz. S. 453–484.

169 Vgl. LVVA, f. 1426, apr. 1, l. 294: 14, Nr. 109.

170 August Buchholtz gibt in seinen Materialien zur Personenkunde der Ostsee Provinzen (in der RARA-Abteilung der Akademischen Bibliothek der Universität Lettlands) als alternativen Geburtsdatum den 18. März 1669 an, konstatiert aber dass Kirchenbücher diesen Datum nicht bestätigen; möglicherweise handelt es sich um eine Verschreibung, eine nachlässig geschriebene 4 kann wie eine 9 aussehen. Als Todesdatum gibt Buchholtz den 22. April 1695 an., vgl.

Buchholtz 9C1: 129.

171 Vgl. LVVA, f. 1427, apr. 1, l. 1: 99, Nr. 16.

172 Vgl. LVVA, f. 1382, apr. 2, l. 243A: 49.

60

Königs. Er scheint ein kämpferisch gestimmter Mann gewesen zu sein, da er sich mehrmals in Auseinandersetzungen mit dem Stadtpatriziat von Riga und der livländischen Gouvernementsregierung verwickelt hat.173 Johann Cahlen stammte aus einer angesehenen Familie Rigas: sein Vater Schotto Cahlen en-dete seine kirchliche Laufbahn als Oberpastor an St. Petri, sein Bruder David war Pastor an St. Johanni – beide Männer, die 1657 an der Pest gestorben sind, haben sowohl lateinische als auch deutsche Schriften verfasst, David Cahlen auch Gelegenheitsgedichte.174 Über die Mutter erfährt man aus dem buch leider nichts – die Aufzeichnung der Mütter setzt in Rigaer Kirchen-büchern erst seit dem Jahr 1692 ein, dann allerdings sehr systematisch und informativ – die Mütter wurden mit ihrem Vor- und Mädchennamen aufge-zeichnet – und ohne in den schwersten Zeiten abzureißen. Wahrscheinlich hieß sie Anna Köhler, eine Witwe von Bastian bzw. Sebastian Pitovin und Heinrich Dreiling, die in ihrer 3. Ehe Johannes Cahlens Gattin war. Sie scheint wohl-habend gewesen zu sein, denn aus ihrer ersten Ehe hat sie mehrere Güter geerbt, die später verkauft worden sind: Seltinghof (lett. Zeltiņa) unmittelbar nach der Geburt Gertruds, im April 1664, zwei weitere Güter, Selsau (lett. Dzelzava) und Kronenhof 1679.175 Gertrud Cahlen entstammte also einer akademisch gebilde-ten bürgerlichen Familie, deren Mitglieder es zu hohen Ämtern gebracht und sich als Männer der Feder hervorgetan hatten. Neben der Erwerbstätigkeit des Vaters bezog die Familie außerdem Einkünfte aus Landbesitzungen. Dadurch war sowohl kulturelles als auch wirtschaftliches Kapital gegeben, die für die Bildung der Töchter eingesetzt werden konnte.

Eine Opitzianerin?

Ob auch Johann(es) Cahlen seine Töchter hat Latein lernen lassen ist wegen der im Gedicht fehlenden Demonstration dieser Kenntnisse ungewiss. Die Erwäh-nung von Gottheiten aus der antiken Mythologie kann nicht automatisch als Beweis dafür gedeutet werden. Der Ehegott Hymen war in den Epithalamia eine dermaßen populäre Figur, dass eine Spurensuche nach ihm ins Labyrinthische führen würde. Die Figur der von Nachtgewölk bedeckten Luna könnte Gertrud Cahlen z. B. bei Horaz gefunden haben (Oden. Zweites Buch. 16. An Grosphus), wo es heißt (V. 1–4):

Otium divos rogat in patente prensus Aegaeo, simul atra nubes, condidit lunam neque certa fulgent sidera nautis.176

173 Vgl. Brennsohn 1905: 125–126.

174 Vgl. Buchholtz 23K1: 135, Recke, Napiersky 1827–1832, I: 316–317 und Gottzmann, Hörner 2007, I: 321.

175 Vgl. Buchholtz 9C1: 129; Hagemeister, Heinrich von 1836. Materialien zu einer Geschichte der Landgüter Livlands. T. 1. Riga: Frantzen. S. 237 und 260; Brennsohn 1905: 126.

176 Schütz, Hermann (Hrsg.) 1874. Q. Horatius Flaccus. Oden und Epoden. Berlin: Weidemann-sche Buchhandlung. S. 126.

61

(hier in der Übersetzung von Johann Heinrich Voss aus dem 18. Jahrhundert):

Ruhe fleht von Himmlischen, wen der Sturmwind Faßt im Raum der ägäischen Flut, wann Luna Nachtgewölk einhüllt und dem Segler nirgends Blinket ein Leitstern.177

Sie musste dafür aber nicht unbedingt auf eine lateinische Vorlage zurück-greifen. Horaz war im 17. Jahrhundert eines der wichtigsten Vorbilder der deut-schen Dichter, seine Oden waren in deutscher Übersetzung erhältlich.178 Welche deutschsprachige Literatur sie rezipiert haben mag, verraten die folgenden Zeilen:

Er blinckt mit güldnen Strahlen, Der Stern von Mitternacht, Wie Phebus pflegt zu mahlen Der Wolcken blaue Tracht, Wie Luna wann die Flammen, In ihr sind rund beysammen, Das Firmament belacht.179

Sie sind von Martin Opitz, dem Reformer der deutschen Lyrik, aus seinem Ge-legenheitsgedicht Auff den Hochwohlgebornen, Herrn Sigismunden Freiherrn von Güldenstern, auf Fogelvick unnd Lündelholm, Und Fräulein Anna, gebohr-ner Freyhinn von Cema Beylager.

Dieses Gedicht von Opitz ist auch in anderer Hinsicht interessant, da seine (schwedischen) Adressaten Verwandten einer livländischen Frau der Feder zu sein scheinen, die wie Gertrud Paffrath und Gertrud Cahlen im 17. Jahrhundert in Riga ihre Schriften veröffentlicht hat: Catharina von Gyldenstern.180 1677

177 Voß, Johann Heinrich 1873. Des Quintus Horatius Flaccus Werke. Leipzig: Reclam. S. 36.

178 Eine in der Universitätsbibliothek Tartu befindliche, 1656 in Dresden erschienene Ausgabe der von Johannes Bohemus herausgegebenen Odensammlung des Horaz übersetzt die obenzitierte Stelle wie folgt:

Ein Schiffer auff der See/ mit Sturm und Fluth umbfangen/

Helt bey den Göttern an umb Ruhe mit verlangen:

Wann nun deß Mondes Liecht mit Finsterniß bedeckt/

Zugleich auch bey der Beer im Wolcken liegt versteckt.

Vgl. Bohemus, Joh. (Hrsg.) 1656. Des Hochberühmten Lateinischen Pöetens Q. HORATII FLACCI Vier Bücher Odarum/ oder Gesänge in Teutsche Poesi übersetzet/ Mit Churfürstlicher Sächsischer Freyheit/ nicht nachzudrucken. Dreßden/ In Verlegung Andreas Löfflers/ Drucks Melchior Bergen. Hviii (Anders Buch sechzehende Ode).

179 Vgl. http://gedichte.xbib.de/Opitz_gedicht_07.+Auff+der+Hochwolgebornen.htm [04.04.2011], Str. 4.

180 Zusätzlich zu den im Vorwort erwähnten Lexikonartikeln zu ihrer Person s. Taimiņa, Aija 2011. Karin Gyllenstierna-Meck, a Woman Author of the 17th cent. Vidzeme. In: Dzimums, literārā konvencija un jaunrade. Tēzes = Gender, literary Convention, Creativity. Abstracts.

International conference, Riga, University of Latvia, 29.IX.–01.X.2011. Riga. P. 27; Taimiņa, Aija 2009. 'Rīgas Sv. Jēkaba baznīcā 1774. gadā atrastais stāvus iemūrētajs, versijas und papildinājumi Johana Kristofa Broces komentāriem. [Der 1774 in der Rigaer St. Jakobi Kirche

62

ließ sie in Riga bei Georg Wilcken ein 752 Seiten umfassendes Andachtsbuch Geistliches HeilPflaster/ Und Seelen-Artzney/ In allerley Geistlichen Kranck-heiten. Aus Gottes Wort zusammen getragen/ und offt bewähret erfunden:

Anjetzo männiglichen zum seeligen Gebrauch mit getheilet drucken, die sie der schwedischen Königin Hedvig Eleonora (1636–1715) widmete. Da sie aber als geistliche Schriftstellerin hervorgetreten ist und mir keine Gelegenheitsgedichte von ihr bekannt sind, gehe ich hier auf ihre Person nicht näher ein. Statt dessen richte ich den Blick weiter südwärts – nach Kurland, denn aus Riga oder Liv-land sind mir aus dem 17. Jahrhundert keine weiteren Gelegenheitsdichterinnen bekannt.