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4. DISKUSSION DES HEIMATBEGRIFFS

4.3. Heimat vor dem Hintergrund der Globalisierung

4.3.3. Socioscape

Dient das Konzept Robertsons der glocality zum Verständnis der Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Phänomenen, geben andere Konzepte innerhalb der

178 Zu den homogenizers zählt Robertson z.B. Anthony Giddens, zu den heterogenizers beispielsweise Homi K.

Bhahba, Edward Said und Stuart Hall ( Featherstone / Lash 1995: S. 4).

179 Siehe für eine Kritik an Robertson unter diesem Gesichtspunkt Friedman 1995: S. 70ff. Für Friedman ist gerade das Entstehen von Abhängigkeiten und Institutionen interessant; er unterscheidet daher zwischen einem Globalsystem, das die Vorbedingung für Globalisierung bildet, und dem Globalisierungsprozess selber. Auf diesen Punkt wird weiter unten im Zusammenhang von Identitätsbildung näher eingegangen. Siehe zur Be-sprechung der Institutionalisierung in Robertsons Konzept: Featherstone / Lash 1995: S. 4f.

debatte Aufschluss über die Formen des soziokulturellen Zusammenlebens in einem lokalen Raum. Mehrere Theoretiker nehmen bei der Diskussion Bezug auf ein Modell von Appadurai, der unter Verwendung des Suffixes -scape die Veränderbarkeit von Kultur unter globalen Einflüssen beschreibt.180

Appadurai hat bereits in den achtziger Jahren auf die Bedeutung von Raum in der Theoriebildung innerhalb der Ethnologie und Geschichtswissenschaft hingewiesen.181 Der geographische Raum wurde in der Analyse kultureller und historischer Phänomene lange Zeit vernachlässigt. Appadurai beobachtet die Tendenz, dass bestimmte Räume innerhalb der Forschung für immer gleiche Themen bevorzugt werden.182 Um diese Einseitigkeit zu vermeiden, fordert er die stärkere Beachtung des geographischen Raumes in der ethnologischen Forschung; dabei stellte den Begriff der locality in den Mittelpunkt seiner Theorie.

Appadurai beachtet in seiner Theorie vor allem ökonomische globale Phänomene. Er spricht von einer globalen kulturellen Ökonomie, die durch Kultur, Wirtschaft und Politik geprägt wird. Das Charakteristische dieses kulturellen Wirtschaftssystems ist seine Komplexität, die sich daraus ergibt, dass die Bereiche von Ökonomie, Kultur und Politik nicht miteinander in Einklang funktionieren; sie „überlappen“ sich zwar, sind aber von Ort zu Ort unterschiedlich ausgeprägt.183 Das Konzept der landscapes entwickelt Appadurai vor dem Hintergrund dieses komplexen Zusammenspiels von Ökonomie, Kultur und Politik. Er berücksichtigt einzelne Personen, Familien, Dörfer, Nachbarschaften bis hin zu Nationalstaaten als Handelnde innerhalb des globalen kulturellen Wirtschaftssystem; um die verschiedenen gesellschaft-lichen Bereiche, in denen sich diese Akteure bewegen können, zu beschreiben, unterscheidet Appadurai zwischen fünf kulturellen Bereichen: den ethno-, media-, techno-, finan- und ideoscapes.184

Einzelne Menschen oder Gruppen von Personen werden im Rahmen dieses Modells in den ethnoscapes erfasst, wobei diese Migranten (Touristen, Einwanderer, Flüchtlinge, Exilanten u.a.) einschließen. Da das Modell den Schwerpunkt auf ökonomische Phänomene legt, werden vor allem die verschiedenen Formen von Technologie, die zur Produktion und Verbreitung von Gütern und Informationen dienen, und die damit verbundenen wirtschaftlichen Institutionen berücksichtigt, als techno- bzw. finanscapes. Die darauf beruhende Verbreitung von Informationen und das Produzieren entsprechender Vorstellungen über die Welt werden durch mediascapes beschrieben; in ideoscapes werden diese

„Weltbilder“ besonders von Staaten als Ideologien genutzt.

Dieses Modell Appadurais ist für eine Diskussion des Heimatbegriffes aus zwei Gründen hilfreich. Zum ersten macht es auf die Komplexität und Internationalität ökonomischer, politischer und kultureller Phänomene im Zeitalter der Globalisierung aufmerksam, die auch für den Heimatbegriff relevant sind. Deutlicher wird dieser Bezug durch die Begriffe

180 Siehe zum Konzept der landscapes Appadurai 1990. Siehe zur Kritik an Appadurai: Albrow 1997: S. 38f.;

Albrow u.a. 1990: S. 28f.; Friedmann 1995: S. 84f.; Robertson 1991: S. 78f.

181 Appadurai 1986.

182 So nennt er als Beispiele u.a. Afrika, wo hauptsächlich soziale Phänomene wie Lineage untersucht werden, Südamerika, das als Ausgangspunkt für Diskurse über duale Gesellschaften dient, und Australien als Beispiel für die Spannung zwischen struktureller Einfachheit und klassifikatorischer Komplexität (Appadurai 1986: S.

357f.).

183 Appadurai stellt fest, dass „certain fundamental disjunctures between economy, culture and politics“ bisher kaum in Theorien berücksichtigt wurden (Appadurai 1990: S. 296).

184 Siehe für eine nähere Beschreibung dieser landscapes Appadurai 1990: S. 297-300, für Beispiele von deren Zusammenspiel S. 305.

socioscape und sociosphere, die weiter unten beschrieben werden und auf diesem Modell beruhen.

Zweitens kann man die Bedeutung von Museen für lokale Kulturen neu betrachten, wenn man sie als eine Institution innerhalb von mediascapes interpretiert. Museen verbreiten durch Ausstellungen und andere Aktivitäten bestimmte Vorstellungen über einen lokalen Raum, indem sie beispielsweise einzelne Perioden der Geschichte oder gesellschaftliche Themen betonen.

Dieses Konzept Appadurais wird von einigen Theoretikern dem (eingrenzenden) Konzept einer Kultur vorgezogen; der Vorteil der Einteilung in landscapes ist die Möglichkeit, die globalen Bewegungen von Menschen, Geld, Technologien, Repräsentationen und politischen Identitäten genauer betrachten zu können.185

Das Konzept der ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, finanscapes und ideoscapes, in die Appadurai die Gesellschaft einteilt, wird von Albrow aufgenommen und weiterverfolgt.186 Der Vorteil des Ansatzes von Appadurai ist laut Albrow, dass landscapes auch die Perspektive der Kulturschaffenden mit einbeziehen. Albrow hält allerdings das Konzept der community oder neighbourhood, das Appadurai außerdem gelten lässt, für eine Beschreibung von Gesellschaften unter Bedingungen der Globalisierung für unzureichend. Nach Appadurai existieren neben den ethnoscapes und anderen Formationen auch Gemeinschaften, die relativ stabil bleiben und von den verschiedenen landscapes durchdrungen und beeinflusst werden.

Solche stabilen Gemeinschaften oder Nachbarschaften beobachtet Albrow dagegen nicht, sondern entwickelt stattdessen, in Anlehnung an Appadurais Begriffe, das Konzept des socioscape. Dies bezeichnet keine feste Gemeinschaft, sondern eine theoretische Vorstellung von einer sozialen Gemeinschaft, zu der er nicht nur die Menschen zählt, die diesen socioscape zur gleichen Zeit bewohnen, sondern auch Menschen, die sich außerhalb des socioscape befinden.187 Ein socioscape bezeichnet also den soziokulturellen Lebensraum an einem bestimmten geographischen Ort. Diesen Lebensraum beschreibt Albrow wie eine Landschaft, die aus verschiedenen Einzelteilen besteht und je nach Perspektive einzelner Menschen verschieden wahrgenommen wird; die Prinzipien, nach denen diese Landschaft zusammengesetzt sind, sind dabei den Menschen nicht bewusst.188

Ein geographischer Raum zeichnet sich nicht dadurch aus, dass seine Kultur durch eine feste Anzahl von Menschen, nämlich dessen dauerhafte Bewohner geprägt wird; vielmehr bewohnen diejenigen, die die locality prägen, entweder dauerhaft oder auch nur zeitweise oder sogar überhaupt nicht diesen Raum. Das Konzept des socioscape orientiert sich also nicht nur an einer geographischen, sondern auch einer zeitlichen Größe: entscheidend ist, welche Menschen in einem bestimmten Zeitraum die Kultur eines Raumes prägen; ob diese Menschen dauerhaft dort leben, nur zeitweise in diesem Raum wohnen oder ihren Lebensmittelpunkt womöglich an einem anderen Ort sehen und dabei durch Besuche oder lediglich durch Kommunikation mit den Einwohnern „von außen“ in Verbindung stehen, ist dabei zweitrangig.

185 Siehe zu dieser Einschätzung Friedman 1995: S.84. Auf Friedmans Kritik am Kulturkonzept wird an anderer Stelle ausführlicher eingegangen.

186 Albrow 1997.

187 Ein socioscape ist “[t]he vision of social formations which are more than the people who occupy them at any one time” ( Albrow 1997: S.38 ). Zur Kritik am Konzept der community, die sich unter Einfluss der Globalisie-rung zu einer nicht lokal oder räumlichen Einheit wandelt, siehe Albrow u.a. 1997: S. 24f.

188 Siehe zu diesem Bild der Landschaft auch Albrow 1996: S. 157f.

Albrow erweitert das Konzept durch den Begriff sociosphere, worunter er das soziale Leben einzelner oder mehrerer Menschen versteht.189 Eine sociosphere umfasst soziale Aktivitäten und Netzwerke von sozialen Beziehungen; dabei ist es nicht wichtig, an welchem geo-graphischen Ort diese Aktivitäten stattfinden.190 Eine sociosphere bezeichnet alle sozial relevanten sozialen Aktivitäten einzelner Menschen oder Gruppen, wie Familien, Freund-schaftskreise oder anderer Gemeinschaften; im Gegensatz zu einem socioscape ist also eine sociosphere nicht an einen bestimmten geographischen Ort gebunden.

Das „Überlappen“, die Schnittmenge von sociospheres an einem bestimmten Ort bildet dann einen socioscape. Wichtig ist dabei nur, dass es zu einem temporären Zusammenleben an einem Ort kommt, das durch Toleranz und verschieden starke gegenseitige Beeinflussung der Lebensweisen geprägt ist. Ein socioscape zeichnet sich nach der Beobachtung Albrows vor allem durch Routine und pragmatische gegenseitige Anpassungen aus. 191

Albrow trennt also analytisch zwischen einem lokalen Kulturraum (locality) und dem sozialen Leben (sociosphere) einzelner Menschen oder Gruppen bzw. dem gemeinsamen sozialen Lebensraum (socioscape) mehrerer Gruppen oder Gemeinschaften. Dadurch macht er deutlich, dass Kultur auf lokaler Ebene nicht nur durch eine feste Gemeinschaft von Einwohnern geprägt wird. Ein kultureller Raum zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass er als Ort für bestimmte gemeinsame soziokulturelle Aktivitäten genutzt wird, die je nach sozialer Aktivität der Beteiligten sehr unterschiedlich ausfallen können. Dabei können Menschen oder Gruppen durch ihre Aktivitäten mehrere Kulturräume gleichzeitig beeinflussen, je nach (geographischer) Verbreitung ihres Soziallebens. Dieses Phänomen ist ein Kennzeichen der Globalisierung: das soziale Leben ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden. Das Konzept von Albrow berücksichtigt die Auswirkungen der Globalisierung auf localities, indem es zwischen den gesamten sozialen Aktivitäten von Menschen und deren Sozialleben an einem bestimmten Ort unterscheidet und so deutlich macht, dass lokale Kultur nicht immer nur durch die jeweiligen Einwohner geprägt wird bzw. dass einzelne Menschen mehrere Kulturräume beeinflussen können.