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3. ZUR GESCHICHTE DER HEIMATMUSEEN

3.7. Alltagskultur

Zwei Begriffe haben die Diskussion um die Ausrichtung dieses Museumstyps besonders beeinflusst. Alltag oder Alltagskultur wurde und wird als Konzept nicht nur für lokalhistorische, sondern für alle historischen Museen diskutiert. Der Begriff der Lebenswelt dagegen spielt nur im Kontext stadt- und heimatgeschichtlicher Ausstellungen eine Rolle.

Alltag wird seit den siebziger Jahren innerhalb der Geschichtswissenschaft als historisches Phänomen diskutiert. Alltagsgeschichte spielt in der Forschung zu Mikrohistorie und Sozialgeschichte sowie in den Studien der Geschichtswerkstätten eine Rolle.

Eine Forderung der späten achtziger Jahre beispielsweise lautete, man solle die Erforschung der Alltagsgeschichte mit der der Strukturgeschichte kombinieren, um so der Gefahr einer Trivialisierung des Forschungsgegenstandes zu begegnen. Insgesamt solle es in der

108 Wiese 1999: S. 96.

109 Siehe für eine Zusammenfassung des Colloquiums „Stadtgeschichte und Entwicklung des neuen Berlin – Stand und Funktion der Stadtgeschichtsforschung“ Grzywatz 1990.

110 Siehe dazu die Dokumentation dieser Tagung, herausgegeben von der Fachgruppe Stadt- und Heimatgeschichtliche Museen im Deutschen Museumsbund 2001.

111 Steen 2001; siehe zur Diskussion des Heimatbegriffs vor allem Auer / Steen 2001 sowie die Dokumentation der anschließenden Diskussion.

Alltagsgeschichte um die Rekonstruktion von Deutungs-, Wahrnehmungs- und Orientierungsweisen in ihrem jeweiligen historischen und sozialen Kontext gehen.112

Diese neue Sichtweise auf Alltagsgeschichte entstand teilweise auch unter Einfluss analytischer Methoden der Ethnologie. Die Erforschung des Alltags soll sich auf die

„Innenseite“ gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse beziehen und dabei Alltag als kulturell geprägten Handlungs- und Interpretationszusammenhang verstehen.113

Insgesamt bedeutete das neue Forschungsinteresse an Alltags- und Erfahrungsgeschichte, dass neue Schwerpunkte gesetzt wurden: so interessierte man sich stärker für die Geschichte einzelner Menschen, definierte das Verhältnis zwischen Ereignis und Struktur sowie zwischen Macht und Politik neu und wendete sich von festgefügten Erklärungshierarchien ab.114

Zu Beginn der neunziger Jahre ergab sich so das Bild einer Geschichtswissenschaft, die ein starkes Interesse an der kulturellen Dimension von Geschichte hat. Die Perspektive richtet sich jetzt nicht mehr nur auf die Erforschung der Alltagsgeschichte, sondern auch auf allgemeinere Fragestellungen, um die Erforschung lokaler Geschichte in den Zusammenhang größerer politischer und wirtschaftlicher Prozesse zu stellen.115

Die Alltagsgeschichtsforschung beeinflusste die Diskussionen um neue Ausstellungskonzepte in den achtziger Jahren. Festgestellt wurde damals, dass sich nicht viele Ausstellungen dem Thema ortsspezifischer Alltagskultur widmen, was u.a. auf die Sammlungspraxis zurück geführt wurde, die sich zu selten auf industrielle und städtische Kultur konzentrierte. So lieferten die Heimatmuseen Westberlins nach Einschätzung eines Autors damals kein geschlossenes Gesamtbild der Stadt. Vor allem der Bereich „Wohnen“ wurde in den Ausstellungen nicht thematisiert; vor dem Hintergrund der schlechten Überlieferungslage bei Objekten aus der Alltagskultur und der Geldknappheit der Museen lautete daher ein Vorschlag, Originalschauplätze in die Ausstellungsprojekte mit einzubeziehen.116

In den neunziger Jahren begann man sich in Bezug auf Museumsarbeit differenzierter mit der Alltagsgeschichtsforschung auseinander zu setzen. So bezog man die Diskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaft teilweise auch auf die Konzeptionen historischer Museen. Dabei sollte allerdings nicht die Alltagsgeschichte allein, sondern Erkenntnisse der Sozialgeschichte insgesamt der Ausgangspunkt für die Museumsarbeit sein, deren Aufgabe es sei, zwischen den Quellen bzw. Objekten und der sozialgeschichtlichen Forschung zu vermitteln.117

Der Alltagsbegriff erwies sich als alleiniges Konzept für lokalhistorische Museen als problematisch; der historische Alltag wurde wissenschaftlich nur teilweise aufgearbeitet, so

112 Fülberth 1988. Die Methodik der „neuen“ Alltagsgeschichte solle sich an der Methodik der Mikrohistorie orientieren: historische Details sollen rekonstruktiv vernetzt werden, um so Zusammenhänge und Brüche zwischen Denkbildern und Deutungsweisen aus der Geschichte zu zeigen. Siehe dazu Lüdtke 1989.

113 Dieser historische Ansatz zielt vor allem auf die Erforschung schichten- und klassenspezifischer historischer Lebensweisen, die innerhalb der Ethnologie nicht immer eine zentrale Rolle spielt; der wichtigste Einfluss der Ethnologie auf die Geschichtswissenschaft ist hier der „genaue Blick“, der die Logik des (alltäglichen) Lebens zeigen soll. Siehe dazu Medick 1989. Auf den Einfluss der Ethnologie und Sozialanthropologie, vor allem deren Verständnis von Kultur, auf neue analytische Schwerpunkte innerhalb der Alltagsgeschichtsforschung weist auch Hardtwig hin (1994: S. 20).

114 Siehe für eine Besprechung dieser Punkte Hardtwig 1994: S. 21-24.

115 Siehe hierzu Kocka 1994.

116 Lauterbach 1985: S. 267.

117 Foerster 1993a.

dass als Quelle oft nur die Objekte selbst zur Verfügung stehen, die ohne ausreichende Dokumentation keine große Aussagekraft besitzen.

Der Alltagsbegriff wurde nicht nur für lokal- oder regionalhistorische Museen diskutiert; auch größere Museen wie das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn beziehen die Alltagsgeschichte ausdrücklich in ihre Konzeption mit ein. Dabei definiert man Alltag, um einer Unschärfe oder Ungenauigkeit des Begriffes zu entgehen, als eine Beschreibung der Verwobenheit von Mikro- und Makroebene.118 Es geht bei dieser Konzeption also nicht um die Darstellung verschiedener gesellschaftlicher Schichten und deren Alltag, sondern darum, allgemeine politische und historische Entwicklungen im täglichen Leben zu zeigen.

Die Präsentation von Alltagsleben war in den letzten Jahrzehnten nicht nur ein Thema bei Museen in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern. Im Englischen als heritage museums bezeichnet, zeigen seit den achtziger Jahren immer mehr europäische Museen die Geschichte „einfacher Leute“ auf lokalem Gebiet. Diese Museen haben unter anderem dazu beigetragen, dass Diskussionen über Themen wie lokale Identitäten, Zugehörigkeit und lokale Gemeinschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt geführt wurden.119

Mit der Diskussion um die Alltagsgeschichte und ihre Darstellung im Museum hängt eine andere Diskussion zusammen, die sich auf Arbeiterkultur, ihre Erforschung und ihre museale Präsentation konzentriert.120 Der Begriff Arbeiterkultur wird unterschiedlich betrachtet, abhängig vom Museumstyp und vom politischen Hintergrund. Auch in der Geschichte der musealen Präsentation wurde Arbeiterkultur verschieden definiert und entsprechend präsentiert.121

Aufgrund der inhaltlichen Breite des Begriffs Arbeiterkultur wurde zunächst die Notwendigkeit einer ausführlichen Erforschung dieser Kulturgeschichte festgestellt. Die vielfältigen Inhalte des Begriffes Arbeiterkultur sprechen dafür, sie insbesondere in regionalen und lokalen Museen auszustellen, da es um unterschiedliche Ausprägungen von Kulturen des Arbeitsplatzes, des Wohnbereichs und der Arbeiterbewegung geht.122

Eine andere These innerhalb dieser Diskussion lautet, dass der Begriff Arbeiterkultur historisiert werden müsse, da es in den musealen Darstellungen dieses Themas vor allem um die Zeit zwischen 1890 und 1933 ginge. Um der Gefahr einer statischen Präsentation zu entgehen, wird der Vorschlag gemacht, den Begriff Arbeiterkultur durch Arbeitswelt bzw.

Arbeitswelten zu ersetzen.123 Dieser Begriff wird weniger mit einer bestimmten Epoche verbunden und eignet sich daher besser zur Darstellung von Veränderungen im Arbeitsleben, insbesondere solche, die durch die Industrialisierung herbeigeführt wurden. Egal, welcher Begriff bevorzugt wird und in welchen historischen Epochen und gesellschaftlichen

118 Siehe zur Konzeption des Hauses der Geschichte Schäfer 1993, zum Alltagsbegriff insbes. S.48-50.

119 Dicks 2000: S. 61f.

120 Siehe zum Zusammenhang Arbeiterkultur und Alltagsgeschichte Mühlberg 1990: S. 127 sowie Wirtz 1990:

S. 127. Eine Zusammenfassung einer internationalen Fachtagung in Berlin 1990, die sich mit diesem Thema beschäftigte, liefert Gröschel (1990). Siehe zur Forschung über Arbeiterkultur auch Ansorg 1990: S. 56f.

121 Einen Überblick über diese Geschichte gibt Mühlberg (1990: S. 11ff.), der ausführlich auf die Arbeiterkultur- bzw. Arbeiterbewegungskulturforschung in der DDR und ihre Darstellung in Museen eingeht. Auf eine beson-dere Schwierigkeit bei der Darstellung von Arbeiterkultur weist Böhm (1990) hin: da Arbeiter ihre Gegenstände meist so nutzen, dass sie nach dem Gebrauch nicht aufbewahrt werden, sei es schwierig, Objekte der Arbeiter-kultur zu sammeln.

122 Faulenbach 1990: S. 36.

123 Wirtz 1990: S. 128f.

Bereichen Arbeiterkultur angesiedelt wird, festzuhalten bleibt, dass die museale Präsentation mit Hilfe dieses Themas zur Entwicklung regionaler und lokaler Identitäten beitragen kann.124 Bei Überlegungen zur Darstellung von Alltagsleben im Museum wurde auch deutlich, dass der Anspruch, den gesamten Alltag darzustellen, sehr groß ist, da z.B. auch menschliche Gefühle den Alltag mitprägen, die aber nicht ausgestellt werden können.125 Andere Autoren verbinden mit dem Begriff Alltagskultur eine schlechte Alternative zu einer Ausstellung mit Exponaten, die historischen oder materiellen Wert besitzen. Da Regionalmuseen solche bedeutenden Werke nicht besitzen, müssten sie sich, so das Argument, mit der Präsentation von Alltagsgegenständen begnügen.126 Insgesamt ist der Begriff Alltagskultur bei Museumswissenschaftlern jedoch positiv besetzt und spielt bei der Konzeption von Heimatmuseen eine große Rolle.