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4 Quantifizierung gesamtwirtschaftlicher Effekte mit Hilfe der IO-Rechnung

4.2 Satellitensysteme

Satellitensysteme, auch Satellitenkonto genannt, sind Analyseinstrumente der Makroökonomie und empirischen Wirtschaftsforschung, die auf Input-Output-Tabellen basieren jedoch den Fokus auf bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten setzen und deren Wirkungsweisen detailliert abbilden. Dabei werden dafür teil-weise gesamtwirtschaftliche Vorgänge anhand hilfreicher und zusammenfassen-der Vereinfachungen erfasst.

IOTs des statistischen Bundesamtes basieren auf den allgemeinen Konzep-ten und festgelegKonzep-ten Definitionen der VGR. In Übereinstimmung mit allgemei-nen wirtschaftstheoretischen und wissenschaftlichen Grundsätzen erreichen die Ergebnisse ein hohes Maß an Transparenz und Vergleichbarkeit mit anderen makroökonomischen und internationalen Statistikwerken.168 Diese festen und standardisierten Vorgaben führen zugleich zu Restriktionen und Einschränkun-gen in der Analyse spezieller FragestellunEinschränkun-gen vor allem im meso- oder mikro-ökonomischen Kontext. So sind beispielsweise detaillierte Analysen bestimmter

166 Vgl. ESVG (1995), 9.03 167 Vgl. ESVG (1995), 9.04

168 Vgl. Henke, K. D., Neumann, K., Schneider, M. (2009), S. 51

Branchen, wie in diesem Fall der Gesundheitswirtschaft, die nicht als eigenstän-dige Produktionsbereiche in der Klassifikation der IOTs abgebildet werden, sondern in verschiedenen Aggregaten enthalten sind, nicht möglich.

In diesen Fällen können die benötigten Informationen durch die Erstellung eines Satellitensystems aufbereitet werden. Hierbei handelt es sich um Modifi-kationen und Erweiterungen der standardisierten IOTs, deren Konzepte und Klassifikation weitestgehend der VGR zugrunde liegen. Dadurch bleibt die Kompatibilität zu standardisierten Rechensystemen erhalten. Somit bleiben die Ergebnisse der VGR weiterhin als Bezugsrahmen bestehen, während spezielle Daten besonders detailliert aufbereitet werden und andere teilweise in aggregier-ter Form Verwendung finden.169

Satellitensysteme unterliegen nicht den strikten Vorgaben der VGR und können individuell entwickelt werden. Das System of National Accounts (SNA) hat dennoch ein Konzept und Empfehlungen zur Erstellung von Satellitenkonten zur VGR herausgegeben.170

Um den benötigten Informationsbedarf zu decken, kann bzw. sollte ein Sa-tellitenkonto die folgenden allgemeinen Kriterien erfüllen:171

• Satellitensysteme sollten bezogen auf die Fragestellung einen höheren Detail-lierungsgrad aufweisen und gleichzeitig um irrelevante Informationen berei-nigt werden.

• Die Konten von Satellitensystemen sind nicht auf rein monetäre Größen be-schränkt. Auch fiktive oder alternative Werte, die nicht in Geldeinheiten messbar sind wie bspw. Umweltverschmutzung, -vermögen oder Arbeits-stunden können eine Erweiterung des Darstellungsgegenstands sein.

• Diese sollten jedoch eindeutig gekennzeichnet und dokumentiert werden.

• Es können bestehende Konzepte erweitert werden. Dies kann zum Beispiel durch die Hinzunahme von F&E-Ausgaben, Investitionen in Bildung, Haus-haltsproduktion und Schwarzarbeit passieren.

• Grundlegende Konzepte sollten allerdings nur dann modifiziert werden, wenn dies für den Verwendungszweck auch wirklich notwendig ist.

• Die Disaggregation der Daten sollte auf die jeweilige Thematik exakt zuge-schnitten werden. Ein zu hohes Informationsspektrum kann das Kernsystem leicht überfrachten.

169 Vgl. ESVG (1995), 1.20. „As its name indicates, it is linked to, but distinct from, the central system. Many satellite accounts are possible but, though each is consistent with the central system, they may not always be consistent with each other.” (SNA 2008 (29,4))

170 Vgl. SNA (1993), Kapitel 29 171 Vgl. Eurostat (2008)

Sebastian Hesse - 978-3-653-02751-8

• Satellitensysteme sollten derart gestaltet werden, dass eine möglichst enge Verknüpfung mit der VGR erhalten bleibt, um Wechselwirkungen des be-trachteten Bereichs mit den übrigen Sektoren der Gesamtwirtschaft aufzeigen zu können.

In Abhängigkeit dieser Kriterien lassen sich Satellitensysteme in zwei Arten un-terteilen:

1. Solche Systeme, die überwiegend auf der zentralen Klassifikation der VGR basieren und diese lediglich neu strukturiert bzw. um hilfreiche In-formationen bezogen auf das Erkenntnisziel ergänzt haben. Es handelt sich somit im Wesentlichen um eine reine Disaggregation relevanter Teil-bereiche der standardisierten Tabellen. 172

2. Satellitensysteme, die sich von den vorgegebenen Definitionen und Kon-zepten lösen und somit von der klassischen Darstellung abweichen. Diese alternativen Konzepte sind nur noch teilweise oder nur unter Zuhilfenah-me von Überleitungsverfahren kompleZuhilfenah-mentär mit den Basistabellen. 173 Verwendung finden diese modifizierten Konzepte beispielsweise bei al-ternativen Abgrenzungen des Vermögensbegriffs, Erfassung neuer Pro-duktionsaktivitäten oder neuen Bewertungsgrundsätzen. Da die Erstellung dieser Satellitenkonten in der Regel komplexer und aufwändiger ist sowie die Transparenz und Vergleichbarkeit beeinflusst, sollte diese Variante nur Verwendung finden, wenn die zu beantwortende Fragestellung eine Abwandlung des Grundkonzepts unumgänglich macht.174 Zudem erfor-dern derartige Systeme eine ausführlichere Dokumentation, um eine transparente Interpretation der Ergebnisse zu ermöglichen.

Ein häufiger und wesentlicher Unterschied von Satellitensystemen gegenüber den standardisierten IOTs ist die Darstellung der Einheiten nach Wirtschaftsreichen bzw. Branchen anstelle institutioneller Sektoren. Sektorenkonten be-schreiben einzelne Phasen des Wirtschaftskreislaufs für Kapitalgesellschaften, Staat, private Haushalte und das Ausland, die die Produktion, Einkommensent-stehung, -verteilung, -umverteilung und Konsum sowie die Änderung des Ver-mögens darstellen.175

In der funktionellen Abgrenzung steht die verfolgte Absicht der einzelnen Wirtschaftseinheiten bei den jeweiligen Transaktionen im Mittelpunkt. Das ent-scheidende Kriterium, ob Ausgaben oder Einnahmen in ein Konto einbezogen

172 Vgl. SNA (2008), 29.5 173 Vgl. SNA (2008), 29.6 174 Vgl. Eurostat (2008), S. 405ff.

175 Vgl. ESVG (1995) und vgl. Henke, K. D., Neumann, K., Schneider, M. (2009), S.55

werden, hängt somit entscheidend vom gesellschaftlichen Aufgabenbereich ab.

Hierdurch kann es zu Überschneidungen von Aggregaten der Gesamtwirtschaft kommen, die jedoch nach Vorgaben der SNA ausdrücklich gestattet sind.176 Bei-spielsweise werden Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen in der Gliederung in institutionelle Sektoren dem Staat zugewiesen, während es sich in der funkti-onellen Gliederung um Konsum privater Haushalte handelt.

In der Literatur werden Satellitensysteme ergänzend zu den Volkswirtschaft-lichen Gesamtrechnungen zumeist für die Beantwortung sozialer Fragestellun-gen empfohlen. Die ausdrückliche Empfehlung für ein Satellitenkonto der Ge-sundheitswirtschaft wird beispielsweise vom SNA und ESVG ausgesprochen.177 Gängige Themenfelder für Satellitensysteme der sozioökonomischen Berichter-stattungen sind vor allem Gesundheit, Bildung, Humankapital, unbezahlte Ar-beit, Haushaltsproduktion und Lebenslagen der Bevölkerung sowie Infrastruk-tur, vgl. Abbildung 14.178

Quelle: Schwarz, 2005 Abbildung 14: Mögliche Themenfelder für Satellitensysteme

Darüber hinaus werden Satellitensysteme für Analysen der folgenden The-mengebiete diskutiert:179

• Volkswirtschaftliche Bedeutung von Innovationen, Forschung und Entwick-lung

176 Vgl. SNA (1993) und vgl. Henke, K. D., Neumann, K., Schneider, M. (2009), S.55 177 Vgl. ESVG (1995) und vgl. SNA (1993), Kapitel 29

178 Vgl. Schwarz, N. (2005) 179 Vgl. ESVG (1995), 1.18

Sebastian Hesse - 978-3-653-02751-8

• Beziehungen zwischen Umwelt und Wirtschaft

• Veränderung des gesellschaftlichen Wohlstands

• Volkswirtschaftliche Bedeutung von Tourismus

• Unterschiede zwischen den Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nungen und den Daten der betrieblichen Buchführung sowie ihren Auswir-kungen auf Aktien- und Devisenmärkte

• Ermittlung des Steueraufkommens

• Untersuchung von Einkommen und Ausgaben der privaten Haushalte anhand von mikroökonomischen Einkommens- und Ausgabenkonzepten

Bereits entwickelt wurden die Umweltökonomische Gesamtrechnung, ein Haus-haltssatellitensystem, die Sozioökonomische Gesamtrechnung und Social Ac-counting Matrix, die Satellitensysteme Sport und Tourismus sowie das in dieser Arbeit verwendete Satellitensystem der Gesundheitswirtschaft. 180

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Satellitensysteme den Vorteil besit-zen, ausgewählte Daten mit einem sehr viel höheren Detailierungsgrad als in den standardisierten Rechenwerken der VGR abbilden zu können. Dabei werden ge-gebenenfalls überflüssige Angaben weggelassen bzw. lediglich in aggregierter Form mitgeführt ohne den Bezug zum konsistenten System der VGR zu verlie-ren. Im Einzelnen bestehen die Vorteile vor allem darin, dass:

• Strom- und Bestandsgrößen, die nur schwer in monetären Kategorien erfass-bar sind und deshalb nicht im Standardsystem der VGR berücksichtigt wer-den, sich statistisch integrieren lassen.

• Derartige nicht-monetäre Größen lassen sich durch Klassifikation in Haus-haltsgruppen und Wirtschaftszweige mit den VGR-Daten verbinden.

• Neue Bewertungsmethoden können anhand von Satellitensystemen erprobt werden, ohne die herkömmliche Darstellung des Kernsystems zu tangieren.

• Eine flexiblere Ausgestaltung im Hinblick auf nationale Informationsbedürf-nisse ist möglich.

• Aufgrund von detaillierteren Datengrundlagen können bestimmte Branchen und Wirtschaftszweige tiefergehend analysiert werden.

• Vorgänge außerhalb des Marktgeschehens lassen sich abbilden und somit auch soziale, funktionale und branchenübergreifende Fragestellungen beant-worten.

Aufgrund der Lockerung strikter Vorgaben sinkt hingegen die Transparenz und Vergleichbarkeit mit anderen nationalen und vor allem internationalen

180 Folgende Literaturquellen halten vertiefende Informationen zu den genannten Satelliten-systemen bereit: Brümmerhoff, D. (2007), 283ff.; Henke et al. (2009), S. 57ff.; Schwarz (2005); Ahlert (2003); Destatis (2011e)

ken. Zudem bewirkt das standardisierte System der VGR eine größere Kohärenz zwischen den Kontensequenzen und dem effektiven Wirtschaftsgeschehen in seiner Gesamtheit.

Für die Fragestellung dieser Arbeit, welchen gesamtwirtschaftlichen Ein-fluss die Gesundheitswirtschaft in den Jahren der Finanz- und Wirtschaftskrise besaß, ist die Verwendung eines Satellitensystems unverzichtbar, da die Ge-sundheitsbranchen nicht in der standardisierten Systematik der IOTs als eigen-ständige Branchen abgebildet werden. Die Vorstellung eines Satellitensystems für die Gesundheitswirtschaft erfolgt in Kapitel 5. Zuvor wird im anschließen-den Kapitel ein Analysemodell zur Quantifizierung von Ausstrahleffekten her-geleitet, welches auf den IOTs bzw. Satellitensystemen aufsetzt.