• Keine Ergebnisse gefunden

Gesundheitswirtschaft ein automatischer Stabilisator

3 Übertragung der Stabilitätskriterien auf die Gesundheitswirtschaft

3.2 Die Gesundheitswirtschaft als Stabilisator

3.2.1 Gesundheitswirtschaft ein automatischer Stabilisator

Die Finanzierung gesundheitsrelevanter Nachfrage wird zu großen Teilen durch das deutsche Gesundheitssystem reguliert, bestehend aus den gesetzlichen und privaten Krankenkassen inklusive des Gesundheitsfonds. Diese Einrichtungen bilden eine Art systemimmanenten Puffer, der die Versicherungsbeiträge zu-nächst speichert und bei Bedarf freigibt. Diese Regulierung der gesundheitsbe-zogenen Zahlungsströme glättet den Verlauf der anfallenden Gesundheitskosten und stabilisiert das verfügbare Einkommen. Die Einnahmen in Form von Bei-tragszahlungen der Versicherten variieren in Abhängigkeit von den Bruttoein-künften132 und weisen somit eine gewisse Konjunkturabhängigkeit auf, die der Definition einer built-in-flexibility entsprechen.133 Im Boom steigen die Löhne mit der Wirtschaftsleistung stärker an und somit auch die Höhe der Beitragszah-lungen der gesetzlich Versicherten, mit der Folge, dass ein Anstieg des verfüg-baren Einkommens tendenziell gedämpft wird. Umgekehrt schwächt sich der Anstieg der Beitragszahlungen in Zeiten der Rezession ab, was dazu führt, dass die Entwicklung des verfügbaren Einkommens in umgekehrter Weise gedämpft wird. Das verfügbare Einkommen sowie die private Konsumnachfrage werden über den gesamten Konjunkturzyklus geglättet.

Zur Beurteilung der Korrelation zwischen Konjunkturverlauf und automati-schem Stabilisator, in diesem Fall die Einnahmen der gesetzlichen Krankenver-sicherungen, eignet sich die Verwendung der Aufkommenselastizität und der Steuerelastizität.134

Tabelle 8 stellt die Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen der Entwick-lung des BIP in den Jahren 2000 bis 2010 gegenüber. Die negative Aufkom-menselastizität für das Jahr 2009 weicht auffällig von den restlichen Ergebnissen

132 Diese Aussage trifft lediglich auf die gesetzlichen Krankenversicherungen zu. Die Bei-tragssätze privater Krankenkassen basieren auf einkommensunabhängigen Versiche-rungsprämien.

133 Vgl. Kapitel 2.2.1 134 Vgl. Kapitel 2.2.2

Sebastian Hesse - 978-3-653-02751-8

ab. Diese Entwicklung ist auf die Festlegung des erhöhten Beitragssatzes der Krankenversicherung auf 15,5% zurückzuführen, der trotz rückläufiger Wirt-schaftsentwicklung zu steigenden Einnahmen führte. Für die Jahre 2000 bis 2008 beträgt der Mittelwert der Aufkommenselastizität 1,14 und ist ein Indiz für eine wünschenswerte überproportionale Konjunkturabhängigkeit. Allerdings unterliegen die Elastizitäten einer relativ starken Streuung (Varianz 0,35), so dass der Aussagewert zunächst vorsichtig beurteilt werden sollte. Hinzu kommt, dass erst seit 2009 der allgemeine Beitragssatz aller Krankenkassen von 15,5%

gesetzlich vorgeschrieben ist. Bis dato konnten die Krankenkassen die Beiträge an ihren individuellen Finanzbedarf anpassen.

Tabelle 8: Aufkommenselastizität der GKV Einnahmen

Jahr

Datenquellen: Destatis, GBE-Bund, Kassenärztliche Bundesvereinigung; eigene Berechnung

Die Messung des absoluten Einflusses der GKV-Einnahmen am BIP anhand der Steuerflexibilität ergibt einen relativ konstanten Durchschnittswert von 6,6%. Im Vergleich dazu liegt die Steuerflexibilität der Einkommensteuer im

Durchschnitt bei 7,1%, vgl. Tabelle 9. 135 Es kann insofern von einem der Höhe nach ausreichenden Einfluss ausgegangen werden.

Tabelle 9: Steuerflexibilität von GKV-Einnahmen und Einkommenssteuer

Jahr Einnahmen GKV Einkommenssteuer BIP (in Mio.€) Datenquellen: Destatis, BMF, Kassenärztliche Bundesvereinigung; eigene Berechnung

Der wesentliche Unterschied zum klassischen Ansatz automatischer Stabi-lisatoren, vor allem nach dem Grundkonzept des built-in-stabilizer, besteht auf der Ausgabenseite der Krankenversicherungen. Abgesehen vom Krankengeld, fließen die Ausgaben der Krankenversicherungen nicht unmittelbar zurück an ihre Beitragszahler, sondern decken lediglich die im Krankheitsfall entstandenen Kosten. Dementsprechend erfolgt zunächst auch keine direkte Stabilisierung des verfügbaren Einkommens Aufgrund einer antizyklischen Ausgabenpolitik.

Die gesundheitsbezogene Güternachfrage besitzt dennoch einige besondere Eigenschaften, die generell für eine stabilisierende Wirkung sprechen. Die Nachfrage ist zu großen Teilen über das Krankenkassensystem finanziert und

135 Die Einkommenssteuer ergibt sich aus der Summe von Lohnsteuer, veranl. Steuern von Erträgen und nicht veranl. Steuern v. Erträgen. vgl. Bundesministerium der Finanzen (2012)

Sebastian Hesse - 978-3-653-02751-8

nimmt eine vorrangige Position in der Priorität gegenüber anderen Gütern ein.

Aus haushaltstheoretischer Sicht gehören Gesundheitsgüter der Gruppe superio-rer Güter an, deren Nachfrage sich unabhängig vom verfügbaren Einkommen entwickelt und vielmehr vom Bedarfsfall abhängt bzw. im Krankheitsfall statt-findet.136 Die aggregierte Gesamtnachfrage nach Waren und Dienstleistungen der Gesundheitswirtschaft entwickelt sich daher über den kompletten Konjunk-turzyklus konstant, unter der Annahme dass sich der gesamtgesellschaftliche Krankenverlauf annähernd gleich entwickelt. Diese kontinuierliche Nachfrage hat eine glättende Wirkung auf die Wirtschaftsentwicklung und wirkt dement-sprechend stabilisierend.

Allerdings führt diese gesundheitsinduzierte Nachfragesteigerung naturge-mäß zu einer relativ einseitigen, punktuell wirkenden Impulsgebung, von der hauptsächlich die Gesundheitswirtschaft profitiert. Eine allgemein gesteigerte private Konsumnachfrage in gleicher Höhe würde auf eine breitere Zahl von Branchen der Gesamtwirtschaft wirken. Nichtsdestotrotz ist der gesundheitsre-levanten Nachfrage eine sehr effektive Wirkung zuzuordnen, da ihre Ausrich-tung fast ausschließlich das Inland und dort einen sehr beschäftigungsintensiven Sektor betrifft.

Es bleibt dennoch fraglich, ob die Gesundheitswirtschaft tatsächlich über die Wirkungsmechanismen automatischer Stabilisatoren verfügt. Die vorgestellte Pufferwirkung der Krankenversicherungen kann ebenfalls dazu führen, dass die Wirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise lediglich verzögert die Gesundheits-wirtschaft erreicht und sich dann destabilisierend auf sie und die gesamte deut-sche Volkswirtschaft auswirkt.137 Des Weiteren fehlt ein kausaler Zusammen-hang zwischen Wirtschaftsentwicklung und Morbidität bzw. Gesundheitsnach-frage, sodass nicht von einer antizyklisch kompensierenden Wirkung ausgegan-gen werden kann. Es muss deshalb vielmehr ein bisher kontinuierliches Bran-chenwachstum der Gesundheitswirtschaft bezüglich einer stabilisierenden Wir-kung der Gesamtwirtschaft geprüft werden.

3.2.2 Übertragung der Multiplikatoranalyse auf die