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3 Amazonenmythos im Kontext feministischer Aneignung

3.2 Diskurstheoretische Grundlagen

3.2.1 Amazonen als Produkt des antiken griechischen Alteritätsdiskurses

3.2.1.2 Resignifikation statt Resignation

Eine der wohl ersten bekannten Frauen im europäischen Raum, die sich literarisch mit den Amazonen auseinandergesetzt hat, ist die französische Schriftstellerin Christine de Pizan. Ihr 1405 erschienenes Werk Das Buch von der Stadt der Frauen ist ein spätmittelalterliches Lesebuch für Frauen.172 In diesem verfolgt de Pizan nach der Romanistin Margarete Zimmermann verschiedene Ziele:

[S]ie will den Frauen ihrer Zeit (und auch jenen späterer Epochen) Mut machen, ihnen Selbstbewusstsein einflößen, indem sie auf große Frauenfiguren der Bibel, der Geschichte und Mythologie verweist; sie möchte die Frauen ferner dahin bringen, eine eigene, das heißt: nicht-fremdbestimmte Vorstellung von sich selbst, von der Bedeutung des weiblichen Geschlechts zu entwickeln. Und schließlich macht Christine den Versuch, ‚korrigierend‘ in die geschichtliche Überlieferung einzugreifen, diffamierenden Vorstellungen von bestimmten Frauengestalten (etwa von Sappho oder Xanthippe) den Garaus zu machen.173

Für sich alleinstehend ist dieses Vorhaben schon sehr beeindruckend, wird der Umfang an Quellen bedacht, die es dafür aufzuarbeiten und kritisch zu reflektieren gilt.

Zudem lebte de Pizan noch vor der Erfindung des Buchdrucks, was den Zugang zur Bildung zu einem restriktiven Privileg machte, zumal für Frauen.174 Was für mich hervorsticht, ist, in Anlehnung an das vorherige Unterkapitel, de Pizans (selbst)bewusstes Vorgehen, misogyne Vorstellungen von Frauen zu revidieren.175 Sie tut dies, indem sie tradierte, ontologische „Wahrheiten“ über Frauen aus der Sicht männlicher Gebildeter als falsch enttarnt, und ersteren dadurch ihre Immunität

172 Zimmermann (1990), S.16.

173 Ebd., S.17.

174 Als Quellen dienen de Pizan die im Mittelalter beliebten Sammlungen römischer Schriftsteller wie Valerius Maximus und vor allem die Frauengeschichten ihres Landsmannes Giovanni Boccaccio, aus dessen Werk De claris mulieribus (Über berühmte Frauen). Zur Auflistung weiterer Quellen, aus denen de Pizan schöpfte, siehe ebd., S.24. Vgl. ebenfalls zur ungewöhnlich breiten Ausbildung von de Pizan den Beitrag von Opitz-Belakhal (2018), S.163.

175 So konstatiert de Pizan resigniert: „[A]llerorts, in allen möglichen Abhandlungen scheinen Philosophen, Dichter, alle Redner (ihre Auflistung würde zu viel Raum beanspruchen) wie aus einem einzigen Munde zu sprechen und alle zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, daß nämlich Frauen in ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise zu allen möglichen Formen des Lasters neigen.“

De Pizan (1405), S.36.

nimmt.176 Methodisch geht sie dabei so vor, dass sie in fiktiven Gesprächen mit den drei allegorischen Frauenfiguren Tugend, Vernunft und Rechenschaft, die angeblichen weiblichen Schwächen und Fehler anhand beispielhafter „Geschichten“, in denen Frauen Stärke und Vorbildcharakter haben, widerlegt.177

Als Vorlage für den metaphorischen Bau einer Stadt, die allegorisch aus heroischen Frauen zusammengesetzt ist, dienen de Pizan einführend die Amazonen und ihr Staat.178 Damit ihrer Stadt jedoch nicht das gleiche Schicksal widerfährt wie den Amazonen sowie allen Formen weltlicher Herrschaft, demnach „[...] heute nur noch der Name überlebt hat [...]“179, berichten ihr die drei Tugenden als vornehme Frauen überirdischer Herkunft, wie genau ein solider Bau vonstatten gehen soll. Die zahlreichen vorbildlichen Frauengestalten aus den verschiedenen Epochen europäischer Geschichte, welche de Pizan zur Verteidigung des weiblichen Geschlechts in ihrer Stadt versammelt, erfüllen „[...] die Funktion von ‚Baumaterial‘, sind ‚Steine‘ unterschiedlicher Art und Größe, aus denen die ‚Stadt der Frauen‘

errichtet wird.“180

De Pizan gibt die „Geschichten“ der diversen Frauen nicht bloß so wieder, wie sie diese in den Quellen, vorfindet. Ganz im Gegenteil: „Christine bearbeitet diese

‚Geschichten‘ für ihre Zwecke, das bedeutet: sie kürzt, setzt andere Akzente, fügt das Erzählte in neue Zusammenhänge ein [...]“.181 Diese Herangehensweise operiert strukturell wie ein performativer Sprechakt, nutzt jedoch dessen immanente Instabilität, denn „[w]enn der Diskurs, um performative Kraft entfalten zu können, die

176 Dies bedeutet nicht, dass de Pizan selbst nicht auch ontologische Vorstellungen vom Wesen der Frau hat. So lässt sie in allegorischer Form „die edle Frau Vernunft“ sagen: „[W]enn die Natur die Glieder des weiblichen Körpers nicht mit großer Kraft versehen hat, so hat sie dies dadurch vollkommen ausgeglichen, daß sie die Frauen mit der ehrbarsten aller Neigungen versehen hat, nämlich der Liebe zu Gott und der Furcht vor der Verletzung seiner Gebote; jene Frauen jedoch, die anders sind, handeln wider ihrer Natur.“ Ebd., S.69. Daraus folgt für sie aber nicht, dass Frauen über keinerlei Kraft und Mut verfügen. Als Beweis führt sie zahlreiche Frauen an, die „[...]

beträchtlichen Mut, Kraft und Kühnheit [zeigten, AS], indem sie schwierige Unternehmungen aller Art auf sich nahmen und durchführten.“ Ebd.

177 Zimmermann (1990), S.24. Die Wiedergabe ihrer (Frauen)Geschichten erfolgt aber nicht ohne ein Bewusstsein für das Rezeptionsverständnis ihrer zeitgenössischen Leserinnen. So „[...] paßt sie die aus fremden Quellen übernommenen Stoffe den Horizont ihres spätmittelalterlichen Publikums an: die antike Welt und ihre Gestalten werden – in einer für das Mittelalter charakteristischen Weise – ‚höfisiert‘ [...]“. Ebd., S.25.

178 Tilg (2021), S.3; De Pizan (1405), S.43f.

179 De Pizan (1405), S.44.

180 Zimmermann (1990), S.24.

181 Ebd., S.24f.

Norm zitieren muss, gilt es, die gewöhnliche Zitation der Norm durch eine andere zu ersetzen [...]“.182 Auch de Pizan zitiert Normen, indem sie sich auf anerkannte Autoritäten bezieht (männliche Gebildete in Form von Geschichtsschreibern, Philosophen uvm.). Sie deutet deren Aussagen jedoch um, damit sie nicht gegen, sondern im Sinne ihrer eigenen Argumentation „sprechen“. An zwei Amazonengeschichten von de Pizan soll dies verdeutlichen werden.

In Von den Amazonen gibt sie beispielsweise den Ursprung für die Gründung des Amazonenreiches an. De Pizan berichtet davon, dass „vor langer Zeit“ im Land namens Skythien durch einen Krieg alle Männer umkamen; geblieben seien ihnen lediglich Greise und kleine Kinder. Nach einem Beschluss der zurückgelassenen Frauen wollten diese fortan selbst die Herrschaft über sich ausüben.183 Auch hier erfolgt die Namensgebung des skythischen Frauenvolkes in Form einer Fremdzuschreibung ohne klaren Ursprung („Später nannte man sie Amazonen [...]“)184. Die Übersetzung des Namens als „Brustlose“ übernimmt de Pizan zwar ebenfalls, allerdings führt sie eine andere semantische Bedeutung dafür an. Demgemäß sei es bei den Amazonen üblich gewesen:

[...] den Adeligen unter ihnen im Kindesalter durch einen bestimmten kunstvollen Eingriff die linke Brust wegzubrennen, damit sie sie nicht daran hinderte, den Schild zu tragen; den Nichtadeligen entfernte man die rechte Brust, damit sie besser mit dem Bogen schießen konnten.185

Zwei Aspekte einer bewussten Resignifikation lassen sich hier finden: Erstens sind die Amazonen keine „bloßen“ Fremden, sondern Vertreterinnen einer (im Mittelalter) etablierten hohen Gesellschaftsschicht; sie stehen also nicht mehr außerhalb anerkannter (intelligibler) sozialer Gesellschaftsordnungen. Zweitens wird das Wegbrennen der linken Brust als „kunstvoll“ deklariert, womit kein schmerzhafter,

182 Distelhorst (2009), S.106.

183 Keinem Mann sei es fortan gestattet, ihr Hoheitsgebiet zu betreten; die Frage der Nachkommenschaft wart so geregelt, dass sie sich „[...] zu bestimmten Zeiten des Jahres in benachbarte Gegenden begäben, dann in ihr Land zurückkehrten, und, wenn sie Jungen gebären würden, diese zu ihren Vätern schicken, Mädchen jedoch aufziehen wollten.“ De Pizan (1405), S.72. Die Frage der Reproduktion gleicht den antiken Überlieferungen, jedoch werden die männlichen Nachkommen weder verstümmelt noch getötet. Die Amazonen werden dadurch als moralisch integres Volk eingeführt.

184 Ebd., S.73.

185 Ebd.

selbstverstümmelnder Akt bei den Rezipientinnen186 assoziiert wird, sondern vielmehr ein ehrenhaftes Ritual. Dass die adeligen Mädchen und später Frauen, wenn sie Krieg führen, Schilde tragen, spricht dafür, dass sie für den Nahkampf ausgebildet und eingesetzt werden. Bei jenen, die später als Bogenschützinnen in Aktion treten, spiegelt sich ihre gesellschaftliche Position in der militärischen wider. Das heißt ihnen kommt eher die Verteidigung im Kollektiv zu, wohingegen die schildtragenden Kriegerinnen im direkten Kampf mit Gegnern187 individuellen Ruhm für sich beanspruchen können, ganz so wie die griechischen Heroen. Kurzum: Als körperlich gleichberechtigte Kriegerinnen stehen sie zusammen auf dem Schlachtfeld und lediglich ihr sozialer Rang – ob adelig oder nichtadelig – entscheidet darüber, welche militärischen Position sie dabei einnehmen.

In einer weiteren Geschichte treffen Herkules188 und Theseus gemeinsam auf die Amazonen.189 Grund ihrer Fahrt ist, dass in das weit entfernte Griechenland die Kunde drang, dass die Amazonen „[...] unaufhörlich in Länder eindrängen und sie eroberten;

daß sie überall umherzögen, Länder und Landstriche verwüsteten, falls sie sich ihnen nicht alle ergäben; und es keine Kraft gäbe, die der ihren zu widerstehen vermochte.“190 Auf Anraten Herkules hin solle Griechenland nicht abwarten, bis die Amazonen sie angriffen, sondern selbst den Überfall auf diese beginnen. Nach der Ankunft in

„Amazonien“ wagte es Herkules „[…] trotz seiner erstaunlichen Kraft und Kühnheit und trotz des großen Heeres von tapferen Leuten, das ihn begleitete, nicht, tagsüber den Hafen anzulaufen und zu landen: so sehr fürchtete er die große Kraft und die Kühnheit der Amazonen.“191 An dieser Stelle belässt es de Pizan nicht bei der bloßen Behauptung, Herkules scheue eine sofortige Konfrontation, sondern führt im nächsten Satz sogar einen Beleg dafür an: „Dies zu berichten, wäre höchst überraschend und

186 An dieser Stelle spreche ich ausschließlich von Rezipientinnen, ohne diese zu gendern, da der Rezipierendenkreis für de Pizan nur Frauen waren.

187 In ihren Erzählungen von den Kämpfen der Amazonen führt de Pizan ausschließlich männliche Opponenten an, weshalb ich an dieser Stelle bewusst darauf verzichtet habe, Gegner*innen zu schreiben.

188 De Pizan verwendet in ihrem Buch den römischen Namen Herkules.

189 Wie bereits einleitend im ersten Kapitel dargelegt, verfügen mythische Erzählungen allgemein über keine ursprüngliche, fixe „Originalfassung“ (siehe Kapitel 2.1.1), sondern Variationen. Dies gilt auch für die Mythen der beiden Heroen Herakles und Theseus. Die Überlieferung ist nicht immer eindeutig, was die chronologische Abfolge der jeweiligen Fahrten der beiden zum Thermodon, also zum Reich der Amazonen betrifft. Mal fahren sie zusammen dahin, mal sind es jeweils einzelne Fahrten. Vgl. zu dem generellen Aspekt der variantenreichen Überlieferungen des Amazonenmythos Fornasier (2007), S.16.

190 De Pizan (1405), S.75.

191 Ebd., S.76.

schwerlich zu glauben, wenn nicht so viele Geschichtsbücher belegten, daß ein Mann, der niemals, von welchem Wesen auch immer, bezwungen wurde, weibliche Stärke fürchtete.“192 Indem sie sich auf Autoritäten bezieht, zitiert sie deren Norm und erklärt das, was sie schreiben, zur objektiven Wahrheit. Dadurch bezeugen nicht nur ein Geschichtsbuch, sondern direkt viele den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage.193 Da sie selbst eine anerkannte Gelehrte bzw. Historiographin ist, wird ihre Aussage über Herkules Furcht vor den Amazonen zusätzlich also von einer autoritären Konvention gestützt und legitimiert. An einer anderen Stelle verfährt de Pizan erneut in dieser Weise: Beiden Heroen stellen sich die Amazonen Manalipe und Hippolyte im Einzelkampf entgegen. Die beiden Kriegerinnen heben die Angreifer sogar aus ihren Satteln. Damit widerlegen sie essentialistische Geschlechtervorstellungen, demnach Frauen „von Natur aus“ Männern physisch unterlegen seien. Zur Legitimation ihrer Darstellung bezieht sich de Pizan dabei erneut auf anerkannte Instanzen: „Man könnte kaum glauben, daß sich dies wirklich zugetragen hat, wenn es nicht so viele glaubwürdige Autoren in ihren Büchern bezeugt hätten.“194