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4 Kapitel: Amazonentöchter einer neuen Zeit

4.1 Alte Mythen im modernen Medienzeitalter

Hatte de Pizan den literarischen Anfang gemacht, die Erzählungen der Amazonen bewusst für ihre Zwecke – aus heutiger Perspektive – feministisch umzudeuten199, sollte es über 600 Jahre später ein Mann namens William Moulton Marston sein, der – in Zusammenarbeit mit seiner Frau Elizabeth (Sadie) Holloway Marston – eine Amazone konzipiert, die nicht nur seine eigenwillige feministische Vision propagiert, sondern im weiteren Verlauf zur ikonischen Symbolfigur des Feminismus avancieren sollte.200 Bekannt als Wonder Woman, kämpft diese Superheldin seit den 1940er Jahren gegen Ungerechtigkeiten und das Böse auf der Welt. Zu Recht konstatiert Franke-Penski in diesem Zusammenhang, dass Wonder Woman „[...] typisch für die flächendeckende Übernahme des antiken Amazonenmythos in die Populärkultur des 20. und 21. Jh. [...]“201 sei.

Dass Wonder Woman dabei die Neubesetzung der „[...] ‚Amazonen‘ durch Feministinnen in den 1970er Jahren vorweg [nahm, AS], die ‚Amazonen‘ als Sinnbild einer besseren Welt betrachteten, in der den traditionellen patriarchalen Strukturen ein weibliches Gesellschaftssystem gegenübergestellt wurde [...]“202, halte ich hingegen für zu verkürzt annonciert. Noch einmal sei auf de Pizan verwiesen: Die von ihr porträtierten „historischen“ Amazonen zeichnen sich aus durch „[...] Stärke, Geschicklichkeit, Mut und Klugheit, ihre Politik durch Stadtgründungen, Eroberungen, Gefangenen-Verhandlungen und Friedensabschlüsse.“203 Durch sie werden nach Kroll weibliche Wunschbilder transportiert: „Um männlichen Festschreibungen zu entkommen, setzt die ‚Amazone der Feder‘ die ‚Amazone des Schwertes‘ ein. D.h. sie

199 Vgl. dazu Zimmermann (1990), S.17.

200 Nowotny (2018), S.378.

201 Franke-Penski (2010), S.280.

202 Ebd.

203 Kroll (2010b), S.226. Siehe dazu auch die einzelnen Geschichten bei de Pizan (1405), S.72-83.

Zudem korrigiert de Pizan die Gesamtdauer der Amazonen-Regentinnenschaften auf 800 Jahre.

De Pizan (1405), S.82. Nach Kroll wird das Amazonentum bei de Pizan „[...] am Ende auf unbestimmte Zeit, in eine unbestimmte Zukunft hinein verlängert“. Kroll (2010b), S.226. Diese Aussage findet sich jedoch nicht in dem Buch von de Pizan.

bedient sich einer gleichgeschlechtlichen Kunstfigur, um eigene Denk-, Lebens- und Schreibräume zu autorisieren.“204

Doch nicht nur in literarischen Kontexten waren die antiken Kriegerinnen von Bedeutung für ein frühes emanzipatorisches Selbstbild (höfischer) Frauen. Auch in der Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts tritt immer wieder das Phänomen auf, dass „[...]

Herrscherinnen und Frauen des Hochadels als ‚Amazonen‘ oder amazonenhafte Figuren porträtiert werden. Selbstbewusst und herausfordernd blicken die Frauen den Betrachter an, sie posieren mit blanken Waffen und präsentieren sich als Siegerinnen.“205 Grund dieser „Amazonenporträts“ waren der Forschung nach die Legitimierung und Rechtfertigung der Alleinherrschaft der Regentinnen wie auch die Glorifizierung der Lebenstaten der Porträtierten.206 In der europäischen Kulturgeschichte finden sich immer wieder Beispiele dafür, dass das Bild der Amazonen als starke, agonale Frauen und Kriegerinnen in nachantiker Zeit, genauer ab dem Hoch- und Spätmittelalter, sukzessive einen großen Zuspruch fand. Eine besondere Rolle spielte dabei die bildende Kunst: „Vor allem Portraits waren zentrale Repräsentationsmedien, die den Status und die soziale Rolle der dargestellten Personen sichtbar machen und festigen sollten.“207 Die Porträtierung der Regentinnen bedient sich hierbei der Ikonographie, in welcher die Amazonen bereits seit der Antike imaginiert und dargestellt werden: Schild, Lanze, Brustpanzer und auf einem Pferd reitend.208

Wenngleich Wonder Woman nicht die erste Amazone war, die sich vom negativen Bild ihrer antiken Vorfahrinnen emanzipiert hat und zum heroischen Identifikationsmodell avancierte, tritt sie doch als erste Amazonentochter einer neuen Zeit in Erscheinung.

Diese ist geprägt von einer neuen Form des mythischen Geschichtenerzählens, dessen Ursprung Stuller in den 1930er Jahren verortet, als zwei Teenager aus Cleveland, Jerry Siegel und Joe Shuster, „[...] ihre Liebe zu Science-Fiction Geschichten, Pulp-Magazinen, Abenteuerfilmen, Radioserien und Comicstrips

204 Kroll (2010b), S.227.

205 Busse (2010), S.229.

206 Ebd. Da Königinnen im Frankreich der Frühen Neuzeit seit dem 14. Jhd. durch das sogenannte

„salische Gesetz“ von der Thronfolge ausgeschlossen waren, hatten sie nur dann ein konstitutives Recht zur Machtausübung, wenn der König starb und der gemeinsame Sohn noch minderjährig war. Ebd., S.230.

207 Ebd.

208 Siehe dazu die verwendeten Bilder in Busses Beitrag, S.230-232.

kombinierten [...]“209 und den Superhelden Superman erschufen. Nach Stuller kann in diesem Ereignis eine Adaption der Mythen an die Anforderungen eines neuen Zeitgeistes verstanden werden: „Außergewöhnliche Wesen, die phänomenale Kräfte besitzen, gibt es schon seit Anbeginn des Geschichtenerzählens, aber Siegels und Shusters Vermächtnis für die Populärkultur war ein moderner Mythos für moderne Zeiten.“210 Dieser „moderne Mythos“ ist meines Erachtens nach dadurch charakterisiert, dass, im Unterschied zu den antiken, die modernen Erzählungen benennbare Autor*innen haben, deren Intention, Motivation und Inspiration, Held*innen zu erschaffen, sich wesentlich transparenter nachskizzieren lassen. 211 Sogar zeitliche Ursprünge sind genau benennbar (für Superman wäre es beispielsweise 1938).212 Darüber hinaus kommt der Reziprozität zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen durch die Massenmedien der Populärkultur eine höhere Bedeutung zu, denn: Moderne Geschichten von Superheld*innen – ganz gleich ob im Comic, Film oder Fernsehen erzählt – sind in erster Linie kommerzielle Erzeugnisse, das heißt Produkte von Verlagen und großen Medienhäusern, wo „[...]

schlechte oder auch besonders gute Verkaufszahlen den weiteren Plot verändern können.“213

Das Genre der Superheld*innen selbst ist allerdings nicht das Neue bzw. Moderne.

Wie Nehrlich herausstellt, schreiben sich jene vielmehr ein „[...] in eine der ältesten und langandauernsten Traditionen der Literatur- und Kulturgeschichte, die des Heroismus“214. Die Superheld*innen werden in diesem Sinne dabei nicht neu erfunden.

Nach Meier „[...] werden die Geschichten um viele populäre Heldenfiguren bisweilen über Jahrhunderte hinweg fortgeschrieben, wodurch sich immer wieder neue, der jeweiligen Zeit angepasste Interpretationen derselben in unterschiedlichen medialen Kontexten materialisieren können.“215 Strukturell dienen die alten Heroendichtungen

209 Stuller (2010), S.434.

210 Ebd.

211 Beispielsweise sollen die Schöpfer von Superman, Siegel und Shuster, beide Juden, wohl von den Geschichten des Tanach bzw. des Alten Testaments inspiriert worden sein. So verweist Nehrlich auf den Vergleich der Rabbiner Simcha Weinstein und Avichai Apel von Superman mit Mose:

„Beide Helden wurden von ihren leiblichen Eltern zu ihrem Schutz ausgesetzt (der eine im Bastkorb, der andere in einem Raumschiff) und von Zieheltern aufgezogen. Später wenden sie sich gegen Unterdrückung und fungieren als verehrte Beschützer ihrer Landsleute.“ Nehlich (2018), S.30.

212 Meier (2015), S.10.

213 Etter (2018), S.207.

214 Nehrlich (2018), S.27.

215 Meier (2015), S.9.

„[...] nicht nur als Materialfundus für Fähigkeiten und Figuren [...], sondern auch als Vorlagen für Darstellungsformen und Erzählmuster (nicht zuletzt für die konstitutive Serialität des Superheldengenres).“216 Was es jedoch vorher in der Form so noch nicht gab, ist die „Plurimedialität“217 ihrer Tradierungsmöglichkeit und Reichweite. So konstatiert Meier treffend:

Gleich nun ob in ihrem Ursprungsmedium, dem Comic, im Radio, Fernsehen, Kinofilm, Theater, im Computerspiel oder im Internet – überall haben die Superhelden Spuren hinterlassen und ihre kulturelle Wirkmächtigkeit seit ihrer Erschaffung immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt.218

War die Rezeption und Reichweite des Amazonenmythos bei de Pizan und ihren höfischen Schwestern beispielsweise noch epochenspezifisch und medial auf einen aristokratischen und königlichen Rezipient*innenkreis eingeschränkt219, sollte nun Wonder Woman direkt bei ihrer Einführung 1941 in All-Star Comics #8 ein Millionenpublikum in den US-Staaten und in weiterer Folge globale Bekanntheit erreichen.220 Neben ihrer bis heute anhaltenden Präsenz in Comics, hat sie eine eigene TV-Serie (Wonder Woman, 1975 – 1979) und regelmäßige Auftritte in Zeichentrickserien (wie auch einen eigenen Direct-To-DVD-Zeichentrickfilm).

Doch trotz Wonder Womans früher Bekanntheit sollte es über siebzig Jahre dauern, bis sie 2017 ihren eigenen Kinofilm bekommen würde. Wie Tilg konstatiert, sollte dieser erneut die „[...] zeitlose Relevanz des antiken Amazonenmythos als Archetyp für Heldinnen im ansonsten männlich dominierten Heldengeschäft [...]“221 unter Beweis

216 Nehrlich (2018), S.29. Für eine ausführlichere Darstellung der Übereinstimmungen zwischen den frühen Quellen und den Comics der Superheld*innen siehe ebd., S.28f.

217 Unter dem Begriff der „Plurimedialität“ versteht Wilke die „[...] Vermehrung und Koexistenz [...] der Massenmedien ab dem 19. Jahrhundert. Er grenzt diesen damit vom umgangssprachlich geläufigeren Begriff „Multimedia“ ab, dem es seiner Ansicht nach zu vermeiden gälte, [...] weil dieser die sich dann am Ende des 20. Jahrhunderts abzeichnende Verschmelzung der Massenmedien bezeichnet.“ Wilke (2008), S.304. Vgl. dazu auch Meier (2015), S.14-16.

218 Meier (2015), S.11.

219 Empfänger der Abschriften waren nach Zimmermann beispielsweise die Herzöge von Berry und Burgund, aber auch Frauen seien als Erstempfängerinnen bekannt gewesen, wenngleich diese Zimmermann nicht namentlich benennt. Zimmermann (1990), S.13. Zum Kreis der Rezipient*innen siehe auch Groag Bell (1997), S.40.

220 Comics in den 1940er Jahren wurden in Amerika an Zeitungskiosken verkauft; die Verkaufszahlen lagen nach Ormrod „[...] approximately 25 million to 40 million per month and most comics featured superheroes.“ Ormrod (2020), S.6. Interessant daran ist auch, dass der Lesekreis eine Gleichheit der Geschlechter aufweist. Ebd.

221 Tilg (2021), S.4.

stellen. Aber konnten die antiken Kriegerinnen tatsächlich bereits so früh diese Rolle einnehmen?