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Primärer kulturspezifischer Ausdruck

2. Klassifizierung interkultureller Kommunikationssituation und Be-

2.3 Bestimmung kulturspezifischer lexikalischer Ausdrücke

2.3.4 Primärer kulturspezifischer Ausdruck

‚Die kulturspezifischen Ausdrücke‘ können auf der Ebene der IK als sogenannte Hotwords identifiziert werden. Mit Hotwords werden Heringer (2004) zufolge die Wörter bezeichnet,

„die durch wichtige kulturelle Tatsachen geprägt sind“132 und die anhand der folgenden Merkmale und Kriterien zu erkennen sind:133

1. Deren Bedeutung lässt sich sogar für Muttersprachler schwer angeben.

2. Es ist ein Wort, das für Fremde schwer zu erfassen ist.

3. Das Wort steht mit einem sozialen und historisch strittigen Sachverhalt in Verbindung.

4. Muttersprachler können sich mit dem Aspekt des Wortes identifizieren.

5. Das Wort beinhaltet viele kulturspezifische Bedeutungskomponenten.

6. Das Wort ist nur zu verstehen, wenn man sich intensiv mit der Kultur und der Ge-schichte auseinandersetzt bzw. in die jeweilige Kultur eintaucht.

7. Seine verschiedenen Bedeutungskomponenten sollen ein kulturelles Muster bilden.

131 Um diesen vom ‚primären kulturspezifischen Ausdruck‘ (s. 2.3.4) zu unterscheiden.

132 Siehe Heringer (2004:175).

133 Das Hotwords-Konzept ist ein Teilkonzept von Rich Points, das von dem Anthropologen und Linguisten Michael Agar entwickelt worden ist und unter dem man die kritischen Stellen in der Kommunikation ver-steht. Vgl. ebd.

Mit anderen Worten: Hotwords sind die lexikalischen Einheiten, in denen soziokulturelle Informationen abgespeichert worden sind, die lediglich im jeweiligen soziokulturellen Kontext zu verstehen sind. Wie Missverständnisse durch Hotwords in der IK entstehen können und in welchen Ausdrucksbereichen Hotwords am meistens zu finden sind, wurde allerdings bei Heringer (2004) nicht ausführlich erklärt bzw. erarbeitet.

Generell können lexikalische Ausdrücke anhand der Relation zu dem von ihnen Refe-rierten grob in zwei Klassen geteilt werden, nämlich ‚Konkretum‘ und ‚Abstraktum‘. Die Rolle des kulturspezifischen Konkretums in der GeIvK wurde bereits in 2.3.1 und 2.3.3 anhand der Beispiele für die Bezeichnungen der Gegenstände ㅋᄤkuàizi (Stäbchen), Ḡ ᄤzhuōzi (der Tisch) und die Verwandtschaftsbezeichnung ྤ ྤjiějie (die ältere Schwester) erläutert. Dabei wurde gezeigt, dass die Verwandtschaftsbezeichnung ྤྤ

jiějie in einem bestimmten Kontext ein Hotword sein kann. Nimmt man die dargestellten Kriterien für Hotwords als Raster, so ist deutlich zu sehen, dass der Ausdruck ྤྤjiějie im Satz (1) auf der pragmatischen Ebene mindestens die Kriterien 3, 4 und 7 erfüllt.

Bei den primären kulturspezifischen Ausdrücken handelt es sich im Wesentlichen um ein Abstraktum wie z. B. die Ausdrücke für subjektive Bewertungen oder Gefühle, deren Bedeutungen stark mit den Einstellungen und der Weltanschauung der jeweiligen Sprach-gemeinschaft verbunden sind. Vergleichen wir z. B. den Ausdruck Eitelkeit im Deutschen und 㰮㤷 xūróng im Chinesischen. Eitelkeit wird in den chinesisch-deutschen Wörterbü-chern als㰮㤷 xūróng übersetzt und umgekehrt wiederum auch als Eitelkeit.134 Im Chine-sischen bezeichnet der Ausdruck 㰮㤷 xūróng im Grunde das vermeintliche Ansehen, wel-ches mit der oberflächlichen Anerkennung durch Besitzgüter (z. B. Markenprodukte), Sta-tus und Vermögen zu gewinnen ist, ist aber immer mit einem Hauch von Abwertung ver-bunden.135 Wie das Kompositum 㰮xū (leer oder falsch) und 㤷róng (Ruhm) zum Aus-druck bringt, handelt es sich dabei um einen falschen Glanz. Als Hintergrund für diese Einstellung steht der Aspekt des Gesichtswahrens in der zwischenmenschlichen Interaktion in der chinesischen Kultur (s. hierzu Kap. 4.2.3). Um die Bedeutungskonnotation von 㰮㤷 xūróng im Chinesischen genau zu erfassen, benötigt man ein grundlegendes Wissen der Wertungen und gesellschaftlichen Normen in der chinesischen Gesellschaft.

134 Siehe Zhong (1989:239); Xu (1988:914).

135Vgl. He (1981:595).

Eitelkeit im Deutschen bezeichnet hingegen vor allem eine übertriebene Sorge um die eigene körperliche Schönheit oder die geistige Vollkommenheit, das Aussehen und die At-traktivität oder die Wohlgeformtheit des eigenen Charakters und wird im Wörterbuch mit selbstgefällig, eingebildet, putzig erklärt.136 Mit anderen Worten: Im Deutschen weist der Ausdruck Eitelkeit eine weniger starke Abwertung auf, sondern kann auch in der deutschen Kultur eine positive Bewertung sein. In diesem Zusammenhang wird im Chinesischen z. B.

ein Mensch, der nach Besitz strebt, um sich damit zu schmücken um damit scheinbares Ansehen zu haben, als ⠅ᜩ㰮㤷 àimù xūróng (lieben und verehren Eitelkeit) bezeichnet.

Dieses Verhalten wird allerdings im Deutschen nicht mit Eitelkeit bezeichnet.

Neben dem oben gezeigten Beispiel sind noch zahlreiche andere Ausdrücke im Chinesi-schen vorhanden, deren Bedeutungen stark mit den kulturellen Einstellungen oder der Weltanschauung verbunden sind, sich sozialhistorisch begründen lassen und als ‚primäre kulturspezifische Ausdrücke‘ bezeichnet werden. Die primären kulturspezifischen Ausdrü-cke sind von den lexikalischen AusdrüAusdrü-cken für die Leistungsbewertung zu unterscheiden (wie z. B. mangelhaft-gut und klug-dumm), die ebenfalls von der sprachlichen Bedeu-tungsvielfalt und der Weltanschauung einer Sprachgemeinschaft abhängig sind. Solche Adjektive der Leistungsbewertung wurden in der Linguistik in besonderem Maß im Rah-men des Wortfeldes in der Lehre vom sprachlichen Feld betrachtet.137 Mit dem Wortfeld ist die Gesamtheit der Wörter, die einen mehr oder weniger geschlossenen Begriffskom-plex aufgliedern, gemeint.138 Im Prinzip handelt es sich dabei um die ganze Bewertungs-skala (mangelhaft – genügend – gut – sehr gut), durch die erst eine nuancierte Aussage des Stellenwertes getroffen werden kann (wie mangelhaft – genügend – gut – sehr gut). Ana-log verhält es sich im Fall klug-dumm. Danach ergibt sich der Stellenwert von klug erst durch die Stellung im Gesamtfeld der Bezeichnungen für intellektuelle Fähigkeiten und Eigenschaften (klug – gescheit intelligent begabt dumm etc.).139 Obwohl die Be-schreibung der Leistungsbewertung zwar von Kultur zur Kultur unterschiedlich sein kann, erfüllen solche Adjektive die sieben Kriterien für Hotwords jedoch nicht und werden daher nicht als kulturspezifische Ausdrücke betrachtet. Im folgenden Kontext bezieht sich die Bezeichnung ‚kulturspezifischer Ausdruck‘ stets auf primäre kulturspezifische Ausdrücke.

136 Vgl. Wahrig (1993:246).

137 Die Lehre wurde von J. Trier begründet. Sieh Koller (2001:169).

138 Vgl. ebd. S. 169.

139 Ebd. S. 170.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kurzer Blick auf die sogenannte Kultur, die für die kulturspezifischen Ausdrücke eine Rolle spielt.140 Wenig interessant ist hierfür die Kultur im produktbezogenen Sinne, wie z. B. literarische bzw. künstlerische Produkte. Die für kulturspezifische Ausdrücke relevanten Bestandteile betreffen in der Regel die Kultur im Sinne des Soziologen Max Weber (1988), der die Kultur als eine bewusst moralische Sinnstiftung und Wertsetzung interpretiert: „Kultur ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter, endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlich-keit des Weltgeschehens.“141 Denn nur Kultur in diesem Sinne hat eine soziale Funktion, nämlich das Verhalten der Menschen in einer Gesellschaft bei der zwischenmenschlichen Interaktion mithilfe eines moralischen Wertesystems zu regeln. Für kulturspezifische Aus-drücke sind insbesondere die kulturellen Bestandteile einer Sprachengemeinschaft rele-vant, welche zum Zweck der Kultivierung der zwischenmenschlichen Interaktion geschaf-fen worden sind und über lange Zeiten hinweg tief prägend auf das Verhaltensmuster der Menschen gewirkt haben, wie es in westlichen Ländern durch das Christentum und in ost-asiatischen Ländern durch den Konfuzianismus geschehen ist.

Beiden Denkrichtungen haben Jahrhunderte lang die Normen und Wertvorstellungen der Menschen tief geprägt und sind damit zum festen Bestandteil der Kultur und des alltäg-lichen Lebens, zur Konvention geworden.142 Weiterhin sind sie durch Verschriftlichung und Vertextung erlernbar gemacht und als sogenanntes kulturelles Gedächtnis gespeichert worden,143 womit sie sich auch in der Sprache ausdrücken.

2.3.5 Fazit

Eine kulturelle Information tragende lexikalische Ausdrücke können in vier Kategorien eingeteilt werden, nämlich in kulturspezifische gegenstandbezogene Ausdrücke, in kultur-spezifische sprachliche Verwendungsvarianten, in sekundäre kulturkultur-spezifische Ausdrücke und in primäre kulturspezifische Ausdrücke. Unter diesen Kategorien haben die sekundä-ren und insbesondere die primäsekundä-ren kulturspezifischen Ausdrücke eine große Bedeutung in

140 Die vielfältigen Definitionen der Kultur in der Literatur werden an dieser Stelle nicht ausgeführt. Dazu siehe Fuchs-Heinritz/Lautmann/Rammstedt u.a. (2012:379); Kant (1995.343ff); Humboldt (1836:50ff);

Földes (2003:11).

141 Weber (1988:180).

142 Unter dieser Betrachtung ist Kultur nicht willkürlich und nicht wie Heringer (2004) interpretiert „ein Produkt der unsichtbaren Hand“. Heringer (2004:115ff). Die Entwicklungsprozesse und die Geschichte des Christentums sind nicht Thema dieser Arbeit, daher werden sie nicht ausgeführt.

143 Obwohl das gespeicherte kulturelle Gedächtnis selektiv und relativ objektiv ist. Vgl. Fraas (2000:39).

der GeIvK, weil diese Ausdrücke in der Regel relativ abstrakt sind. Um die sozialen und historischen Einstellungen und Wertungen als moralischer Leitfaden einer Sprachenge-meinschaft verstehen zu können, benötigt man Kenntnisse über den sozialen Kontext.

Dieser Kontext, an dem man sich beim Erlernen der Bedeutung solcher lexikalischer Ausdrücke orientieren kann, ist im Fremdsprachenunterricht nicht gegeben und wirft die Frage auf, ob diese ohne das konkrete Erleben in der Realität erlernbar sind. Ist es möglich, die gebundenen kulturellen Informationen aus dem Zusammenhang der zwischenmenschli-chen Interaktion zu abstrahieren und diese als Bedeutungskomponenten bzw. als semanti-sche Merkmale des jeweiligen lexikalisemanti-schen Ausdrucks – mithilfe eines Deskriptionsmo-dells – konkret darzustellen und dem Lernenden diese abstrahierten semantischen Merkma-le als deklaratives Wissen im Lernprozess zu vermitteln? Für eine eindeutige, von Miss-verständnissen befreite Kommunikation müssen diese kulturrelevanten Informationen im Langzeitgedächtnis des Lernenden gespeichert sein, damit diese als kognitives Wissen in der GeIvK im abrufbereiten Zustand stehen und die ihnen zugeschriebenen semantischen Merkmalen im mentalen Lexikon identifiziert werden können.

Wie man dies didaktisch umsetzt, wird im kommenden Kapitel aus kognitiver und di-daktischer Sicht näher erläutert.

3. Semantische Merkmale kulturspezifischer Ausdrücke als kognitives Wissen beim Fremdsprachenerwerb