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4. Relevante soziokulturelle Merkmale Chinas und die korrespondie-

4.2 Kulturelle Eigenschaften Chinas aus chinesischer Sicht

4.2.1 Höflichkeit und Harmonie

4.2.1.3 ᅶ⇨ kèqì

Obwohl ᅶ⇨ kèqì mit ⼐䉠 lǐmào in einem engen Zusammenhang steht, bezieht sich die mit ᅶ⇨ kèqì gemeinte Höflichkeit im Gegensatz zum umfassenderen ⼐䉠 lǐmào vor al-lem auf ein im zwischenmenschlichen Umgang durch Bescheidenheit zum Ausdruck ge-brachtes Verhalten, d. h. ein zurückhaltendes, sich der sozialen Rolle und Situation ange-passtes Verhalten. In diesem Sinne stellt ᅶ⇨ kèqì einen konkreten Ausdruck der Höflich-keit des ⼐䉠 lǐmào dar. Ein mit ᅶ⇨ kèqì zu bezeichnendes Verhalten wird in der chinesi-schen Gesellschaft allerdings nicht bedingungslos in jeder Situation eingesetzt. Feng (2004) zufolge spielen für Chinesen drei Faktoren beim Einsatz eines zurückhaltenden Verhaltens eine entscheidende Rolle, nämlich soziale Distanz, Macht und Auferlegung.294

Wie bereits gezeigt, wird die zwischenmenschliche Beziehung in der chinesischen Ge-sellschaft durch das Prinzip ։ fēn ‚Differenzierung‘ klar definiert. Wenn wir die zwi-schenmenschlichen Beziehungen je nach Beziehungstiefe in drei Klassen unterscheiden, nämlich ‚Fern‘, ‚Fern und Nah (gemischt)‘ und ‚ganz Nah‘, dann wird ein Verhalten von ᅶ⇨ kèqì in der Regel im Umgang mit Menschen aus der gemischten Klasse zwischen Fern und Nah eingesetzt. Menschen aus der mit ‚Fern‘ markierten Klasse sind z. B. Frem-de, aus der mit zwischen ‚Fern und Nah‘ gekennzeichneten Klasse sind z. B. Bekannte oder normale Freunde und intime Freunde, Verwandte oder Familienangehörige fallen ent-sprechend in die Klasse ‚Nah‘. Ein falsch platziertes Verhalten bzw. ein verbaler Ausdruck von ᅶ⇨ kèqì könnte möglicherweise Missverständnisse verursachen, so könnte z. B. der Einsatz von ᅶ⇨ kèqì im Umgang mit den eigenen Familienangehörigen ein Entfrem-dungsgefühl bei diesen erzeugen.295

Der Grund für die Machtdistanz (vgl. Kap. 1.2.1) als Einflussfaktor für den Gebrauch von auf Bescheidenheit bezogenem höflichem Verhalten oder Ausdruck hängt mit dem Bescheidenheitsprinzip in der lǐ-Lehre zusammen. In einer zur Machtdistanz tendierenden Gesellschaft stößt die Machtungleichheit bei Menschen mit weniger Macht auf Akzeptanz.

Dies ist auch durch das bescheidene, zurückhaltende Verhalten bzw. durch den entspre-chenden verbalen Ausdruck der Menschen mit weniger Macht wahrnehmbar. Ein solcher

294 Seine Behauptung lässt sich auf die These von Brown und Levinson (1987) zurückführen. Siehe Feng (2004:440ff).

295 Vgl. Liang (1998:262ff); Feng (2004:440).

Erwartung entsprechendes Verhalten oder entsprechender Ausdruck wird jeweils als ᅶ⇨

kèqì oder ᅶ༫䆱 kètàohuà (Höflichkeitsfloskeln) bezeichnet. In diesem Rahmen sind im Chinesischen einige Lexeme bzw. Höflichkeitsfloskeln für die Funktion von ᅶ⇨ kèqì ent-standen. Die Ich-bezogenen und die auf die eigenen Familienangehörigen bezogenen Be-zeichnungen wieᰮ䕜wǎnbèi (wörtl. spätere Generation)ˈᆦ㟡 hánshè ‚meine schäbige Hütte‘ˈᆊܘ jiāxiōng (wörtl. Familie älterer Bruder)ˈ㟡ྍ shèmèi (wörtl. Hütte jüngere Schwester) drücken mithilfe der ersten Komponente des jeweiligen Kompositums Be-scheidenheit aus.296 Die Bescheidenheit kann darüber hinaus auch durch die Ausdrücke für Ehrfurcht und Respekt gezeigt werden. In Höflichkeitsfloskeln wie z. B.

Йӄ໻ৡ jiǔyǎng dàmíng

‚Von Ihrem Namen habe ich schon lange gehört‘

⃶䖢ܝЈ huānyíng guānglín

‚Herzlich willkommen‘

ᢰ䇏໻԰ bàidú dàyuò

‚Die Ehre haben, Ihr Werk lesen zu dürfen‘

etc., werden Respekt und Ehrfurcht durch ӄ yǎng ‚verehren‘ˈ໻ ‚groß‘ˈܝЈ guānglín ‚geschätzte Anwesenheit‘ und ᢰ bài ‚in Empfang nehmen‘ zum Ausdruck ge-bracht.

4.2.1.4 ݇㋏ guānxī

Der Begriff ݇㋏ guānxī wird ins Deutsche als ‚Beziehung‘ übersetzt. Konkret gemeint ist in diesem Zusammenhang ‚die interpersonale Beziehung‘. ݇㋏ guānxī spielt in der inter-personalen Beziehung in der chinesischen Kultur eine bedeutende Rolle und ist zwar mit

‚der interpersonalen Beziehung‘ im Deutschen und ‚interpersonal relationship‘ im Engli-schen vergleichbar, dennoch weist ݇㋏ guānx lexikalisch ein abweichendes Konzept auf.

296 Vgl. Liang (1998:294).

Die Entstehung des interpersonalen Mechanismus von ݇㋏ guānxī in der chinesischen Kultur hängt ziemlich eng mit zwei sozialen Faktoren zusammen, nämlich den fehlenden Sozialleistungen und der Machthierarchie. In der traditionellen chinesischen Gesellschaft existierten keine Sozialleistungen, daher übernahm ݇㋏ guānxī in gewissem Sinne die Funktion der Sozialleistung. Das heißt, man bildet ein interpersonales Netzwerk außerhalb eigener Verwandtschaftskreise, um in eventuell auftretenden Notsituationen Hilfe bzw.

Unterstützung erhalten zu können. In diesem Zusammenhang wird ݇㋏ guānxī in der chi-nesischen Kultur auch als ein wesentliches Werkzeug zum Überleben betrachtet.297

Die Machthierarchie des Konfuzianismus trug weiterhin zur Entwicklung von ݇㋏

guānxī in der chinesischen Gesellschaft bei. Denn in der konfuzianischen Gesellschaft, in der die sozialen Rollen und das aus ihnen resultierende Verhalten reglementiert und spezi-fiziert sind, kann man bestimmte Dinge lediglich mithilfe anderer Leute erreichen. Daher ist es vor allem notwendig und wichtig ein gutes interpersonales Netzwerk mit Menschen in höheren Machtpositionen aufzubauen. In diesem Sinne bedeutet ݇㋏ guānxī für die Chinesen nicht nur emotionalen und materiellen Austausch, sondern auch moralische Ver-pflichtung. Denn dem Verhaltensprinzip von Reziprozität nach wird ein entsprechendes Verhalten des Zurückgebens seitens des Empfängers nach der Hilfeaktion oder Unterstüt-zung über ݇㋏ guānxī erwartet. Aus diesem Grunde impliziert der lexikalische Ausdruck

݇㋏ guānxī die Bedeutung von Herrschaft oder Besitz von interpersonalen Ressourcen bzw. Machtressourcen. Sicherlich ist diese Art von interpersonaler Beziehung in jeder Kul-tur mehr oder weniger vorhanden. Der Grund, warum sie in der Forschung als eine kulKul-tur- kultur-spezifische Eigenschaft Chinas betont wird, hängt Ma (2004) zufolge mit sieben Kriterien zusammen, deren graduelle Ausprägungen einen Hinweis auf die Bedeutung von ݇㋏

guānxī in der jeweiligen Gesellschaft geben:298

1. Wie ernst wird ݇㋏ guānxī in der jeweiligen Kultur genommen?

2. Wie viel Einfluss hat ݇㋏ guānxī unmittelbar auf die wichtigen Entscheidungen?

3. Welche Rolle spielt ݇㋏ guānxī in der Ausbildung der Ich-Erkenntnis?

4. Wie stark sehnt man sich in der interpersonalen Beziehung nach Harmonie?

5. Wie groß ist die Machtdistanz?

6. Baut man die interpersonale Beziehung zum eigenen Nutzen auf oder für die

297 Vgl. Ma (2004:368).

298 Näheres dazu siehe ebd. S. 367ff.

anderen?

7. Ist die aufgebaute interpersonale Beziehung nachhaltig?

Gemäß den obigen Kriterien wird ݇㋏ guānxī, die interpersonale Beziehung in chinesi-schem Sinne, im Vergleich zu anderen westlichen Kulturen als bedeutende Eigenschaft im zwischenmenschlichen Umgang in der chinesischen Kultur angesehen.