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Konzeptuelle Unterschiede des Gesichts in westlichen und asiatischen

4. Relevante soziokulturelle Merkmale Chinas und die korrespondie-

4.2 Kulturelle Eigenschaften Chinas aus chinesischer Sicht

4.2.3 䴶ᄤ miànzi und 㜌 liǎn

4.2.3.3 Konzeptuelle Unterschiede des Gesichts in westlichen und asiatischen

Vor dem oben dargestellten Hintergrund ausgehend ist logischerweise eine Differenzie-rung des ‚Ich‘-Begriffs im westlichen und chinesischen Kontext zu erwarten. Der ‚Ich-Bezug‘ im europäischen oder amerikanischen Kontext ist ein vollkommen anderer als im chinesischen. In Europa handelt es sich um ein unabhängiges ‚Ich‘. Dagegen handelt es sich im chinesischen Kontext häufig nur um ein relativ unabhängiges ‚Ich‘, das aus seinem sozialen Kontext nicht herauszulösen ist. Aus soziopsychologischer Perspektive 䴶 ᄤ miànzi zu betrachten, bedeutet das ‚Ich‘ in seinem sozialen situativen Kontext zu verstehen.

Das Individuum hat die Situation und seine darin anzunehmende Rolle analysiert und er-kannt. In China ist die Ich-Rolle im gesellschaftlichen Kontext von Vorteil.

Der Ich-Bezug in der westlichen Gesellschaft ist näher an einem individualisierten ‚Ich‘.

Ting-Toomys face negotiation theory geht davon aus, dass die Verschmelzung der drei

Bausteine Darsteller, Rolle und 䴶ᄤ miànzi geeignet ist, eine allgemeine kulturübergrei-fende Theorie über den tatsächlichen Ich-Bezug innerhalb einer Gesellschaft zu beschrei-ben. Des Weiteren bedeutet 䴶ᄤ miànzi die Darstellung des Selbstbildnisses nach außen in einer bestimmten Beziehungssituation. Es beinhaltet also das Bild oder Gesicht, das ein Individuum in einer bestimmten Situation nach außen abgeben will, wobei in der chinesi-schen Gesellschaft der Sprecher in einer Gesprächssituation immer darauf zu achten hat, wie der Hörer das Bild versteht oder interpretiert.313

䴶ᄤmiànzi gibt dem Individuum eine bestimmte Identität in einer Beziehungssituati-on.314 Damit sich ein bestimmtes Selbstbild generieren lässt, muss man in Beziehung zu anderen Menschen stehen315 und muss in Verhandlungen treten. Jedoch existieren in den unterschiedlichen Kulturen verschiedene Bedeutungen und Darstellungen des Ich-Begriffs, dessen jeweilige Selbstdarstellung anderen gesellschaftlichen Hintergründen folgt. In west-lichen Kulturen bedeutet bspw. individuelles Wachstum, sich von seiner Familie zu tren-nen. Nur auf diese Art und Weise kann sich das Ich entwickeln und einen eigenen, selbst-ständigen Weg einschlagen. In westlichen Kulturen muss das Individuum durch seine So-zialisation lernen, wie sich sein Selbstbild oder Kern-Ich auf verschiedenen sozialen Ebe-nen entwickeln lässt. Das öffentliche Bild von einem Individuum soll dabei dem Selbstbild des Individuums möglichst stark ähneln.316

Im Gegensatz dazu ist in asiatischen Kulturen, wie in Japan, Korea, Taiwan oder China, die unter starkem Einfluss der konfuzianischen Philosophie standen und immer noch ste-hen, das Kern-Ich oft untrennbar mit dem Familienbild verbunden, Verwandtschaft ist in das Wesen der Familie eingeschlossen, aber nicht die zugehörige Gruppe. Daher ist das Kern-Ich im Unterschied zu den westlichen Kulturen, stets verbunden mit der sozialen Be-ziehung oder Situation. Der Ich-Begriff ist nur durch soziale Ordnung (zwischen den Men-schen) und interpersonelle Beziehung bestimmbar und muss wie oben dargestellt durch die Verhaltensregel des 䴶ᄤmiànzi stabilisiert werden. Auch hierfür existiert im Chinesi-schen ein Ausdruck ݇㋏㞾៥ guānxī zìwǒ ‚das Beziehungs-Ich‘.317 Dieses Beziehungs-Ich hängt, wie eben beschrieben, gemäß konfuzianischem Beziehungsmodell eng zusam-men mit der jeweiligen Interaktionsperson. Man präsentiert dabei sein eigenes Verhalten

313 Vgl. Hwang (2004:318); Liang (1998:272ff).

314 Nach Goffman wäre dies wiederum beschrieben durch die Verschmelzung der drei Bausteine und deren übergeordneten Bedeutung.

315 Ebenfalls bereits weiter oben beschrieben von Hwang, der davon ausgeht, dass 䴶ᄤmiànzi nur im ge-sellschaftlichen Austausch entstehen kann.

316 Hwang (2004:318f).

317 Vgl. Hwang (2004:319); Liang (1998) Kap. 7.1.

weniger als Ausdruck der eigenen individuellen Person. Die soziale Interaktionssituation steht dabei bei den Chinesen im Zentrum der Darstellung des Beziehungs-Ichs.

Aufgrund religiöser Unterschiede steht in der chinesischen Kultur 䴶ᄤ miànzi zur Fa-milie auch in einem anderen Verhältnis als in westlichen Kulturen. Die konfuzianische An-sicht unterscheidet sich von der des Christentums dadurch, dass im Christentum die Men-schen vom Gott nach seinem Bild erschaffen wurden. Die MenMen-schen sind alle gleich und frei. Der Konfuzianismus, aber auch Daoismus und Buddhismus lehren, dass das Leben aus der Erde entstanden ist, also der Himmel als Vater, die Erde als Mutter. Der Mensch als ein Wesen, das sich zwischen Himmel und Erde bewegt, das sich selbst zwischen den erzeugenden Kräften des 䰈 Yīng und 䰇 Yáng innerhalb des harmonischen Rhythmus der Natur befindet und sich dadurch leiten lässt. Darüber hinaus steht der Mensch in einer lan-gen Entstehungskette aus Eltern, Familie, Vorfahren oder Ahnen. Das Leben in einer Fa-milie ist gleichzusetzen mit einer kontinuierlichen Einheit. Die Mitglieder einer FaFa-milie tragen ein Einheitsgefühl, das direkt mit ihrer Daseinsberechtigung verbunden ist. Ihre Existenz ist also durch die Familie begründet, und nicht durch einen Gott. Das Selbstbild (Ich-Bezug) ist mit der Familie verbunden und das Individuum vertritt nach außen in sei-nem alltäglichen Leben die Familie durch sein 䴶ᄤmiànzi. Jedes Familienmitglied trägt das 䴶ᄤ miànzi der Familie und muss es täglich verteidigen. Dies ist in ähnlicher Weise auch auf andere Gruppen übertragbar, wie z. B. auf eine Mannschaft, Firma, Partei oder das ganze Land. In diesem Zusammenhang existieren im Chinesischen Begriffe wie:

໻៥ (dàwǒ) - das übergeordnete Ich

ϔ㤷ⱚ㤷 (yì róng jiē róng) - ist ein Familienmitglied erfolgreich, so ist

die ganze Familie erfolgreich

ϔ䖅ⱚ䖅 (yírù jiē rù) - wird ein Familienmitglied beleidigt, so wird auch die ganze Familie beleidigt ᆊϥϡৃ໪᦮ - die negative Seite der Familie darf nicht (jiāchǒu bùkě wàiyáng) nach außen dringen

, die das Konzept für das Verhältnis zwischen 䴶ᄤ miànzi und Familie zum Ausdruck bringen.318

318 Hwang (2004: 321); Liang (1998:274).

Nach der konfuzianischen Lehre darf die interpersonelle Beziehung nicht gegen die Prinzipien ‚Menschlichkeit‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Ritual‘ verstoßen. Das offensive Verhal-ten muss diesen VorschrifVerhal-ten entsprechen.319 Sprachlich lässt sich dies daran erkennen, hat man bspw. seine Rolle nicht gut erfüllt, hat man also gegen das Prinzip des Rituals versto-ßen, so entschuldigt man sich mit ᇍϡ䍋duì bù qǐ. Man entschuldigt sich, weil man ge-gen gängige Umgangsformen verstoßen hat. Im Gege-gensatz dazu hat die Entschuldigung in Europa oder Amerika I’m sorry nicht unbedingt etwas mit dem Gegenüber zu tun, sondern eher mit dem Gefühl etwas Falsches gesagt oder getan zu haben. Sie ist also Ergebnis der Beurteilung des eigenen individuellen Verhaltens.320