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Die Eigenschaften von 䴶ᄤ miànzi

4. Relevante soziokulturelle Merkmale Chinas und die korrespondie-

4.2 Kulturelle Eigenschaften Chinas aus chinesischer Sicht

4.2.3 䴶ᄤ miànzi und 㜌 liǎn

4.2.3.4 䴶ᄤ miànzi in der modernen chinesischen Gesellschaft

4.2.3.4.2 Die Eigenschaften von 䴶ᄤ miànzi

Auf der Basis der Darstellung des vorangehenden Abschnitts können die beiden Begriffe des Gesichts − 㜌 liǎn und 䴶ᄤ miànzi – nun erklärt werden. Im Wesentlichen können je-ne Unterbegriffe, die mit dem Begriff 䴶ᄤ miànzi in Verbindung gebracht werden, in der heutigen chinesischen Gesellschaft in zwei Klassen zusammengefasst werden. Die erste Klasse beschreibt die Eigenschaften des Gesichtes (㜌 liǎn und 䴶ᄤmiànzi); die zweite bezieht sich auf die sozialen Interaktionen. Auf dieser Grundlage sind im Gesichtskonzept vor allem folgende Charakteristika zu beachten.

• ৡmíng (Namen) und ᅲ shí (Inhalt) im Gesicht

Wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, handelt es sich bei 䴶ᄤ miànzi um ein situatives ‚Ich‘, eine Selbstdarstellung, die man in einer bestimmten Situation gewählt hat.

Nach dem Schaubild von Hsu sollte jeder Teilnehmer bei einer sozialen Interaktion das Gesicht des anderen wahrgenommen haben. In der westlichen, individualisierten Gesell-schaft bezieht sich 䴶ᄤ miànzi vornehmlich auf die biologischen Eigenschaften des Ge-sichtes. Dieses Gesicht sollte über eine bestimmte Situation hinaus seine Eigenschaften beibehalten – eine Einheit bilden.

Nach dem Idealbild des Konfuzianismus gebührt jenem, der den sozialen und morali-schen Ansprüchen genügt, ein höherer sozialer Rang. In der traditionellen konfuzianimorali-schen Gesellschaft mag dieser Anspruch richtig sein. Das nach der Industrialisierung der ostasia-tischen Gesellschaften neu entstandene soziale System funktioniert jedoch nach seiner ei-genen Logik; hier sind Geld und Macht ausschlaggebend für den sozialen Rang. In solchen

327 Ebd. S.324.

modernen Gesellschaftssystemen zeigt ৡ míng ‚der Name‘ zwar die besondere Stellung des Individuums in einem sozialen Kampfort. ᅲshí der ‚ Inhalt‘ oder die ‚Tatsache‘ be-weist jedoch nicht zwangsläufig, dass derjenige, der ᅲ shí durch ৡ míng ausweisen kann auch zwangsläufig die fünf Beziehungen des Konfuzianismus (ѨӺ Wǔlún) praktiziert hat.

Auch 㜌 liǎn kann sich zu Macht wandeln, wodurch das Individuum Zugang zu gewissen Ressourcen gewinnt.328

• ߯䴶ᄤ chuàng miànzi (das Gesicht aufbauen) undᮄ䴶ᄤ xīn miànzi (neues Gesicht) Die Ressourcen des Kampfortes werden wie beschriebenen in vier Kategorien unterteilt.

Foa (2012) teilt die in der Gesellschaft eintauschbaren Ressourcen, in sechs Arten ein:

Geld, Liebe, Status, Information, Service und Waren.329 Unabhängig davon, von welcher der beiden Annahmen man ausgeht, ergibt sich ein Interaktionskontext. Je mehr Ressour-cen man kontrolliert, desto höher ist die soziale Stellung 䴶ᄤ miànzi und desto stärker der Einfluss innerhalb der Gesellschaft.330

• ໮䞡䴶ᄤ duōchóng miànzi (Vielseitigkeit des Gesichts)

Im Konfuzianismus spielt das ‚ᇞ ᇞ Zūnzūn-Prinzip‘ (wörtl. respektieren Ältere und Ranghöhere) eine große Rolle. Demnach soll eine Person, die einen höheren Rang innehat, auch mehr Macht besitzen. 䴶ᄤ miànzi wird unter Chinesen darum oft in Gestalt von Macht bemessen, auf die man in einem bestimmten Kampfort zurückgreifen kann. Inner-halb eines Kampfortes hängt der Status eines Individuums wiederum mit seiner Beziehung zu den anderen Interaktionsbeteiligten zusammen. Im Kampfort des Lebens wird der sozia-le Rang anscheinend durch andere Faktoren mitbestimmt. Dabei können wir vom Schau-bild Hsus ausgehend die Faktoren für diverse Gesellschaften ableiten:

- In der Intimgesellschaft (Familie oder Verwandtschaft) gelten die fünf konfu-zianischen Beziehungen, die den sozialen Rang bestimmen.

- In Instrumentalgesellschaften sind es Geld und Macht, die den sozialen Status wesentlich beeinflussen.

328 Ebd. S.324f.

329 Hwang (2004:325); Foa/Foa (2012).

330 Ebd. S. 325; Liang (1998:275).

Ein Mensch verfügt also auch in dieser Betrachtungsperspektive nicht allein nur über ein, sondern vielfältige Ausgestaltungen von 䴶ᄤ miànzi.331 Die Größe bzw. Vielfalt von 䴶ᄤ miànzi kann sich je nach der Vielfalt der sozialen Interaktion zusätzlich noch ändern. So hat ein Politiker oder Geschäftsmann sicher mehr soziale Kontakte zu pflegen, als bspw.

ein einfacher Büroangestellter oder eine Hausfrau.332

• ᅲ䴶ᄤshí miànzi (echtes Gesicht) und㰮䴶ᄤ xū miànzi (falsches Gesicht)

Eine Person kann sich ein Gesicht neu erschaffen – ᮄ䴶ᄤ xīn miànzi, ein Gesicht neu kreieren. Das neu geschaffene Gesicht kann echt oder falsch sein. Hinsichtlich des Res-sourcenansatzes kann man davon ausgehen, dass eine Person, die tatsächlich über Macht und Ressourcen verfügt, ein ‚echtes Gesicht‘ hat. Dagegen verfügt eine Person über ein falsches Gesicht, wenn sie in der Tat nicht über einsetzbare bestimmte Ressourcen verfügt, sondern lediglich durch bestimmte Methoden der interpersonellen Kommunikation bei an-deren den Eindruck von Macht vermitteln möchte.333

In der heutigen modernen chinesischen Gesellschaft können sich die Kampforte sozialer Interaktion schnell ändern. Wenn eine Person in einem bestimmten Kampfort ihr Ziel er-reichen will (dadurch ergibt sich die Intentionsstruktur), kann sie mithilfe verschiedener Methoden Macht vortäuschen. Beispiele für solche scheinbare Machtbilder sind die von Fao (2012) angezeigten Kategorien der Ressourcen innerhalb eines Kampfortes wie z. B.

Bekleidung, schöne Häuser, teure Autos, Titel, Markenwaren oder schön ausstaffierte Bü-roräume (alles in allem also materiellen Dinge).334 Diese künstlich erschafften Ausdrucks-formen scheinbarer Macht kann man als falsches 䴶ᄤ miànzi bezeichnen.

In der heutigen Gesellschaft ist es schwierig, eine klare Trennlinie zwischen falschem und echtem 䴶ᄤ miànzi zu ziehen. Zum Beispiel kann eine Person schnell durch die Mas-senmedien an Bekanntheit und somit an 䴶ᄤ miànzi gewinnen. Dieses 䴶ᄤ miànzi muss wiederum nicht an ihrer Wahrheit ᅲ shí entsprechen. In diesem Fall spricht man im Chi-nesischen davon – ‚dass er einen falschen Namen trägt‘ – 㰮ᕫ⌾ৡ xūdé làngmíng. Den-noch kann die Person trotz des falschen, scheinbaren Rufes Macht über bestimmte

331 Die diversen Gesichter, die eine Person in der chinesischen Gesellschaft annehmen kann, wurden schon weiter oben in unterschiedlichen Kontexten dargestellt. Dabei wurde gesagt, dass die unterschiedlichen Be-ziehungen und darüber hinaus auch das Familien-Gesicht eine weitere Eigenschaft von 䴶ᄤ miànzi darstel-len.

332 Hwang (2004:326).

333 Ebd.

334 Vgl. hierzu auch die Ratschläge und Hinweise von Tan (2005:119) für den Umgang mit Symbolen und symbolischen Handlung im Geschäft mit China.

sourcen erhalten. Wenn dies offensichtlich sein sollte, wird dies mit dem Idiom ‚Man kennt die Fassade, aber nicht das Herz einer Person‘ – ⶹҎⶹ䴶ˈϡⶹᖗ zhīrén zhīmiàn, buzhīxīn beschrieben.335

Darum gilt, einem Fremden nicht zu viel von sich selbst zu erzählen, sondern ihn erst in seinem Verhalten an verschiedenen Kampforten genauer kennenzulernen.