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1 Pathophysiologie des Schmerzes sowie Aspekte der Schmerztherapie . Definition Schmerz /Nozizeption

1.4 Präventive Schmerztherapie

Da die periphere wie die zentrale Sensibilisierung des Nervensystems zu einer beachtlichen Verstärkung des Schmerzerlebnisses führt, muss Ziel der Schmerztherapie die Schmerzprophylaxe sein, zumindest sofern es sich um planbare, operative Eingriffe handelt.

Dadurch kann der postoperativ zu erwartende Schmerzgrad deutlich gesenkt und die postoperativ erforderlichen Analgetikadosen drastisch reduziert werden. Diese Form der Schmerztherapie wird als präventive Schmerztherapie („preemptive analgesia“) bezeichnet (WOOLF u. CHONG 1993; BRIDENBAUGH 1994; TVERSKOY et al. 1994; AGUILAR et al. 1996; FLETCHER et al. 1996; PEDERSON et al. 1996; ROCKEMANN et al. 1996;

LASCELLES et al. 1997; LASCELLES et al. 1998; REESE et al. 2000; MATHEWS et al.

2001; REUBEN u. SKLAR 2002; TRONCY et al. 2002). Im Rahmen der präventiven Analgesie wird daher das Analgetikum bereits vor Setzen des Operationstraumas verabreicht.

In einer Studie am Menschen konnte bei Thorakotomiepatienten durch präoperativ verabreichtes Fentanyl (epidural) in den ersten 12 bis 24 Stunden nach erfolgtem Eingriff ein deutlich geringerer Schmerzgrad, gemessen am Analgetikumverbrauch, detektiert werden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die Fentanyl erst postoperativ erhalten hatte (KATZ et al.

1992). Intra operativ erhielten diese Patientinnen Isofluran in einem Sauerstoff-/Lachgasgemisch nach einer Prämedikation mit Diazepam. Dies bestätigt die Effizienz der Opioide bei der Verhinderung der zentralen Sensibilisierung und bestätigt experimentelle Daten (DICKENSON u. SULLIVAN 1987; DICKENSON et al. 1990). So konnte auch bei Frauen nach elektiver Hysterektomie, die bereits präventiv sowie intraoperativ mit Fentanyl versorgt worden waren, eine deutlich verminderte Dolenz im Bereich der Operationswunde festgestellt werden im Vergleich zu Patientinnen einer Kontrollgruppe, die das Analgetikum erst postoperativ und intraoperativ lediglich Isofluran in einem Sauerstoff-/Luftgemisch nach zuvoriger Prämedikation mit Midazolam und Induktion mit Thiopental erhalten hatten. Dieser Unterschied zwischen den Gruppen ließ sich in den ersten 48 Stunden nach dem Eingriff nachweisen (TVERSKOY et al. 1994). Auch weitere humanmedizinische Studien bestätigen die Vorteile einer präoperativen Opioidanalgesie gemessen am besseren Allgemeinbefinden der Patienten, niedrigeren postoperativ zu applizierenden Analgetikadosen und einer verminderten Stressantwort (MOOTE 1993; AGUILAR et al. 1996; FLETCHER et al. 1996).

In einer Untersuchung an Hunden nach Ovariohysterektomie konnte durch präventive Gabe von Pethidin der Entwicklung einer Hyperalgesie im Operationsgebiet sowie der Ausbildung einer Allodynie effektiver entgegengewirkt werden als durch eine Gabe des Opioids im Anschluss an die Operation (LASCELLES et al. 1997). Die Allgemeinanästhesie wurde in dieser Studie mit Thiopental eingeleitet und mit Halothan in einem Sauerstoff-/Lachgasgemisch fortgeführt. Die Autoren schlossen daraus auf eine Verminderung der zentralen Sensibilisierung durch die präoperative Gabe von Pethidin. Dabei entfalten die Opioide ihre analgetische Wirkung u. a. durch Hemmung der Dorsalhornneurone, indem sie einerseits die Neurotransmitterfreisetzung (Substanz P) an der präsynaptischen Membran blockieren und andererseits eine Hyperpolarisation der postsynaptischen Membran durch

Öffnen der Kalium- und Schließen der Kalzium-Kanäle bewirken (ZIMMERMANN 1983;

WOOLF u. WALL 1986 b; DICKENSON 1991).

Darüber hinaus kann auch durch die präventive Gabe von NSAIDs der postoperative Schmerzgrad gesenkt werden. Dieses konnte beim Menschen im Anschluss an Zahnextraktionen (DIONNE u. COOPER 1978; HILL et al. 1978; DUPUIS et al. 1988;

CAMPBELL u. KENDRICK 1990; SMITH u. BROOK 1990), intraabdominale (OWEN et al.

1986), laparoskopische (ROSENBLUM et al. 1991) und orthopädische Eingriffe (HANNA et al. 2003) bewiesen werden. Präoperativ verabreichtes Ibuprofen zeigte dabei einen länger anhaltenden analgetischen Effekt als postoperativ verabreichtes Fentanyl (ROSENBLUM et al. 1991). Durch den zusätzlichen präoperativen Einsatz von Ketoprofen oder Dexketoprofen beim Menschen vor orthopädischen Eingriffen wurde der postoperative Morphinbedarf um 30% gesenkt (HANNA et al. 2003). NSAIDs wirken der peripheren Sensibilisierung der Nozizeptoren entgegen, indem sie das Cyclooxygenasesystem und damit die Prostaglandinsynthese hemmen. Dadurch vermindert sich außerdem der sensorische Input aus der Peripherie ins Dorsalhorn, wodurch auch der zentralen Sensibilisierung entgegengewirkt wird (McCORMACK u. BRUNE 1991). Wahrscheinlich haben NSAIDs darüber hinaus aber auch noch eine direkte zentrale Wirkung, indem sie Einfluss nehmen auf spinale und supraspinale Mechanismen, die an der Entstehung der zentralen Sensibilisierung beteiligt sind (WILLER et al. 1989; MALMBERG u. YAKSH 1992 a). Entsprechend konnte gezeigt werden, dass einige NSAIDs die deszendierenden serotoninergen und noradrenergen Bahnen des intrinsischen schmerzhemmenden Systems aktivieren (TAIWO u. LEVINE 1988;

TJOLSEN et al. 1991). LASCELLES et al. (1998) konnten in einer Studie beim Hund nach Ovariohysterektomie durch präoperativ appliziertes Carprofen eine deutlich bessere postoperative Analgesie erzielen als durch die postoperative Gabe des NSAIDs. Gleiches wurde auch für Meloxicam und Ketoprofen nach intraabdominalen Eingriffen an 20 Hunden festgestellt (MATHEWS et al. 2001). Zudem zeigten sich beide NSAIDs in ihrer Wirkung dem Opioid-Agonisten/Antagonisten Butorphanol überlegen. In einer weiteren Studie an Hunden, die einer Kreuzbandoperation unterzogen werden mussten, konnte durch präventive Gabe von Carprofen oder Ketoprofen ebenfalls eine deutliche Reduktion des Schmerzgrades in der postoperativen Phase erzielt werden (GRISNEAUX et al. 1999). Im Gegensatz dazu konnten REESE et al. (2000) und GAYNOR et al. (2002) bei Kreuzbandpatienten durch eine präoperative Gabe von Carprofen keine Beeinflussung des postoperativen Schmerzgrades herbeiführen. Allerdings lag die von ihnen zweimal täglich oral verabreichte Carprofendosis von 2,2 mg/kg KM um fast 50% unter der in den anderen Studien verabreichten parenteralen Dosis von 4 mg/kg KM.

In vielen klinischen Studien am Menschen konnte auch durch eine präoperativ durchgeführte Lokalanästhesie (Gewebeinfiltration oder Nervenblock) der postoperative Schmerzgrad, gemessen an der postoperativ erforderlichen Analgetikadosis, deutlich gesenkt werden.

Dieses wurde für Tonsillektomien (JEBELES et al. 1991), Inguinalhernienoperationen (TVERSKOY et al. 1990), Zahnextraktionen (OWEN et al. 1986), abdominale

(SCHUMANN et al. 2003) und orthopädische Eingriffe (RINGROSE u. CROSS 1984;

McQUAY et al. 1988; AIDA et al. 1999; MULROY et al. 2001; FRERICHS u. JANIS 2003) bewiesen. Entsprechend konnte bei Patienten, die sich einer Kniegelenksoperation unterziehen mussten, durch eine präoperative Blockade des N. femoralis der postoperative Opioidverbrauch um bis zu 50% gesenkt werden (RINGROSE u. CROSS 1984; MULROY et al. 2001). Auch bei Patienten, die an einer Inguinalhernie operiert wurden, konnte nach präoperativer Infiltrationsanästhesie des Operationsgebietes eine Reduzierung der Analgetikumdosis in der postoperativen Phase sowie ein deutlich verlängertes Intervall bis zur ersten postoperativen Analgetikumgabe erzielt werden. Die Kontrollgruppe hatte die Infiltrationsanästhesie erst unmittelbar postoperativ erhalten (EJLERSEN et al. 1992).

Nach TVERSKOY et al. (1994) soll die präventive Wirkung der Lokalanästhetika höher einzuordnen sein als die der Opioide. Die Autoren begründen dies mit der unselektiven Hemmung aller sympathischen, sensorischen und motorischen Fasern, während Opioide lediglich die sensorischen Nervenfasern hemmen. In einer weiteren humanmedizinischen Studie an Inguinalhernienpatienten konnte der Vorteil einer präoperativen Infiltrationsanästhesie gegenüber einer postoperativen dagegen nicht bestätigt werden (DIERKING et al. 1992). Möglicherweise überdeckte die bei allen Patienten durchgeführte intraoperative Fentanylinfusion die Unterschiede, denn beide Gruppen zeigten postoperativ vergleichsweise niedrige Schmerzgrade (DIERKING et al. 1992). Während in einigen humanmedizinischen Studien auch einer präoperativen epiduralen oder intrathekalen Lokalanästhetikumgabe eine messbare postoperative analgetische Wirkung zugesprochen werden konnte (TVERSKOY et al. 1990; HEARD et al. 1992), wurde dies in anderen Studien nicht bestätigt (RICE et al. 1990; DAHL et al. 1992; PRYL et al. 1993). Einige Studien belegen sogar eine überlegene Wirkung lokaler (Nervenblock, Infiltration) gegenüber rückenmarksnahen lokalanästhetischen Techniken (BUGEDO et al. 1990; EJLERSEN et al.

1992). Möglicherweise führt die lokale Infiltrationsanästhesie mit einem Lokalanästhetikum neben der Blockade der Natrium-Kanäle an den Nervenfasern auch zu einem zusätzlichen antiinflammatorischen Effekt. Dies könnte der Grund für die überlegene Wirkung der Infiltrationsanästhesie sein (RIMBACK et al. 1988). Viele Autoren sprechen einer kurzwirkenden Epidural- oder Intrathekalanästhesie zwar eine effektive intraoperative analgetische Wirkung zu, verneinen aber einen fördernden Einfluss auf die postoperative Analgesie und fordern zusätzliche Opioidgaben (BUGEDO et al. 1990; MOGENSEN et al.

1992 b). AIDA et al. (1999) sprechen dagegen von einer unterschiedlichen Effektivität der Epiduralanästhesie in Abhängigkeit von Lokalisation und Art des chirurgischen Eingriffes.

Entsprechend konnten sie einen präventiven Effekt einer Epiduralanästhesie mit Morphin nur nach Gliedmaßenoperationen und Mastektomien, nicht jedoch nach Laparotomien, wenn eine viszero-peritoneale Nozizeption beteiligt war, nachweisen. Sie schlossen daraus, dass die Epiduralanästhesie in allen Fällen, in denen Hirnstamm und oberes Halsmark via Vagus und Phrenicus involviert sind, uneffektiv bleibt.

Da auch durch ein operativ gesetztes Trauma mit Gewebeverletzung - infolge entstehender Inflammation - ein permanenter nozizeptiver Input ins Dorsalhorn resultiert, ist eine einzige

präventive Analgetikumgabe nicht ausreichend. Vielmehr muss auch über die Wirkungsdauer des Analgetikums hinaus in der intra- wie postoperativen Phase die Schmerzmittelgabe fortgesetzt werden, um eine Sensibilisierung des Nervensystems für die Dauer des verstärkten nozizeptiven Inputs aus dem Operationsgebiet verhindern zu können. Dieses wird von WOOLF und CHONG (1993) als kontinuierliche präventive Schmerztherapie bezeichnet.

Die Theorie der präventiven Analgesie impliziert jedoch nicht, dass eine Analgetikumgabe nach bereits erfolgtem, schwerem Trauma nicht sinnvoll oder gar erfolgreich wäre. Bei Unfallpatienten sollte die Schmerztherapie so schnell wie möglich nach dem Trauma begonnen werden: Denn je länger der Schmerz unbeeinflusst besteht, desto größer ist der Grad der peripheren und zentralen Sensibilisierung und desto schwieriger gestaltet sich infolgedessen die postoperative Schmerztherapie (WALL 1988; McQUAY 1992; WOOLF u.

DECOSTERD 1999; YAKSH 1999; MUIR u. WOOLF 2001). Zudem kann bei Traumapatienten durch eine frühzeitige und präoperativ einsetzende Schmerztherapie eine weitere Sensibilisierung des Nervensystems insbesondere infolge des zusätzlichen Operationstraumas verhindert werden (WOOLF u. CHONG 1993). So konnten NORMAN et al. (2001) bei Patienten mit Tarsalgelenksfrakturen durch präoperativ verabreichtes Ketorolac den postoperativen Schmerzgrad sehr viel effektiver senken als durch die postoperative Gabe, wodurch ein deutlicher präventiver Effekt auch bei Traumapatienten mit einer bereits eingetretenen Sensibilisierung der Nervensystems bestätigt werden konnte. Ein ähnlicher Effekt wurde auch nach Laminektomien beim Menschen nachgewiesen, obwohl auch hier alle Patienten bereits vor der Operation teilweise starke Schmerzen aufwiesen (KUNDRA et al.

1997). KISSIN (1994, 1996) definiert den Terminus der „präventiven Analgesie“ daher nicht durch den zeitlichen Beginn der Schmerztherapie, sondern allein dadurch, ob eine weitere Sensibilisierung des Nervensystems verhindert werden kann oder nicht.