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3.3 Chancen und Risiken von Vertrauensarbeitszeit aus

3.3.2 Nachteile und Risiken

Eine andere, eher skeptische Auffassung von Vertrauensarbeitszeit wird von Seiten einiger Gewerkschaften, von Unternehmen und Beschäftigten sowie z. T. von staatli-chen Überwachungsbehörden (z. B. Staatliche Ämter für Arbeitsschutz, Gewerbe-aufsichtsämter) vor dem Hintergrund entsprechend negativer Praxiserfahrungen oder Berichte Betroffener geteilt. Kritiker der Vertrauensarbeitszeit sehen eher die Gefahr der „Mitarbeiter-Ausbeutung“ durch den Verzicht auf jegliche Arbeitszeitdo-kumentation und -kontrolle sowie die vorherrschende Ergebnisorientierung. Als kriti-sche Aspekte aus Unternehmenssicht werden insbesondere Führungs- und Koordi-nationsprobleme in Vertrauensarbeitszeit hervor gehoben. Im einzelnen werden fol-gende Nachteile und Risiken von Vertrauensarbeitszeit berichtet und diskutiert (Schindler, 2004; Arbeitnehmerkammer Bremen, 2003; Dieckmann, 2003; Wingen u.

Schulze, 2003b; Geramanis, 2002; Haipeter et al., 2002; Hamm, 2002 u. 2000;

Schaumburg, 2002; ver.di, 2002; Zanker, 2002; Glißmann u. Peters, 2001; Haipeter, 2001; Pickshaus et al., 2001; Glißmann, 2000a u. 2000b; IG Metall, 2000; Picks-haus, 2000; Holch, 1999; Peters, 1999):

Nachteile und Risiken für Beschäftigte

Vermarktlichung und indirekte Steuerung der Mitarbeiter

Durch die Orientierung der Beschäftigten an unternehmerischen Zielen und Ergeb-nissen wird der Arbeitseinsatz nicht wie in anderen Arbeitszeitmodellen durch die Vorgesetzten über die Arbeitszeit gesteuert sondern indirekt durch den Markt und die Kunden. Mitarbeiter werden als Einzelpersonen direkt mit dem Markt und den Kun-denwünschen konfrontiert. Sie gelangen dabei in die Rolle eines unselbstständigen Selbstständigen und werden unternehmerischen Handlungszwängen ausgesetzt, ohne gleichzeitig die unternehmerischen Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Ressourceneinsatzes übertragen zu bekommen.

Entgrenzung von Arbeit und Freizeit

Um die Flexibilitätsanforderungen des Marktes und der Kunden erfüllen zu können, findet häufig eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit statt, die sich z.B. darin zeigt,

dass Arbeitnehmer sich verpflichtet fühlen, jederzeit und an jedem Ort für ihre Kun-den erreichbar zu sein. Beispiele hierfür sind die Bereitschaft zur Entgegennahme von Anrufen per Handy im Urlaub sowie die Arbeit auf Abruf an Wochenenden und Feiertagen.

Leistungsverdichtung und Rationalisierung

Die der Vertrauensarbeitszeit innewohnenden Effizienz- und Produktivitätssteige-rungspotenziale führen bei ihrer Nutzung zu einer Selbstrationalisierung der Be-schäftigten. Hieraus resultieren Zeiteinsparungen, die jedoch aus arbeitsvertragli-chen Gründen der Bereitstellung einer vereinbarten Arbeitszeit durch die Beschäf-tigten ausschließlich dem Unternehmen zu gute kommen. „Wer schneller ist, schafft damit also vor allem den Freiraum dafür, mehr innerhalb der vereinbarten Zeit zu ar-beiten. [...] Im Ergebnis bewirkt Vertrauensarbeitszeit so eine selbst organisierte Ar-beitsverdichtung, die mittelfristig zur Erhöhung des Arbeitsvolumens führt.“ (Hamm, 2000, S. 153). Damit sind auch finanzielle Einbußen der Beschäftigten verbunden, sofern Mehrarbeit, die im bisherigen Arbeitszeitmodell extra vergütet wurde, reduziert wird.

Darüber hinaus können Rationalisierungseffekte von Vertrauensarbeitszeit durch ei-ne Reduzierung des Personalbestands verstärkt werden, um mehr Arbeit nicht durch die gleiche Beschäftigtenzahl, sondern durch weniger Mitarbeiter leisten zu lassen.

In diesem Zusammenhang können Personalfreisetzungen eine mögliche Folge von Vertrauensarbeitszeit sein.

Unbezahlte Mehrarbeit

Andererseits können vermehrt Überstunden auftreten, wenn die skizzierten Rationa-lisierungsmechanismen nicht greifen und gleichzeitig zusätzliche Aufgaben von den Führungskräften auf die Mitarbeiter delegiert werden. Zudem kann sich die arbeits-teilige Organisation hinsichtlich der Auftragsgewinnung und -abwicklung verstärkend auf die Ausweitung der Arbeitszeit auswirken, wenn Projekte oder Ziele ohne Be-rücksichtigung des erforderlichen Zeitaufwands geplant und zur Bearbeitung an an-derer Stelle weiter gegeben werden. Die resultierende Mehrarbeit wird in der Regel nicht durch zusätzliches Entgelt ausgeglichen und kann bei fehlenden Kompensati-onsmöglichkeiten der Mitarbeiter zu Überlastsituationen führen. Besonders

leis-tungsschwächere Mitarbeiter, die langsamer als ihre Kollegen ihre Arbeit verrichten, können dabei als Verlierer an den Rand gedrängt werden.

Zunehmendes Misstrauen, Konkurrenz und Mobbing

Da in anderen Arbeitszeitmodellen häufig eine Verteilungsgerechtigkeit hinsichtlich der individuellen Arbeitsbelastung aufgrund vergleichbarer Arbeitszeitdauer unter-stellt wird, kann bei Vertrauensarbeitszeit der Verdacht entstehen, dass Mitarbeiter, die weniger (sichtbare) Arbeitszeit ableisten, sich als Trittbrettfahrer zu Lasten ihrer Kollegen entlasten. Dabei wird geleistete Arbeit außerhalb des Unternehmens oder an Wochenenden und Feiertagen in der subjektiven Wahrnehmung der Kollegen nicht berücksichtigt. Solche Situationen können zu Misstrauen, zunehmendem Kon-kurrenzverhalten, gegenseitiger Überwachung und sozialen Konflikten zwischen Kollegen bis hin zum Mobbing Einzelner führen.

Überforderung und Selbstausbeutung, Gesundheitliche Gefährdungen

Auf der individuellen Ebene kann das Zusammentreffen von Leistungsdruck, Arbeits-verdichtung, Zunahme der Überstunden und fehlenden Ausgleichsmöglichkeiten zur chronischen Überforderung von Beschäftigten führen. Insbesondere wenn die Ar-beitszeiten nicht selbst erfasst werden, was in der betrieblichen Vertrauensarbeits-zeit-Praxis häufig vorkommt, bestehen keine Nachweismöglichkeiten der individuel-len Überlastung. Als Folgen für die betroffenen Beschäftigten werden verschiedene Ängste (z.B. Versagensängste, Angst vor Rechtfertigungsdruck bei Überlastgesprä-chen, schlechter Beurteilung, „Karriereknick“ und Arbeitsplatzverlust) und diverse gesundheitliche Auswirkungen bis zur Erholungsunfähigkeit berichtet (vgl. Kap. 2.6).

Reaktionen betroffener Mitarbeiter sind eine zunehmende Selbstausbeutung z.B.

über das Verschweigen von Überstunden sowie die Vernachlässigung nicht-produktiver Zeiten (Ruhezeiten, Pausen, Urlaub, Lernzeiten, Gespräche „auf dem Flur“). Zudem werden auftretende Probleme mit der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben angeführt, die durch sinkende Freizeitkontingente und eine erhöhte Pla-nungsunsicherheit bei privaten Terminen bedingt sind.

Umgehung gesetzlicher Schutzregelungen, tarifvertraglicher und betrieblicher Vereinbarungen

In Vertrauensarbeitszeit-Modellen besteht aufgrund des arbeitgeberseitigen Ver-zichts auf Überwachung und Kontrolle der geleisteten Arbeitszeit durch den Arbeit-nehmer sowie die Hervorhebung der Ergebnisorientierung in der Arbeit die Gefahr der Umgehung gesetzlicher Schutzregelungen (BGB, ArbZG, ArbSchG, BetrVG, JarbSchG, MuSchG, u.a.) und tarifvertraglicher sowie betrieblicher Vereinbarungen zur Arbeitszeitgestaltung. Insbesondere die Regelungen des ArbZG zur täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit (§ 3), zur Aufzeichnungspflicht (§ 16) und Ein-haltung des Ausgleichszeitraums von Mehrarbeitsstunden (§ 3) sowie zur EinEin-haltung von Pausen- und Ruhezeiten (§§ 4, 5) werden in der Praxis häufig unterlaufen, wo-bei die Arwo-beitgeber diese Pflichten auf die Arwo-beitnehmer übertragen und die Arwo-beit- Arbeit-nehmer sich aus diversen oben skizzierten Gründen vielfach nicht um die Einhaltung der Regelungen kümmern. Ein weiteres rechtliches Problem liegt in der Unverein-barkeit einer ausschließlichen Ergebnisorientierung mit dem arbeitsvertraglichen Dienstverhältnis des Arbeitnehmers, der prinzipiell nur für die Bereitstellung seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit und nicht für die Erzielung bestimmter Ergeb-nisse verantwortlich ist (s. Kap. 3.1.1).

Einflussverlust des Betriebsrats

Schließlich wird häufig das Risiko eines Verlusts an Mitbestimmung und Einfluss des Betriebsrats bei der Arbeitszeitregulierung betont. Während die Entscheidung über die Einführung von Vertrauensarbeitszeit und die betrieblichen Bedingungen der Mit-bestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG unterliegt, wird bei in Kraft treten einer ent-sprechenden Betriebsvereinbarung die konkrete Aushandlung über Lage und Ver-teilung der Arbeitzeit nur noch zwischen Arbeitnehmer und Vorgesetztem vorge-nommen. Dadurch wird die größere individuelle Zeitautonomie der Beschäftigten durch eine Verschlechterung der Verhandlungsposition des Betriebsrats und damit indirekt auch des Arbeitnehmers konterkariert.

Allerdings ist der Betriebsrat dazu angehalten, auf seine Mitbestimmungsrechte nicht gänzlich zu verzichten (BAG vom 26.08.1997 – 1 ABR 12/97) und kann gemäß § 28a BetrVG nur unter Vorliegen bestimmter Voraussetzungen seine Mitbestim-mungsrechte auf Beschäftigte übertragen. Darüber hinaus hat die Rechtssprechung

das Mitbestimmungsrecht in Arbeitszeitfragen nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG derart ausgelegt, dass die Arbeitnehmerinteressen hinsichtlich „einer sinnvollen Koordina-tion von Arbeits- und Freizeit zu unterstützen“ (Hamm, 2002, S. 83) sind (BAG vom 15.12.1992 – 1 ABR 38/92). Schließlich bleibt die Überwachungsfunktion des Be-triebsrats nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG auch in Vertrauensarbeitszeit-Modellen be-stehen. So hat das BAG dem Betriebsrat weitreichende Auskunftsansprüche hin-sichtlich der „Kenntnis von Beginn und Ende der täglichen und vom Umfang der tat-sächlich geleisteten wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer“ (BAG vom 6.5.2003,1 ABR 13/02) bei Vertrauensarbeitszeit zugebilligt.

Nachteile und Risiken für Unternehmen

Kontroll-/Machtverlust der Führungskräfte

Von Seiten einiger Unternehmen wird bei Vertrauensarbeitszeit ein Macht- und Kon-trollverlust der Führungskräfte befürchtet, da diese ihre Mitarbeiter nicht über Ar-beitszeitvorgaben steuern sollen. Statt dessen müssen sich die Vorgesetzten ver-stärkt um die Vereinbarung von Zielen und die Unterstützung der Ergebnisorientie-rung ihrer Mitarbeiter z.B. durch Bereitstellung von Ressourcen und Abbau von Überlastsituationen kümmern, was ein verändertes Führungsverhalten erforderlich macht. Eine unzureichende Bereitschaft und Widerstände der Führungskräfte, ihre altbewährten Führungsstile zu verändern, können den Erfolg von Vertrauensarbeits-zeit in Frage stellen.

Konflikte bei Überlastsituationen mit negativen Auswirkungen auf die Vertrau-enskultur

Eine weitere Gefahr wird darin gesehen, dass häufige Konflikte zwischen Mitarbei-tern und Führungskräften hinsichtlich des Umgangs angezeigten Überlastsituationen auftreten können, die sich negativ auf die Vertrauenskultur im Unternehmen auswir-ken. Während die Mitarbeiter tendenziell eher Ursachen für Überlastsituationen in unrealistischen Zielvorgaben oder zu großen Aufgabenumfängen sehen, attribuieren Führungskräfte eher auf eine unzureichende Arbeitsleistung der betroffenen Mitar-beiter als Ursache für eine steigende Anzahl von Überstunden.

Unregelmäßige Erreichbarkeit einzelner Beschäftigter und erhöhter Koordinie-rungsaufwand bei Absprachen/Abstimmung

Aufgrund der individuell unterschiedlichen Anwesenheitszeiten der Beschäftigten sinkt prinzipiell die Erreichbarkeit einzelner Mitarbeiter. Es entsteht ein erhöhter Ko-ordinationsaufwand zur Vereinbarung von regelmäßigen gemeinsamen Anwesen-heitszeiten mehrerer Beschäftigter sowie zur Abstimmung gemeinsamer Aufgaben und Termine.

Probleme mit der gesetzlich vorgegebenen Dokumentation der über die werk-tägliche Arbeitszeit hinaus gehenden Arbeitszeit

Wenn die Arbeitszeiten nicht mehr zentral erfasst werden, sondern durch Selbstauf-schreibung der Mitarbeiter, besteht die Gefahr für Arbeitgeber, dass nicht alle Mitar-beiter ihren Aufzeichnungspflichten nach § 16 ArbZG sorgfältig nachkommen und auch andere rechtliche Bestimmungen außer acht lassen. Letztendlich bleibt jedoch der Arbeitgeber verantwortlich für die Einhaltung der gesetzlichen, tarifvertraglichen und betrieblichen Arbeitszeitregelungen.

Missbrauchspotenzial des entgegen gebrachten Vertrauens

Prinzipiell können Beschäftigte im Durchschnitt weniger arbeiten als vertraglich ver-einbart, ohne dass der jeweilige Vorgesetzte diesen Missbrauch bemerkt.

3.3.3 Zwischenfazit II: Eine neutral-differenzierte Perspektive auf