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Gesundheitliche Belastungen in flexiblen Arbeitszeitmodellen

2.6 Gesundheitliche Auswirkungen von langen Arbeitszeiten und

2.6.2 Gesundheitliche Belastungen in flexiblen Arbeitszeitmodellen

Erste arbeitswissenschaftliche Ergebnisse zu gesundheitlichen Auswirkungen fle-xibler Arbeitszeiten liegen im Gegensatz zu den Erkenntnissen zu überlangen Ar-beitszeiten erst seit wenigen Jahren vor, und zwar aus dem einfachen Grund, weil flexible Arbeitszeitmodelle erst in den letzten Jahren Einzug in die betriebliche Praxis hielten. Belastungen und gesundheitliche Beschwerden im Zusammenhang mit ver-schiedenen Arbeitszeitmodellen und -umfängen hat das ISO (Institut zur Erforschung sozialer Chancen) im Jahr 1999 in einer für die BRD repräsentativen Beschäftigten-befragung erhoben (Bundesmann-Jansen et al 2000, S. 190-200). Dabei wurde die Verteilung unterschiedlicher gesundheitlicher Beschwerden nach verschiedenen Ar-beitszeitmodellen differenziert.

Als Gesamtergebnis ist festzustellen, dass die Beschäftigten, die in Normalar-beitszeitverhältnissen14 arbeiten, durchweg weniger über gesundheitliche Be-schwerden klagen als die Beschäftigten außerhalb der Normalarbeitszeit. Dies gilt für alle abgefragten Arten gesundheitlicher Beschwerden, wobei auch psychische Be-lastungen mit erfasst wurden. Die Unterschiede zwischen Normalarbeitszeit und fle-xiblen Arbeitszeitmodellen sind bei den Beschwerden im psychischen Bereich (häu-fig oder gelegentlich Nervosität, Schlafstörungen, psychische Erschöpfung) dabei deutlicher ausgeprägt als bei den körperlichen Beschwerden (Rückenschmerzen, Magenschmerzen, Kreislaufprobleme).

14 Darunter wird eine der Vollzeitbeschäftigung entsprechende Beschäftigung von 35 bis 40 Stunden vertraglich vereinbarter Wochenarbeitszeit verstanden, die von montags bis freitags tagsüber ausgeübt wird und in der Arbeitszeitlage nicht variiert.

26%

Nervosität Termin- und Leistungsdruck

% Anteile abhängig Beschäftigter

Quelle: Bundesmann-Jansen et al 2000 (N= 4.024)

Abb. 2.16 Psychische Beschwerden nach Arbeitszeitmodell I

Besonders deutliche Unterschiede sind beim Belastungsfaktor Termin- und Leis-tungsdruck festzustellen. Die Beschäftigten mit Überstunden und Schichtarbeit, Ar-beitszeitkonten und Gleitzeitarbeit fühlen sich durch Termin- und Leistungsdruck stärker belastet als Beschäftigte im Normalarbeitszeitmodell. Gleiches gilt, mit nicht ganz so deutlicher Ausprägung, für Nervosität. 19% der in Normalarbeitszeit Be-schäftigten fühlen sich häufig oder gelegentlich nervös, die BeBe-schäftigten mit flexib-len Arbeitszeiten dagegen zu 27% (s. Abb. 2.16).

Differenziert man den Belastungsfaktor Termin- und Leistungsdruck zusätzlich nach Arbeitszeitdauer und Qualifikationsgruppen, zeigt sich, dass der Termin- und Lei-stungsdruck mit steigender Arbeitszeit und mit höherer Qualifikation zunimmt (s.

Quelle: Bundesmann-Jansen et al 2000 (N=4.024)).

Auch die Möglichkeit, die Lage der Arbeitszeit selbst zu bestimmen, ist bei den höhe-ren Qualifikationsgruppen stärker ausgeprägt als bei den Gruppen mit niedriger Qualifikation, allerdings auf einem im Vergleich zur Belastung durch Termin- und Leistungsdruck erheblich niedrigeren Niveau.

13% starker Termin- und Leistungsdruck gesamt starker Termin- und

Leistungsdruck, A rbeitszeit < 35 S td./W oche

starker Termin- und Leistungsdruck, A rbeitszeit 35-40 S td./W oche

starker Termin- und Leistungsdruck, A rbeitszeit 41-45 S td./W oche

starker Termin- und Leistungsdruck, A rbeitszeit > 45 S td./W oche

Anteile abhängig Beschäftigter

B eschäftigte insgesamt Hohe Qualifikation Mittlere Qualifikation Niedrige Qualifikation

Quelle: Bundesmann-Jansen et al 2000 (N=4.024)

Abb. 2.17 Termin- und Leistungsdruck bei unterschiedlichen Arbeitszeitformen sowie Arbeitszeitsouveränität nach Qualifikationsgruppen

Ähnliche Unterschiede nach Arbeitszeitformen sind auch bei den Beschwerdearten

„Psychische Erschöpfung“ und „Schlafstörungen“ auszumachen (s. Abb. 2.18) 13%

der in Normalarbeitszeit Beschäftigten klagen über psychische Erschöpfung, dem-gegenüber 17% in flexiblen Arbeitszeitmodellen. Bei den Schlafstörungen ergibt sich ein ähnliches Bild (11% bei Normalarbeitszeit, 19% bei flexiblen Arbeitszeiten).

17%

Datenquelle: Bundesmann-Jansen et al 2000 (N=4.024)

Abb. 2.18 Psychische Beschwerden nach Arbeitszeitmodell II

Die im Vergleich zu Normalarbeitszeitverhältnissen stärker ausgeprägten psychische Belastungen der Beschäftigten in flexiblen Arbeitszeitmodellen und die gleichzeitig zunehmende Verbreitung flexibler Arbeitszeitmodelle in den letzten Jahren (vgl. Kap.

2.5), deuten auf einen Zusammenhang zur allgemein zu beobachtenden Zunahme psychischer Belastungen bei der Arbeit hin. Deren Ursachen werden mit vielfältigen Veränderungen der Organisationsstrukturen und damit der Arbeitssituation der Be-schäftigten in Zusammenhang gebracht (Beermann, 2002).

Auch bei körperlichen Belastungen sind Differenzierungen nach Arbeitszeitmodell möglich, die Unterschiede zwischen Normalarbeitszeit und flexiblen Arbeitszeiten je-doch nicht so deutlich wie bei den psychischen Belastungen. Beispielhaft werden hier die Ergebnisse für Magenschmerzen und Rückenschmerzen herausgegriffen (s.

Abb. 2.19), wobei sich z.B. zeigt, dass die Unterschiede bei Rücken- und Magen-schmerzen zwischen Normalarbeitszeit und Gleitzeit vernachlässigbar sind.

14%

12 % 14%

14%

15 % 12 %

1 3%

42%

3 8%

43 % 43 %

49 % 37 %

4 4%

0 1 0 20 30 40 50 60

alle Beru fstätig en Normalarb eitszeit Kein e Normalarb eitszeit Üb erstu n d en arb eit Sch ich tarb eit G leitzeitarb eit Arb eitszeitkon to

Mag en sch m erzen Rü cken sch m erzen An teile ab h än g ig Besch äftig ter

%

Datenquelle: Bundesmann-Jansen et al 2000 (N=4.024)

Abb. 2.19 Körperliche Beschwerden nach Arbeitszeitmodell

Was sind nun Ursachen für die genannten Belastungen? Die Ergebnisse sind mit sich wandelnden Anforderungen und Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, die mit der Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle einhergehen, zu erklären.

Einen Überblick über die Änderungen der Arbeitsbedingungen ergibt sich aus den Ergebnissen der repräsentativen Beschäftigtenumfragen, die das Institut für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) seit 1979 periodisch durchführt. In der z.Zt. neuesten Erhebung von 1998/1999 wurden die Beschäftigten nach Änderungen ausgewählter Arbeitsbe-dingungen in den letzten zwei Jahren befragt. Folgende Änderungen haben sich bei ausgewählten Arbeitsbedingungen ergeben (s. Abb. 2.20):

46%

21%

42%

19%

47%

53%

53%

66%

4%

9%

2%

7%

0% 20% 40% 60% 80% 100%

Stress/Arbeitsdruck Zahl der Überstunden Fachliche Anforderungen Möglichkeit, die Arbeit

selbst einzuteilen

zugenommen gleichgeblieben abgenommen

Datenquelle: IAB/BIBB 2000 nach Lenhard, 2001, n= 34.343

Abb. 2.20 Änderungen bei ausgewählten Arbeitsbedingungen im 2-Jahres-Zeitraum

Es wird deutlich, dass im Rückblick auf die letzten 2 Jahre die Möglichkeit, die Arbeit selbst einzuteilen, nicht im gleichen Maße gestiegen ist wie fachliche Anforderungen und die Belastungen durch Stress und Arbeitsdruck.

Zu einem ähnlichen Fazit kommen Pröll und Gude (2003) in einer Metaanalyse von Studien zu gesundheitlichen Auswirkungen flexibler Arbeitszeitformen: Positive Po-tenziale flexibler Arbeitszeitformen für Belastung und Gesundheit werden häufig von den Effekten einer Erhöhung der Anforderungen überlagert, wozu in erheblichem Umfang die verstärkte Ergebnisorientierung der Unternehmen beiträgt. Nach dieser Interpretation wird der mögliche Gewinn an Zeitsouveränität als Gesundheitsressour-ce durch die Einführung neuer Organisations- und Führungsmethoden überkompen-siert.

Ein mögliches Folgephänomen der Zunahme psychischer Belastungen am Ar-beitsplatz gekoppelt mit „entgrenzten“ Arbeitszeiten ist das Phänomen der Erho-lungsunfähigkeit (z.B. beschrieben bei Ertel und Haake (2001) für Freelancer in der Medienbranche). Erholungsunfähigkeit bezeichnet ein gesundheitlich riskantes

Ver-haltensmuster, das durch extremes Arbeitsengagement und fehlende Distanzierung zur Arbeit gekennzeichnet ist. Hier zeigt sich, dass die Flexibilisierung der Arbeits-zeiten und zunehmender Handlungsspielraum gekoppelt mit wachsenden Leistungs-anforderungen zu gesundheitlich riskanten Verhaltensweisen führen kann, da Be-schwerden körperlicher Art von den Betroffenen kaum wahrgenommen bzw. ignoriert werden. Damit stellt Erholungsunfähigkeit einerseits die Folge übermäßigen Termin-und Leistungsdrucks bei der Arbeit gekoppelt mit einem hohen Maß an Freiheit bei der Arbeitszeitgestaltung dar, andererseits ist sie ein wesentlicher Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Krankheiten (Richter u.a. 1996, Scheuch 1997).

Mit diesen Befunden verknüpft ist auch die Diskussion um das Phänomen der Ar-beitssucht – eine mit der Spiel- oder Kaufsucht vergleichbare stoffungebundene Sucht (Heide 2002) – als eine weitere extreme Folge der zunehmenden Flexibili-sierung von Arbeitszeit und -ort. Bisher gibt es keine anerkannte eigenständige Di-agnose „Arbeitssucht“ im Sinne diagnostischer Klassifikationssysteme für psychische Störungen. Arbeitssucht kann aber auf der Ebene des beobachtbaren Verhaltens und einer Analyse der zugehörigen Kognitionen und Emotionen in einen Zusam-menhang mit anderen, diagnostizierbaren Störungen gebracht werden. Dazu gehö-ren Erschöpfungssyndrom, akzentuierte Persönlichkeitszüge, Mangel an Ent-spannung und Freizeit, Belastung, unzugängliche soziale Fähigkeiten und sozialer Rollenkonflikt (Krischke 2002).

Wesentliches Kennzeichen von Arbeitssucht ist schädliches, selbst- und fremd-zerstörerisches Verhalten durch exzessive Arbeitstätigkeit. Ebenso wie bei anderen Suchtkrankheiten treten im Verlauf Dosissteigerungen und Vernachlässigung ande-rer Lebensbereiche auf. Zur Prävalenz von Arbeitssucht liegen bisher keine Daten vor. Es existiert jedoch bereits eine deutsche Selbsthilfevereinigung „Anonyme Ar-beitssüchtige“ mit Gruppen in 32 deutschen und 4 österreichischen Städten.15

Eine bislang ungeklärte Frage ist, inwieweit die zunehmende Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeitszeit ein Risikofaktor für Erholungsunfähigkeit und Arbeits-sucht ist und ob mit der Verbreitung von flexiblen Arbeitszeitmodellen auch bei ab-hängig Beschäftigten das Phänomen der Erholungsunfähigkeit und die Prävalenz von Arbeitssucht ansteigen.

15 www.arbeitssucht.de

Nach diesem allgemeinen Überblick zur Entwicklung und Flexibilisierung der Ar-beitszeiten sowie deren gesundheitlichen Auswirkungen wird in den nachfolgenden Kapiteln das Modell der Vertrauensarbeitszeit hinsichtlich dessen Bedeutung und Verbreitung, betrieblicher Umsetzungserfahrungen und Gestaltungsanforderungen ausführlich beschrieben.

3 Bedeutung, Verbreitung und Bewertung von Vertrauensarbeitszeit

Im folgenden werden die Ergebnisse der Analyse zur Bedeutung, Verbreitung und Bewertung von Vertrauensarbeitszeit auf der Basis von Literaturauswertungen, ein-schlägigen Forschungsvorhaben16 und Internetrecherchen vorgestellt. Nach einer begrifflichen Eingrenzung des Konzepts Vertrauensarbeitszeit und dessen konstituie-render Elemente werden empirische Ergebnisse zur Verbreitung von Vertrauensar-beitszeit in die betriebliche Praxis dargestellt. Anschließend folgt eine Beschreibung von Chancen und Risiken dieses Konzepts aus der Sichtweise verschiedener Ak-teursgruppen.