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Medikamentenpolitik – Defizite in der Epidemiologie

Im Dokument Alternativer Drogen- und Suchtbericht (Seite 21-25)

Noch immer muss davon ausgegangen werden, dass rund 1,2 Millionen Menschen von Benzodiazepinderivaten oder Benzodia-zepinrezeptoragonisten (Z-Drugs) abhängig sind, weitere etwa 300 - 400.000 von ande-ren Arzneimitteln, vor allem stark wirksame Schmerzmittel, insgesamt also rund 1,5 Milli-onen Menschen. Einige Autoren schätzen die Zahl sogar auf 1,9 Millionen ein (Soyka et al.

2005). Damit ist die Medikamentenabhän-gigkeit das zweitgrößte Suchtproblem in Deutschland – nach der Tabakabhängigkeit, aber noch vor der Alkoholabhängigkeit. Diese Unterschiede bei den Angaben zur Medika-mentenabhängigkeit sind darauf zurückzu-führen, dass die Schätzungen auf Basis der verfügbaren Verordnungsdaten der Gesetz-lichen Krankenkassen (GKV) zustande kommen, die zwar Verläufe für einzelne Per-sonen nachzeichnen und die verordneten Mengen im Zeitintervall darstellen können (z.B. ist davon auszugehen, dass Personen, die 3-4 Monate solche Benzodiazepin-haltigen Mittel ohne Unterbrechung einnehmen, eine Abhängigkeit entwickeln dürften

(Madhusoodanan/ Bogunovic 2004; Mort/

Aparasu 2002)), dass mit diesen GKV-Verordnungsdaten die wirkliche Anzahl von Abhängigen aber nicht mehr valide dargestellt werden kann (Schwabe/ Paffrath 2013).

Verordnungen auf Privatrezept

Immer häufiger werden abhängigkeitsindu-zierende Schlafmittel und Tranquilizer auch für GKV-Versicherte auf Privatrezepten verord-net, da Ärztinnen und Ärzte auf diese Weise der Verordnungstransparenz bei den Kassen und möglichen Auffälligkeitsprüfungen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen entgehen können – das Verordnungsgeschehen ist über die Daten z.B. des jährlich erscheinende Arzneimittelreports nicht mehr transparent zu machen (Hoffmann et al. 2006; Hoffmann et

al. 2009; Hoffmann et al. 2010; Hoffmann/

Glaeske 2014)). Empirische Studien sind daher aus gesundheitspolitischer und aus Public-Health-Sicht dringend erforderlich, um eine bessere Kenntnis von der Epidemiologie der Arzneimittelabhängigkeit zu erlangen – die Versorgungsforschung, die nach den Aus-sagen des aktuellen Koalitionsvertrags geför-dert werden soll, könnte in diesem Zusam-menhang von besonderem Nutzen sein und müsste GKV-Rezepte und Privatverordnungen einbeziehen. Dennoch geben die Daten der Krankenkassen Hinweise darauf, wer denn in welcher Häufigkeit solche abhängig machen-den Arzneimittel verordnet bekommt. Die Auswertungen der BARMER GEK-Daten zeigen bei den Langzeitverordnungen, dass der An-teil von abhängigen Frauen im höheren Lebensalter deutlich höher liegt als bei den Männern und bis zu 8% bei den Frauen über 70 Jahre reicht (Glaeske/ Schicktanz 2011).

Für eine Dauertherapie mit Benzodiazepin-haltigen Mitteln gibt es jedoch keine ent-sprechende Evidenz. Die vorhandenen Stu-dien untersuchen ausschließlich die Wirk-samkeit von Benzodiazepinen in der Kurzzeit-behandlung. Therapiestudien mit einer Be-handlungsdauer von über 4-5 Wochen exis-tieren praktisch nicht (Holbrook et al. 2000;

Madhusoodanan/ Bogunovic 2004; Nowell et al. 1997; Smith et al. 2002). Daraus ergeben sich wichtige Implikationen für eine rationale Arzneimitteltherapie. Der Langzeitgebrauch von Benzodiazepinen, aber auch von Benzo-diazepinagonisten wie Zolpidem oder Zopiclon ist daher unangebracht, insbesondere bei älteren Menschen. Gerade bei Menschen im höheren Alter sind aber Besonderheiten zu beachten – verlängerte Wirkdauer und Wech-selwirkungen (vgl. Madhusoodanan/ Bogu-novic 2004; Mort/ Aparasu 2002). Aber auch kurzwirksame Benzodiazepine in höherer Dosierung sollen vermieden werden (siehe vergleichende Übersicht in Holt et al. 2010).

Gegen die schlaffördernde Wirkung entwickelt sich rasch eine Toleranz; was weiterhin ver-bleibt, ist allenfalls die angstlösende Wirkung (Wolter-Henseler, 1999). Eine solche Abhän-gigkeit findet zumeist als ‚low-dose-depen-dency‘ statt, als eine Abhängigkeit, die nicht

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einhergeht. Dies wurde auch in einer amerika-nischen Studie bestätigt. Von 2.440 Patien-ten, die Dauernutzer von Benzodiazepinen waren, lag die Rate der Dosiserhöhung bei lediglich 1,6%. Ältere Personen waren davon geringer betroffen (Soumerai et al. 2003).

Hypnotika und Tranquilizer: Noch immer das größte Problem

Als Hypnotika kommen Benzodiazepine und die neueren Benzodiazepinrezeptoragonisten zum Einsatz. Die Abgrenzung in Hypnotika und Sedativa/Tranquilizer (z.B. Temazepam, Lormetazepam, Flunitrazepam) bzw. Tranquil-lantien (z.B. Bromazepam, Lorazepam, Diaze-pam) ist oft eher willkürlich und beruht wahrscheinlich weitgehend auf Marketing-aspekten. Grundsätzlich wirken alle Benzodia-zepine angstlösend, sedativ, muskelrelaxie-rend und antikonvulsiv, wobei sich die ein-zelnen Wirkstoffe in ihren Ausprägungen un-terscheiden. Die Benzodiazepinrezeptorago-nisten Zolpidem und Zopiclon (Zaleplon ge-hört auch in diese Gruppe, spielt aber kaum noch eine Rolle), die aufgrund ihrer gleichen Anfangsbuchstaben auch oft als „Z-Drugs“

bezeichnet werden, sind hingegen ausschließ-lich bei Schlafstörungen (und für die Kurzzeit-behandlung) zugelassen. Eine im Jahr 2005 im renommierten British Medical Journal erschienene Meta-Analyse untersuchte spe-ziell den Nutzen und Schaden von Hypnotika bei älteren Menschen (60+ Jahre).

Eingeschlossen wurden 24 Studien mit 2.417 Teilnehmern, die vorwiegend Benzodiazepine und Z-Drugs erhielten (Glass et al. 2005, Wagner et al. 2004). Der Gebrauch dieser Substanzen bei Älteren brachte im Vergleich zu Placebo zwar statistisch signifikante Vor-teile, die erzielten Effekte fielen allerdings nur gering aus. Die Autoren kamen zu der Schlussfolgerung, dass die geringe Wirksam-keit dieser Mittel bei Älteren das erhöhte Risiko unerwünschter Ereignisse möglicher-weise nicht rechtfertigt. In den eingeschlosse-nen Studien wurden als unerwünschte Wir-kungen u.a. Gedächtnisschwächen, Desorien-tiertheit, Schwindel, Verlust des Gleichge-wichts und Stürze untersucht. Missbrauch

und Abhängigkeit, die sowohl für die Lang-zeitanwendung von Benzodiazepinen wie auch Z-Drugs beschrieben sind (DG-Sucht &

DGPPN, 2006), wurden in dieser Studie also noch nicht einmal auf die „Schadenseite“

hinzugerechnet. Darüber hinaus wurde in letzter Zeit zunehmend Evidenz dafür publi-ziert, dass auch bei älteren Menschen nicht-pharmakologische Therapiemaßnahmen im Vergleich zur medikamentösen Behandlung zu einem dauerhafteren Therapieerfolg führen (Sivertsen/ Nordhus 2007; Sivertsen et al.

2006).

Vorliegende Daten unterschätzen das Abhängigkeitsproblem

Um das Risiko von Missbrauch und Abhän-gigkeit zu minimieren, empfehlen nationale wie internationale Leitlinien, Benzodiazepine und Z-Drugs in der möglichst niedrigsten Dosis und maximal über 4 Wochen einzu-setzen (DGN 2008; NICE 2004). Für ältere Menschen wird sogar empfohlen, dass eine Behandlung mit Hypnotika eine Dauer von 10 Tagen allgemein nicht überschreiten sollte.

Die aktuelle Versorgungssituation liefert jedoch ein anderes Bild. Viele Studien konnten zeigen, dass diese Mittel häufig über einen deutlich längeren Zeitraum eingesetzt werden.

Wegen dieser Altersverteilung ist es im Übrigen schwer nachvollziehbar, dass in den epidemiologischen Untersuchungen zum Sub-stanzkonsum und zu substanzbezogenen Stö-rungen (Pabst et al. 2013) im Rahmen des Suchtsurveys des Instituts für Therapiefor-schung (IFT) nur Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren befragt werden. Und im Ergebnis kommt es dann z.B. bei Schlaf-mitteln zu einem problematischen Gebrauch bei 0,7% oder bei Beruhigungsmitteln von 1,0%. Die Daten unterschätzen das Problem, weil der Hauptanteil, wie hier dargestellt, erst bei Personen im Alter von über 65 Jahren beginnt – die öffentlich geförderte Unter-suchung zur Erfassung des problematischen Medikamentenkonsums sollte daher dringend im Hinblick auf das Alter den „wahren“

Konsumgewohnheiten angepasst werden, damit in der gesundheitspolitischen

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sion endlich eine realistische Darstellung von Konsummustern verfügbar ist. Wenn dieses Problem der älteren Menschen und ihrer dauerhaften Einnahme von Arzneimitteln nicht zum Thema von Forschungsvorhaben gemacht wird, könnte zumindest der Eindruck entstehen, dass sich bei diesen Menschen eine Intervention nicht mehr lohnt. Dabei sind es gerade die älteren Patientinnen und Patienten, die unter den Auswirkungen von zu vielen Arzneimitteln nebeneinander leiden:

Insbesondere im Zusammenhang mit Psycho-pharmaka verschlechtern sich die kognitiven Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen, die Konzentrationsfähigkeit sinkt, es kommt zu Stürzen oder anderen schwerwiegenden Folgeerscheinungen, wie gravierende Wech-selwirkungen, die oft genug zu Krankenhaus-einweisungen führen – bei immerhin 10,2%

der Einweisungen von Menschen über 65 Jahren sind nicht Krankheiten, sondern Ne-benwirkungen und Wechselwirkungen der Grund für Krankenhauseinweisungen. Poly-medikation und häufige Verordnungen von Beruhigungs- und Schlafmitteln sind eine auffällige Begleiterscheinung des demogra-phischen Wandels hin zu einer älter werden-den Gesellschaft.

Diese Aspekte in der arzneimittelepidemio-logischen Forschung unberücksichtigt zu lassen, spricht nicht gerade für eine reflek-tierte Medikamentenpolitik, die sich vom Ziel der Therapiesicherheit und Patientenorien-tierung leiten lässt.

Abbildung 1: Anteil ältere Menschen mit Verordnungen von Hypnotika nach Alter und Geschlecht (Glaeske et al. 2010)

 

17 Literatur

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