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Berufliche Teilhabe suchtkranker Menschen in der Krise

Im Dokument Alternativer Drogen- und Suchtbericht (Seite 86-90)

Infolge der Einführung des SGB II (Sozialge-setzbuch, zweites Buch) im Jahr 2005 wurden verschiedene Instrumente für Langzeitlose implementiert, die vor allem arbeits-marktfernen Personengruppen mit mehr-fachen Vermittlungshemmnissen einen Weg in Beschäftigung und Qualifizierung ebnen sollten. Die Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsent-schädigung (AGH MAE) nach § 16d SGB II (sog. "1-Euro-Jobs") sowie von Arbeitsplätzen, die mit einem Beschäftigungszuschuss nach

§ 16e SGB II gefördert wurden, versetzten viele Einrichtungen der Suchthilfe und der Beschäftigungsförderung (erstmals) in die Lage, in größerem Umfang Arbeitsprojekte und Beschäftigungsmöglichkeiten für abhän-gigkeitskranke Menschen einzurichten, die ein Durchbrechen der Spirale suchtbedingter und -begleitender Ausgrenzungseffekte vom Arbeitsmarkt ermöglichten und so zur persön-lichen Stabilisierung und Weiterentwicklung der TeilnehmerInnen beitragen.

Die Bandbreite der neu entstandenen Beschäftigungsmöglichkeiten für Abhängig-keitskranke war dabei ausgesprochen viel-fältig. Sie reicht von unterstützenden Arbeiten in hauswirtschaftlichen oder haustechnischen Bereichen von Suchthilfeeinrichtungen, wo-durch die Angebotsqualität und -quantität häufig spürbar verbessert wurde, über um-fangreiche qualifizierende und tagesstruk-turierende Maßnahmen mit verschiedensten Arbeitsbereichen bis hin zu unterschied-lichsten Projekten zur Verbesserung kom-munaler oder regionaler Infrastruktur mit spürbarem Nutzen für die Allgemeinheit.

Ergänzt wurden diese meist niedrigschwel-ligen Beschäftigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Förderung längerfristiger sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigung, die die Einrichtung neuer Arbeitsplätze in sozialen Einrichtungen oder eine Vermittlung in

Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes ermöglichte.

Die positiven Auswirkungen und Potenziale dieses Ausbaus von Beschäftigungsmöglich-keiten und einer stärkeren Fokussierung auch auf die berufliche Teilhabe suchtkranker Menschen haben sich dabei in den letzten Jahren eindeutig erwiesen:

Häufig trägt eine sinnstiftende Beschäftigung dazu bei, eine erreichte Abstinenz zu festigen bzw. Alkohol- und/ oder Drogenkonsum er-heblich zu reduzieren. Eine Stabilisierung der psychosozialen Situation kann oftmals durch begleitende Beratungs- und Betreuungsange-bote erreicht werden: Allgemeine und arbeits-marktbezogene Schlüsselqualifikationen wer-den verbessert, Straffälligkeit wird vermiewer-den oder Schuldenproblematiken können reguliert werden. Beschäftigungsangebote, die vorhan-dene psychische oder somatische Beein-trächtigungen berücksichtigen und angemes-sene Anforderungen an die Beschäftigten stellen, tragen oftmals zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit, einer Verbesserung des Gesundheitszustands sowie zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstregulie-rungspotenziale für eine persönliche Weiter-entwicklung bei. Weiterbildende und qualifi-zierende Elemente sowie eine aktive und inte-grierte Auseinandersetzung mit beruflichen und psychosozialen Entwicklungsperspektiven sind notwendige Schritte auf dem Weg in eine längerfristige soziale und berufliche Integra-tion und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Die Erfahrungen und Erfolge dieser Maß-nahmen sprechen also eigentlich deutlich dafür, Beschäftigungsangebote für Sucht-kranke flächendeckend in Deutschland aus-zubauen und die in den letzten Jahren ge-wachsenen Strukturen weiterzuentwickeln oder zumindest den Bestand zu sichern.

Stattdessen sind viele dieser Maßnahmen seit Beginn 2011 durch massive Einschnitte bei den Eingliederungsleistungen für erwerbs-fähige Hilfebedürftige nach dem SGB II sowie durch die 2012 in Kraft getretene Instru-mentenreform durch das „Gesetz zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpoli-tischen Instrumente“ in ihrem Bestand

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droht oder mussten bereits eingestellt werden.

Die folgenden Zahlen belegen eindrucksvoll die Dimension der Sparpolitik der letzten Jahre im Bereich beschäftigungspolitischer Instrumente: 2010 wurden den Jobcentern bundesweit noch 6,6 Milliarden Euro für

„Leistungen zur Eingliederung nach dem SGB II“ zugewiesen, seitdem aber bis 2013 sukzessive um 41 % auf 3,9 Mrd. Euro reduziert. Die Zahl der AGH MAE-Plätze wur-den von Februar 2010 bis Februar 2014 um 71 % zusammengestrichen (02/2010:

288.253 Plätze, 02/2014: 84.109 Plätze), mit Lohnkostenzuschüssen nach § 16e SGB II geförderte Arbeitsplätze gar um über 80 % (von 42.286 Plätzen im Februar 2010 auf 8.152 Plätze im Februar 2014).

Vergleichsweise glimpflich betroffen waren Qualifizierungsmaßnahmen mit einer Be-standsreduzierung von 33 %53.

Längst nicht allen Trägern ist es möglich, auf dem Hintergrund sich verringernder Förde-rungen zumindest „abgespeckte“ Arbeitsan-gebote aufrechtzuerhalten. Personelle und qualitative Einschränkungen erschweren es dabei immer mehr, den spezifischen und multiplen Bedarfen der Zielgruppe abhängig-keitskranker Menschen gerecht zu werden.

Eine im November 2013 durchgeführte tele-fonische Befragung von insgesamt 16 Trägern in NRW (Schmitz 2013)54, die nach Einfüh-rung des SGB II Anfang 2005 Arbeitsprojekte für Suchtkranke aufgebaut bzw. unterhalten haben, verdeutlicht die flächendeckenden Auswirkungen der Sparpolitik seit 2010: 4 befragte Träger haben ihre Beschäftigungs-angebote vollständig eingestellt, weitere 7 Träger berichteten von Kürzungen der Teil-nehmerplätze (insgesamt sind bei allen 16 Trägern von ursprünglich 449 Plätzen mehr als 100 weggebrochen, eine Reduzierung um       

53 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland – Monatsbericht Februar 2010, Nürnberg 2010 und Monatsbericht Februar 2014, Nürnberg 2014

54 53. DHS-Fachkonferenz Sucht zum Thema: "Sucht und Arbeit", Vortrag Olaf Schmitz (Krisenhilfe Bochum), Essen 05.11.2013

22,5 %) und z.T. erheblichen Einbußen bei der finanziellen Ausstattung der Maßnahmen;

lediglich 5 Träger gaben an, keine nennens-werten Einbußen gehabt zu haben.

Dass diese Erhebung für das Bundesgebiet nicht repräsentativ sein dürfte und die Einschnitte von Beschäftigungsangeboten auch für die Personengruppe abhängigkeits-kranker Menschen wahrscheinlich insgesamt noch drastischer ausfallen, zeigt die jüngst erschienene Längsschnittumfrage zur Arbeits-marktpolitik des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unter seinen Mitglieds-einrichtungen: "In den vier Untersuchungs-jahren ist bei den in der Arbeitsförderung tätigen Mitgliedsorganisationen die Zahl ihrer Teilnehmer um insgesamt 49 Prozent redu-ziert worden. Am stärksten sind die Verluste bei den Arbeitsgelegenheiten, die in zwei Jahren um zwei Drittel verringert wurden."55 Wie wichtig es indes wäre, gerade sucht-kranken Personen eine Beschäftigungsper-spektive zu bieten, "zeigt die ARA-Studie (Hen-kel, Zemlin 2004-2008), wonach unter Bedingungen von Arbeitslosigkeit 35% der Alkoholabhängigen bereits im ersten Monat nach einer Suchtrehabilitation rückfällig wurden, hingegen nur 19% unter Bedin-gungen von Erwerbstätigkeit. Umso dring-licher wäre daher wenigstens die nahtlose Vermittlung in arbeitsmarktpolitische Beschäf-tigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen (z.B.

„1-Euro-Jobs“, berufliche Weiterbildung)."56 Doch die Auswirkungen sind nicht nur quan-titativer Natur: Durch das im April 2012 in Kraft getretene „Gesetz zur Leistungsstei-gerung der arbeitsmarktpolitischen Instru-mente“ haben sich Förderbedingungen für Beschäftigungsträger und Leistungsem-pfänger zusätzlich verschlechtert: Während       

55Der Paritätische Gesamtverband: Längsschnitt-umfrage zur Arbeitsmarktpolitik zwischen 2010 und 2013 - Tiefgreifende Einschnitte bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen, Berlin 2014

56 53. DHS-Fachkonferenz Sucht zum Thema: "Sucht und Arbeit", Vortrag "Integration Suchtkranker in Arbeit - Stagnation auf niedrigem Niveau", Prof. Dr.

Dieter Henkel (Fachhochschule Frankfurt a.M.), Essen 04.11.2013

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Mehraufwands-entschädigung vor der Instrumentenreform angemessene Qualifizierungs- und Betreu-ungselemente enthalten konnten und sollten, ist seitdem eine ausschließliche Beschäf-tigung vorgesehen und förderungsfähig. Für suchtkranke Menschen mit ihren oftmals multiplen Problemlagen fallen somit Förder-möglichkeiten für Unterstützungsangebote weg, die für eine erfolgversprechende Teil-nahme an den Beschäftigungsangeboten oftmals unabdinglich sind. Im besten Falle werden diese dann von den (Suchthilfe-) Trägern noch nebenher vom vorhandenen Personal erbracht oder sie entfallen gänzlich.

Um (in Ergänzung zur Beschäftigung in AGH MAE) Qualifizierungsangebote für die oftmals sehr gering qualifizierten Teilnehmenden in Arbeitsprojekten anbieten und notwendige Finanzierungsmöglichkeiten nutzen zu kön-nen, müssen Beschäftigungsträger sich seit Ende 2012 einem zeit- und kostenintensiven Zertifizierungsprozess nach den Qualitäts-standards der Bundesagentur für Arbeit unterziehen. Entgegen der bisherigen Praxis vieler Jobcenter, gezielt geeignete örtliche Träger über eine sogenannte freihändige Vergabe mit der Durchführung solcher ziel-gruppenspezifischen Maßnahmen zu beauf-tragen, müssen diese nun in der Regel als

„Aktivierungsmaßnahmen“ gem. § 45 SGB III öffentlich ausgeschrieben werden. Alternativ können die Jobcenter ausgewählten Trägern auch über sogenannte Gutscheinverfahren Teilnehmende für Qualifizierungen zuweisen;

allerdings muss auch in diesem Fall ein entsprechendes Trägerkonzept zertifiziert und die notwendige Infrastruktur vom Träger vor-gehalten werden. Bleiben die geplanten Plätze unbesetzt, liegt das finanzielle Risiko ausschließlich bei dem Träger. Dass längst nicht alle Einrichtungen in der Lage und willens sind, sich diesem Aufwand zu stellen und die Kosten hierfür aufzubringen, liegt auf der Hand.

Doch auch wenn Träger in einer Kommune oder Region diese Hürden überwinden und entsprechende Angebote vorhalten, eröffnet sich durch die geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen ein weiteres Problem:

Eine neuerdings gesetzlich vorgesehene Be-schränkung der Teilnahmedauer an Arbeits-gelegenheiten wie auch der Beschäftigung in bezuschussten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen auf max. 24 Monate innerhalb von 5 Jahren wird außerdem zu-künftig in vielen Fällen dazu führen, dass Personen, die in diesem begrenzten Zeit-rahmen nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, weitere Beschäf-tigung verwehrt bleibt.

Die Erwerbsbiografien langjährig abhängig-keitskranker Menschen sind oftmals von fehlender Ausbildung, kurzen und niedrig qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen, langen Zeiten der Arbeitslosigkeit und/oder Inhaftierungen geprägt und viele weisen durch posttraumatische Belastungsstö-rungen, komorbide physische oder psychische Erkrankungen sowie durch Schulden, Vorstrafen, fehlende Fahrerlaubnis etc. zu-sätzliche Benachteiligungen in ihrer Beschäf-tigungsfähigkeit auf. Deshalb braucht diese Zielgruppe oftmals eine langfristig angelegte, intensive, flexible, vernetzte und vielfältige Betreuung.

Idealerweise umfasst die Angebotspalette der Betreuung die (Wieder-) Heranführung an eine regelmäßige Tagesstruktur, an arbeitsimma-nente Anforderungen und Belastungen sowie arbeitsweltorientierte Qualifizierung bis hin zur flankierenden Bearbeitung psychosozialer und gesundheitlicher Problemlagen bzw.

Vermittlung in entsprechende begleitende Hilfen.

Aber auch unter solch günstigen Rahmen-bedingungen wäre eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bei weitem nicht immer eine realistische Perspektive, da viele abhängigkeitskranke Personen trotzdem auch auf längere Sicht die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes nicht erfüllen können bzw. sie keinen Zugang zu einem passenden Arbeitsplatz erhalten. Auch für diesen Teil der Zielgruppe werden weiterhin Beschäftigungs-angebote mit Qualifizierung, sozialpädago-gischer Betreuung und ggf. langfristiger Beschäftigungsperspektive gebraucht. Viele Menschen mit einer Suchterkrankung

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chen aufgrund von kumulierten Problemlagen einfach mehr Zeit und vernetzte Angebote, bis eine Integration gelingen kann. Für die-jenigen, für die auch längerfristig der erste Arbeitsmarkt nicht erreichbar scheint, sind diese Angebote weiterhin dringend notwendig, weil sie soziale Teilhabe sicherstellen und Behandlungsverläufe positiv beeinflussen und somit ein wichtiger Baustein in der komplexen Bearbeitung von Suchtproblemen sind. Der Wegfall solcher Möglichkeiten gefährdet dementsprechend persönliche Entwicklungs-verläufe bzw. lässt positive Synergieeffekte in der Suchtbehandlung ungenutzt verstreichen.

Eine Investition in solche Maßnahmen ist dementsprechend nicht nur aus arbeits-marktorientierten, sondern zudem aus ge-sundheitspolitischen und humanitären Grün-den sinnvoll und auch ökonomisch, da sie potenzielle Folgekosten u.a. im Justiz- und Gesundheitswesen reduzieren.

Angesichts der weitreichenden Bedeutung von Beschäftigungsangeboten mit Qualifi-zierung und begleitenden Hilfen im Rahmen der Suchtkrankenhilfe läuft die Fokussierung auf eine kurzfristige Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt als ausschließlichem Erfolgs-maßstab für diese Zielgruppe völlig fehl.

Individuelle Ausprägungen von Krankheits-verläufen, psychosozialen Lebenslagen und beruflichem Werdegang erfordern ein diffe-renziertes Angebot an Beschäftigungs- und Qualifizierungsangeboten.

Um (noch) vorhandene Strukturen abzu-sichern und diese zum Nutzen der Betrof-fenen zu konsolidieren und weiter auszu-bauen, ist gerade an diesem Punkt eine aktive gemeinschaftliche Sozial-, Arbeits-markt- und Gesundheitspolitik gefordert, die eine an den spezifischen Erfordernissen Abhängigkeitskranker orientierte (Weiter-) Entwicklung geeigneter Instrumente ermög-licht. Zudem ist aktuell mehr denn je ein offenes und kreatives Zusammenwirken aller mit Angeboten zur beruflichen, sozialen und medizinischen Wiedereingliederung befassten Akteure und Fördergeber vonnöten, um vorhandene Instrumente möglichst sinnvoll, komplementär und wirtschaftlich im Sinne

einer Stabilisierung und Integration der suchtkranken Menschen zu nutzen.

Schließlich ist immer wieder die Politik gefor-dert, rechtliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass möglichst barrierefreie Schnittstellen zwischen den verschiedenen Fördermaßnahmen und Eingliederungshilfen möglich sind, um langfristig positive Entwick-lungsverläufe nicht zu gefährden bzw. erst zu ermöglichen.

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Franjo Grotenhermen

Der Stand der medizinischen

Im Dokument Alternativer Drogen- und Suchtbericht (Seite 86-90)

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