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Logizismus

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 92-116)

H ILBERTPROGRAMMS

3.1 Logizismus

Kennzeichnend für den Logizismus ist seine These zur Frage nach dem Verhält-nis von Logik und Mathematik: Die Mathematik sei auf die Logik zurückführ-bar. So will der Logizismus besonders die Arithmetik rein logisch begründen und hat eine starke Tendenz, die Mengenlehre mit der Umfangslogik, d. h. der Lehre von den Begriffsextensionen, zu identifizieren. Der Logizismus nimmt da-mit einen „Lieblingsgedanken“ der rationalistischen Philosophie auf und sei-ne Vertreter verbindet entsprechend eisei-ne gewisse anti-kantische Tendenz im Bezug auf die Auffassung von Mathematik. Dabei ist im Einzelnen durchaus umstritten, wie diese „anti-kantische Tendenz“ genauer zu fassen ist. Traditio-nell heißt es, die Logizisten würden mit der Zurückführbarkeit der Mathema-tik auf die Logik gegen Kant die Analytizität aller mathematischen Sätze be-haupten. Dies stimmt aber zumindest für Russell nicht. Zwar heißt die logizis-tische Reduktion auch für ihn, daß Mathematik und Logik auf derselben Seite der analytisch/synthetisch-Unterscheidung einzuordnen sind, aber nach seiner Konzeption ist dies die synthetische Seite. Es ist aber die Frage, ob die Fokussie-rung auf die analytisch/synthetisch-Unterscheidung hier überhaupt den logi-zistischen Positionen gerecht wird, da zumindest Dedekind sich nie ausdrück-lich mit ihr beschäftigt. Nach Bernays wendet sich die logizistische These vor allem gegen die Kantische Lehre von der reinen Anschauung und ihrer Bedeu-tung für die Mathematik.2

Die Heroen des Logizismus waren Richard Dedekind, Gottlob Frege, Bert-rand Russell und Alfred North Whitehead.3 Wäre ihr Programm durchführbar, würde es in ähnlicher Weise eine Zurückführung bedeuten wie die relativen Widerspruchsfreiheitsbeweise zwischen der nichteuklidischen und der euklidi-schen Geometrie und zwieuklidi-schen der euklidieuklidi-schen Geometrie und der Arithmetik.

Es würde die Kette der Rückführungen bis zur reinen Logik fortsetzen und da-mit bis in den Bereich einer Art von Beweisführung, die in gewisser Hinsicht unbezweifelbar ist, da sie „sich allein auf die Gesetze gründet, auf denen al-le Erkenntnis beruht.“4 Damit liegt es auf der Hand, welche Attraktivität mit dem logizistischen Programm für den Hilbertianer verbunden ist. Hilberts An-liegen, die Widerspruchsfreiheit besonders der arithmetischen Axiome zu be-weisen, wird, nach Hilberts eigener Einschätzung, in seinem

„Wesen berührt durch die älteren Bestrebungen, Zahlentheorie und Analysis auf Mengen-lehre sowie diese auf reine Logik zu gründen.“ HILBERT,Neubegründung[1922], 162

Und dabei ist vor allem die Rede von den Ansätzen Gottlob Freges und Richard Dedekinds.

2Siehe BERNAYS,Philosophie der Mathematik[1930], 22.

3So betiteln DEMOPOULOS/CLARK,Logicism[2005]ihren Aufsatz in SHAPIRO,Oxford Hand-book[2005]mit „The Logicism of Frege, Dedekind, and Russell“.

4So Gottlob Frege über die logischen Beweisführungen im Vorwort zu FREGE,Begriffsschrift [1879], III.

Kontext: Logizismus und Intuitionismus 

Um etwas genauer zu sagen, was man unter „Logizismus“ versteht, könnte man mit Carnap am Logizismus zwei Teilthesen unterscheiden: die „Ableitung“

der mathematischen Begriffe aus den logischen und die Ableitung der mathe-matischen Sätze aus der Logik.5Was die erste Teilthese angeht, geht es darum, die mathematischen Begriffe explizit durch logische Begriffe zu definieren. In mehr syntaktisch orientierter Sprechweise heißt das, die mathematischen Sät-ze als logische SätSät-ze zu reformulieren. Neuere Kommentatoren nennen diese Teilthese dann auch „Sprachlogizismus“.6 Was die zweite Teilthese angeht, so handelt sie nach Carnap von der Ableitung der mathematischen Sätze aus den logischen Grundsätzen mittels logischer Schlüsse.7Modern gesprochen geht es wohl um die Ableitbarkeit der mathematischen Sätze aus rein logischen Axio-mensystemen, also Axiomensystemen ohne nicht-logische Axiome. Man mag diese Teilthese „Wahrheitslogizismus“ nennen, da die Wahrheit mathematischer Sätze auf die Wahrheit der logischen Axiome zurückgeführt wird.8

Vom Wahrheitslogizismus wird manchmal noch eine schwächere These ab-gespalten, die eine Menge von nichtlogischen Annahmen zuläßt und nur for-dert, daß die Ableitung selbst rein logisch erfolgen soll.9 Diese These, „Folge-rungslogizismus“ genannt, ist jedoch so viel schwächer als der Wahrheitslogizis-mus, daß man sich zu Recht fragen kann, ob sie die Bezeichnung „Logizismus“

überhaupt verdient. Der „Folgerungslogizismus“ bleibt hinter einem wirklichen Logizismus, der die Mathematik auf die Logik zurückzuführen sucht, um Län-gen zurück. Er steht nicht im Widerspruch mit der anti-logizistischen These, daß die Mathematik letztlich nicht auf die Logik zurückführbar ist, denn seine

„Rückführung“ läßt ja ein „Residuum“ in Form der nicht-logischen Axiome zu.

Deshalb sollte er überhaupt nicht „Logizismus“ genannt werden – auch wenn es richtig ist, daß genau das hier Geforderte erreicht zu haben vielleicht die wichtigste bleibende Leistung der Logizisten ist. Von der Zurückweisung der Bezeichnung „Logizismus“ bleibt die grundlagentheoretische Relevanz und die historische Zuordnung zu den Logizisten unberührt. Die Verpflichtung auf rein logische Schlüsse außerhalb der (mathematischen) Axiome trifft man jedenfalls

5CARNAP,Die logizistische[1931], 91–92.

6So zum Beispiel RAYO,Logicism[2005].

7CARNAP,Die logizistische[1931], 95.

8Diese Ausdrucksweise blendet allerdings die scharfe Trennung von Beweisbarkeit und Wahr-heit aus, die spätestens mit den Gödelschen Unvollständigkeitssätzen zum Proprium der Logik geworden ist. Ist man sich dessen bewußt, kann man die Redeweise jedoch aus zwei Gründen beibehalten: Erstens ging es den historischen Autoren immer um Wahrheit, wie besonders Frege betont hat, obgleich gerade er mit dem Logikkalkül das wertvollste syntaktische Werkzeug für die Logik geschaffen hat. Zweitens hat diese hergebrachte Position ja auch etwas vollkommen Rich-tiges an sich: Wenn die Verwendung von Kalkülen kein bloßes Glasperlenspiel sein soll, muß der Kalkül zumindest das Ziel haben, hypothetische Wahrheitsrelationen nachzubilden, wie: „Wenn die BedingungenAwahr sind, dann ist auchBwahr.“

9Vgl. RAYO,Logicism[2005]. – Mir ist nicht ganz klar, warum Rayo in diesem Zusammenhang fordert, daßReformulierungender mathematischen Sätze rein logisch ableitbar sein sollen. Sprach-und Wahrheitslogizismus wären sauberer getrennt, wenn man die Reformulierbarkeit nur beim Sprachlogizismus fordern würde.

 Logizismus

überall in demjenigen Sammelbecken an, das gelegentlich „Deduktivismus“ ge-nannt wird. Auch im Rahmen der Hilbertschen axiomatischen Methode spielt sie eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Forderung nach strenger Be-weisführung.10 Gestattet man, den „mathematischen Gehalt“ einer Theorie in die Axiome zu stecken, so ist ein solcher „Logizismus“ problemlos kompatibel mit einem axiomatischen Standpunkt à la Hilbert.

Es sind noch feinere Abstufungen vorgeschlagen worden, wie etwa die Un-terscheidung zwischen einer syntaktischen und einer semantischen Variante bei Folgerungs- und Wahrheitslogizismus, oder die Differenzierung, ob man die Prädikatenlogik erster Stufe oder eine höherstufige Logik zugrundelegt.11Dies ist im Kontext der Frage nach den inhaltlichen Einflüssen des Logizismus auf Hilberts Programm allerdings nicht unbedingt nötig. Für die vorliegende Frage ebenfalls nur am Rande von Bedeutung ist, auf welchen Wegen ein logizistisches Programm Ende des 20. Jahrhunderts reaktiviert worden ist.12Daher wird auf diese Punkte im Folgenden nicht weiter eingegangen. Um die inhaltlichen Ein-flüsse des Logizismus auf das Hilbertprogramm zu verstehen, ist vielmehr die Arbeit der Pioniere entscheidend. Sie haben das Hilbertprogramm unterschied-lich beeinflußt. Ihre Positionen werden daher im Folgenden einzeln behandelt.

3.1.1 Frege

Zunächst geht es um Gottlob Frege. Er gilt solchermaßen als „Urvater“ des Logi-zismus, daß in manchen Lehrbüchern unter dem Titel „Logizismus“ sogar aus-schließlich seine Gedanken präsentiert werden.13 Frege hat ein merkwürdiges Schicksal ereilt. Während er zu Lebzeiten nahezu völlig unbeachtet blieb, ha-ben ihn weite Kreise der Analytischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20.

Jahrhunderts nicht bloß wiederentdeckt, sondern geradezu zur philosophischen Ikone hochstilisiert. Es mag daher zu einer Versachlichung der Frege-Diskussion beitragen, daß sich in der neueren Literatur mehr und mehr kritische Stimmen zu Frege melden, die fordern, ihn wieder auf die Erde zu holen und nüchtern auch die Punkte zu sehen, an denen er weniger überzeugend war oder sachlich daneben lag, wie beispielsweise seine Fehlinterpretationen anderer Denker.14

10Vgl. auch die Ausführungen im Kapitel 2, S. 53ff.

11Vgl. RAYO,Logicism[2005].

12Zu diesem neueren Logizismus oder Neologizismus vgl. HALE/WRIGHT,Logicism[2005].

13So beispielsweise das Kapitel zum Logizismus in GEORGE/VELLEMAN,Philosophies[2002].

14Vgl. hierzu besonders den brillanten Aufsatz TAIT,Frege versus[2005]. Tait hat wie nur wenige den Mut, den Versuchen, Frege heilig zu sprechen, die Stirn zu bieten, welche besonders durch einflußreiche Philosophen wie Michael Dummett betrieben werden, vgl. DUMMETT,Frege[1991], 292: „In Frege’s writings, by contrast [to Brouwer and Hilbert, C. T.], everything is lucid and expli-cit: when there are mistakes, they are set out clearly for all to recognize.“ Und dann noch massiver:

„He [Frege, C. T.] was the greatest philosopher of mathematics yet to have written.“ DUMMETT, Frege[1991], 321. – Schon Hilbert hatte Frege offen darauf hingewiesen, daß er Cantor und De-dekind in den entsprechenden Passagen seinerGrundgesetzenicht gerecht würde; vgl. den Brief Hilberts an Frege vom 7. 11. 1903, der zugleich der letzte erhaltene Brief dieses Briefwechsels ist,

Kontext: Logizismus und Intuitionismus 

Trotzdem hat Frege natürlich Großartiges und Bleibendes geleistet. Um einige dieser Leistungen wird es im Folgenden gehen.

Nach Frege hat die Logik eine grundlegende Funktion. Es gibt sozusagen nichts Basaleres, auf das erfahrungsunabhängiges Wissen zurückgeführt wer-den könnte.15 In der Logik geht es um die Grundgesetze jeden Denkens und daher ist die Logik die allgemeinste Wissenschaft. Das Gebiet der Logik liegt, so ein Bild Freges, in der Mitte der wissenschaftlichen Felder und ist allen anderen Feldern benachbart.16

In der philosophischen Auseinandersetzung war Freges Logizismus vor al-lem gegen zwei Tendenzen gerichtet, nämlich gegen die Begründung der Arith-metik auf Erfahrung und gegen die Begründung der Logik auf Psychologie.

Während der letztere Punkt wohlbekannt ist, mag es wert sein, den ersteren zu betonen. Frege war ein entschiedener Gegner sowohl der inhaltlichen Begrün-dung der Arithmetik auf (Sinnes-)Erfahrung (für ihn hat die Wahrheit arithme-tischer Aussagen nichts mit dem Gehalt von einzelnen Erfahrungen zu tun), als auch der formalen Begründung der Arithmetik durch Intuitionen wie Raum oder Zeit, die möglicherweise zwar für die Gewinnung arithmetischer Erkennt-nis bedeutsam sein können, jedoch nichts zu deren Rechtfertigung beitragen.17 Ihm ging es um die attraktive Alternative, Arithmetik auf Logik zu begründen.18 So wollte Frege möglichst weit kommen bei dem Versuch, die Arithmetik durch rein logische Schlüsse zu entwickeln,19bzw. immodus cognoscendi umge-kehrt, die Arithmetik zu zergliedern und zu ihren „letzten Bestandteilen“ vor-zudringen. Dazu entwickelte er zunächst mit der sog. „Begriffsschrift“ eine leis-tungsfähige formale Sprache, die einer Reihe seiner (sprach-)philosophischen Bedürfnisse entsprach.20Sie war eine Vorbedingung dafür, mit dem eigentlichen logizistischen Projekt weiterzukommen, denn nur eine Präzisierung der Spra-che kann die Gewähr bieten für die Lückenlosigkeit der Schlußketten, sprich dafür, daß sich keine unbemerkten Voraussetzungen in die Schlußkette „ein-schleichen“ können. Dies hatte sich Frege mit aller Deutlichkeit im Laufe seiner Arbeiten gezeigt. Die Orientierung an rein logischen Schlußweisen innerhalb von Beweisen teilte er dabei mit Hilbert. Sie entsprach der von beiden geteilten

FREGE,Briefwechsel[1976], 80.

15Vgl. GEORGE/VELLEMAN,Philosophies[2002].

16Vgl. FREGE,Begriffsschrift[1879], VI.

17Vgl. das Vorwort zu FREGE,Begriffsschrift[1879], III–IV; sowie GEORGE/VELLEMAN, Philoso-phies[2002].

18Anders jedoch Freges (traditionalistische) Sicht der Geometrie. Die Wahrheit von deren Axio-men will er strikt auf die Raumanschauung begründen; vgl. etwa den Brief an Hilbert vom 27. 12. 1899, FREGE,Briefwechsel[1976], 63.

19Vgl. FREGE,Begriffsschrift[1879], III–IV.

20Zugleich nimmt Frege damit die Leibnizsche Idee einescalculus ratiocinatorodercalculus phi-losophicusauf; vgl. hierzu PECKHAUS,Logik, Mathesis[1997], bes. 287–296. Die philosophische An-wendung zielt für Frege darauf ab, „die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen“, und zwar dadurch, daß sie die Täuschungen des Sprachgebrauchs aufdeckt und „den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Aus-drucksmittels behaftet“; vgl. FREGE,Begriffsschrift[1879], VI–VII.

 Logizismus

Forderung nach „Strenge der Beweisführung“, obgleich Hilbert nicht in demsel-ben Maße von dem Eigenwert der Formalismen überzeugt war wie Frege.21

Mittels einer Begriffsschrift kann man sicherstellen, daß innerhalb von Be-weisen nichts Verwendung findet, was nicht schon in den grundlegenden Axio-men und/oder Definitionen als Annahme enthalten ist. Bei welchen solcher

„grundlegenden Axiome und/oder Definitionen“ sollen Beweise jedoch begin-nen? – Frege legte zunächst kein Axiomensystem für die Arithmetik vor, son-dern wandte sich der Definition des Begriffs der natürlichen Zahl und der ein-zelnen natürlichen Zahlen zu. Seine Ausgangsüberlegung in den Grundlagen der Arithmetikwar, daß Zahlen nicht direkt irgendwelchen Objekten zukommen können, sondern Begriffen. Sie sind Begriffe unter die keine „gewöhnlichen“

Objekte fallen, sondern „gewöhnliche“ Begriffe. Etwas mißverständlich könnte man es auch so ausdrücken, daß Zahlen nach Frege Begriffe sind, deren „Objek-te“ wiederum Begriffe sind. Zahlen sind sozusagen Eigenschaften von Eigen-schaften, oder kurz: Eigenschaften zweiter Stufe. So kommt die Zahl 3 einem Begriff B zu, falls genau drei Objekte unter B fallen. Frege definierte zuerst, was es heißt, daß (mindestens) drei Objekte unterB fallen:

min3(B) :≡ ∃x∃y∃z x6=y∧y6=z∧z6=x∧B(x)∧B(y)∧B(z)

Genaudrei Objekte fallen dann unterB, wenn (mindestens) drei Objekte darun-ter fallen aber nicht (mindestens) vier, also:

3(B) :≡min3(B)∧ ¬min4(B)

In diesem Fall heißtB auch „dreizahlig“. Frege kann dann definieren, daßn ei-ne Anzahlist, wenn es einen BegriffB gibt, so daßB n-zahlig ist. Gemäß dieser Definition ist0eine (An-)Zahl, denn der Begriff „nicht mit sich selbst identisch“

ist 0-zahlig, unter ihn fallen keine Objekte. Der NachfolgerSnzu einer Zahln ergibt sich aus dem Begriff „mit 0, 1, . . . , n−1 oder n identisch sein“, unter den n+ 1Objekte fallen. (Man beachte allerdings, daß diese „Objekte“ die zu-vor schon definierten Zahlen sind. Zahlen, die sozusagen Eigenschaften zweiter Stufe sind, werden damit stillschweigend zu Objekten!)

Ganz allgemein ergibt sich die Nachfolgerelation unter Begriffen wie folgt:

SindB undCzwei Begriffe, so heißtB „zahlenmäßig auf C folgend“, wenn es einxgibt derart, daßxnicht unterC fällt und daß die BegriffeBund „unterC fallen oder gleichxsein“ koextensional sind, in Zeichen:

Nachf(B, C) :≡ ∃x ¬C(x)∧ ∀y(B(y)↔C(y)∨y=x)

Die Nachfolgerelation unter Zahlen läßt sich mit Hilfe von derjenigen unter Be-griffen definieren. So heißt eine Zahlnder Nachfolger22 einer Zahlm, wenn es

21Vgl. vor allem die ersten Briefe zwischen Frege und Hilbert in FREGE,Briefwechsel[1976], 58–

60.

22Die hier mitbehauptete Rechts-Eindeutigkeit der Nachfolgerelation läßt sich leicht zeigen.

Kontext: Logizismus und Intuitionismus 

zwei BegriffeB undC gibt, dien- bzw.m-zahlig sind und in der begrifflichen Nachfolgerelation stehen. Die Definition des Begriffs der natürlichen Zahlen er-gibt sich in diesem zweitstufigen Rahmen dann als derjenige Begriff, unter den die Objekte fallen, die all diejenigen Eigenschaften haben, die sich von der0auf alle Nachfolger übertragen:

NatZahl(n) :≡ ∀B B(0)∧ ∀x∀y(B(x)∧S(y, x)→B(y))→B(n)

Diese explizite Definition des Begriffs der natürlichen Zahl verwendet nur die zuvor definierten Teilbegriffe der Null (=Zahligkeit des Begriffs der Nicht-Selbst-Identität) und des Nachfolgers und den Rahmen der zweitstufigen Logik (essentielle Verwendung des zweitstufigen Quantors).

Freges Konzeption von Zahlen als Eigenschaften von Begriffen bzw. als Be-griffsumfänge hat einen entscheidenden Vorteil: Die Anwendbarkeit der Arith-metik in unserem wissenschaftlichen wie alltäglichen Denken über die Welt fin-det eine einfache Erklärung. Zahlen kommen beliebigen Begriffen zu und Zahl-ausdrücke gehören damit zum allgemeinsten Vokabular, das wir haben. Diese Allgemeinheit der Zahlbegriffe ist ihrerseits wieder ein Charakteristikum des Fregeschen Logizismus. Es gibt für ihn keine spezielle Wissenschaft von den Zahlen, da Zahlen so allgemein sind. Sie gehören daher zur allgemeinsten Wis-senschaft, der Logik.

Diese Analyse des Begriffs der natürlichen Zahl ergänzte Frege in den Grund-gesetzen der Arithmetik durch die Angabe eines Axiomensystems. Dieses Axio-mensystem wurde durch Russells Entdeckung der Paradoxie als inkonsistent erwiesen. Frege sah sein großangelegtes Projekt damit als gescheitert an. Frege-Interpreten starten jedoch bis heute ernstzunehmende Versuche, diesen Schaden zu reparieren. Die „Folklore“ diagnostiziert Freges Axiom V über die Wertver-laufsidentität als „Übeltäter“. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, daß dies zu kurz gegriffen ist. Axiom V führt zwar im Zusammenhang der vollen zweitstufigen Logik – einschließlich des uneingeschränkten Komprehensions-prinzips – zur Inkonsistenz. Die „Schuld“ dafür kann man jedoch durchaus ver-schieden auf Axiom V und Komprehension verteilen. So ist heute bewiesen, daß Axiom V sowohl mit erststufiger Logik als auch mit eingeschränkter zweitstufi-ger Komprehension widerspruchsfrei zusammengeht.23

Von dieser Diskussion bleiben andere, mehr den philosophisch-grundlagen-theoretischen Anspruch des Logizismus betreffende Probleme weitgehend un-berührt. Kehren wir zu der Frage zurück, ob es überhaupt vorstellbar ist, Arith-metik allein auf reine Logik zu begründen, so sind andere Probleme als die

23Terence Parsons bewies 1987 die Konsistenz von Axiom V mit erststufiger Logik, vgl. PAR

-SONS,Consistency[1987]. Richard Heck konnte dieses Resultat 1996 auf das arithmetische Kom-prehensionsschema ausdehnen (d. h., das KomKom-prehensionsschema eingeschränkt auf Formeln, die höchstens zweitstufige Variablen, aber keine zweitstufigen Quantoren haben), vgl. HECK, Consistency[1996]. Und 1999 zeigte schließlich Kai F. Wehmeier gegen Hecks Vermutung auch die Konsistenz mit11-Komprehension, vgl. WEHMEIER,Consistent Fragments[1999].

 Logizismus

Russellsche Inkonsistenz entscheidend. Die entscheidende Frage ist, ob in Fre-ges Theorie nicht mehr oder weniger versteckt mathematische Hilfsmittel zum Einsatz kommen, denn dann würde der Logizismus gegen seinen eigenen An-spruch verstoßen.24 So hat schon Georg Cantor in seiner Rezension der Grund-lagenauf ein Problem mit Freges Zahldefinition hingewiesen:25Auch in den lo-gischen Definitionen der einzelnen Zahlen à la Frege wird auf der Metaebene schon von Zahlen Gebrauch gemacht. Zwar kann man argumentieren, daß etwa die Zahl3nicht in der Definition der Dreizahligkeit „auftritt“. Dies stimmt aber nur in dem Sinne, daß kein Zeichen für die3 und auch kein Zeichen, das mit-tels eines Zeichens für die3definiert ist, im Definiens steht. Auf der Metaebene wird die Zahl 3 jedoch durchaus verwendet. Das sieht man am deutlichsten, wenn man sich fragt, wie die Definition dern-Zahligkeit für eine beliebige Zahl naussehen müßte. Es müßtennAllquantoren verwendet werden, dann n·(n+1)2 Ungleichungen usw. In der metatheoretischen Beschreibung der Definition müs-sen somit Zahlen verwendet werden.26 Dieses Vorgehen mag man als zirkulär beschreiben – zumindest wenn man es am eigentlichen logizistischen Anspruch mißt,rein logischeDefinitionen der einzelnen Zahlen geben zu können.

Ein schwerwiegenderes Problem ist die Existenzforderung, die in der Defi-nition des Nachfolgers verwendet wird. Diese mag unproblematisch sein, so-lange zwei Kandidaten vorliegen, die daraufhin zu überprüfen sind, ob der eine der Nachfolger des anderen ist. Geht man jedoch von der Nachfolgerelationzur Nachfolgerfunktion über oder verwendet man den Bezeichnungsoperator „der Nachfolger von . . . “, so ist für eine gegebene Zahl zu zeigen, daß sie einen Nach-folger besitzt. Soll dies wirklich „rein logisch“ gelingen, so müßte man

gewis-24BERNAYS,Philosophie der Mathematik[1930], 23, behauptet mit explizitem Bezug auf Frege und andere, daß man „in den verschiedenen Systemen der Logistik [. . . ] nirgends den spezifisch logi-schen Gesichtspunkt als allein beherrlogi-schend [findet], sondern überall von vornherein mit mathe-matischer Betrachtungsweise durchsetzt.“ Bernays bezieht sich im Folgenden allerdings auf den

„ausgesprochen mathematischen Charakter“ des Logikkalküls. Es ist die Frage, ob „Eindrücke“

vom „Charakter“ eines Kalküls für die Frage, ob dieser seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, unmittelbar aussagekräftig sind. – Hilbert jedenfalls scheint schon 1904 davon überzeugt gewe-sen zu sein, daß bei der systematischen Entwicklung der Logik selbst arithmetische Grundbegriffe verwendet werden müssen; explizit nennt er den Begriff der Menge und den Begriff der Anzahl;

er zieht daraus den Schluß, daß „eine teilweise gleichzeitige Entwicklung der Gesetze der Logik und der Arithmetik erforderlich“ sei; vgl. HILBERT,Grundlagen Logik[1905].

25CANTOR,Rezension Frege[1885].

26In den Metatheorien der Mengenlehre oder auch der zahlentheoretischen Axiomensysteme, die mit der Konstanten0und der Nachfolgerfunktion (0,S odersuc) oder mit den Konstanten 0und1und der Addition (+) operieren, wird von einem Begriff natürlicher Zahlen ebenfalls immer schon Gebrauch gemacht. Um die Zahl2im Formalismus durch000oder0 + 1 + 1zu defi-nieren, muß auf der Metaebene, auf der der Formalismus selbst definiert ist, immer etwas gesagt werden wie „zweimal ...“, sei es „zweimal0an das Zeichen0anhängen“ oder „zur0zweimal+1 bilden“. Um die mengentheoretische Repräsentation der Zahl2zu definieren, muß man ebenfalls auf der metatheoretischen Ebene angeben, daß die Nachfolgeroperationx7→x∪ {x}auf die leere Mengezweimal anzuwenden sei. In der Fregeschen Definition ist es die Anzahl der Quantoren bzw. der Konjunktionsglieder, die letztlich die zu definierende Zahl bestimmt. Wieviele solche lo-gischen Zeichen hinzuschreiben sind, kann nicht anders als mittels der Zahlnbestimmt werden.

Kontext: Logizismus und Intuitionismus 

sermaßen „aus dem Nichts“ die Existenz von Objekten beweisen können.27Das von Hilbert bemerkte Problem, die Existenz des Nachfolgers könne in Freges System nicht bewiesen werden, stellt damit das logizistische Programm von ein wirkliches Dilemma: Fordert man die Existenz des Nachfolgers sozusagen als Postulat, gefährdet man den logizistischen Anspruch; fordert man sie nicht, ist die Theorie für die Arithmetik zu schwach.

Welchen Einfluß nun hatte Frege auf Hilberts Programm? Hilbert hat die Probleme des Fregeschen Ansatzes durchaus gesehen. Treffend beschreibt er das Kernproblem dahingehend, daß Frege

„den Umfang eines Begriffs für etwas ohne weiteres Gegebenes [hielt], derart, daß er dann diese Umfänge uneingeschränkt wieder als Dinge selbst nehmen zu dürfen glaubte.“

HILBERT,Neubegründung[1922], 162

Dennoch waren sich Hilbert und Frege in vielen Punkten einig. Um nur ein Bei-spiel zu nennen, etwa in der Konzeption von Definitionen als Festsetzungen abkürzender Redeweisen, die stets eliminierbar sein müssen28 (für Hilbert galt dieses Konzept von Definitionen allerdings nur innerhalb von Theorien, d. h.

für die Nicht-Grundbegriffe). Aber Einigkeit ist noch kein Einfluß. Der wich-tigste Einflußfaktor Freges auf Hilbert war sicher der Logikkalkül.29Allerdings hat Hilbert den Logikkalkül aus anderen Gründen geschätzt als Frege. Hilbert ging es nicht um eine Reinigung der mathematischen Sprache, um eine Lösung logischer Subtilitäten oder eine sprachphilosophischen Anforderungen an be-griffliche Theorien genügende, verbesserte Ausdrucksweise der Mathematik.30 Er entdeckte den Logikkalkül vielmehr als hilfreiches Werkzeug, um mathema-tische Theorien zu untersuchen.31 Den Axiomatiker interessieren Fragen wie die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen verschiedenen Axiomen, ihre Wider-spruchsfreiheit und Vollständigkeit, die Relationen verschiedener Theorien un-tereinander und Ähnliches mehr. Das Grundbedürfnis nach der vielbeschwo-renen „Strenge der Beweisführung“, nach dem rein logischen Schließen außer-halb der axiomatisch festgelegten Grundannahmen, verband beide Mathemati-ker und war ein wichtiger Faktor für die Entstehung des HP. Eine Beweistheorie setzt voraus, daß exakt festgelegt ist, was ein Beweis ist und was nicht. Dazu hat

27Das genannte Problem verschärft sich noch einmal deutlich, wenn man mit Carnap an einer konstruktivistischen Tendenz des Logizismus festhält. Wenn eine Begriffsbildung tatsächlich nur eine Namensgebung für etwas schon Vorhandenes ist und es keine sog. „schöpferischen“ Defini-tionen geben kann, so hätte eine Begriffsbildung, bei der eine (unbewiesene) Existenzbehauptung verwendet wird, einen ernsten Defekt. Vgl. CARNAP,Die logizistische[1931], 94; zu den „schöpfe-rischen Definitionen“ auch DUBISLAV,Schöpferische Definitionen[1928].

28Zur Eliminierbarkeit von Definitionen vgl. auch CARNAP,Die logizistische[1931], 95.

29Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 162.

30Vgl. Hilberts entsprechende Stellungnahme in HILBERT,Über das Unendliche[1926], 176.

31Zu diesem Zweck war es allerdings nötig, die mathematische Theorie aus dem logischen Kalkül heraus viel weiter zu entwickeln, als Frege dies getan hat. Kurt Gödel hat das mit aller Deutlichkeit ausgedrückt: „Frege war infolge seiner peinlich genauen Analyse der Beweise nicht über die elementarsten Eigenschaften der Reihe ganzer Zahlen hinausgekommen.“ GÖDEL, Rus-sells[1986], V.

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 92-116)