• Keine Ergebnisse gefunden

Formelspiel vs. methodische Einstellung

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 132-136)

H ILBERTPROGRAMMS

Kapitel 4 Formalismus

4.1 Formelspiel vs. methodische Einstellung

Der Formalismus als Philosophie der Mathematik ist die Auffassung, daß das

„Wesen“ der Mathematik in der Manipulation von Formeln besteht, denen kei-ne unmittelbare inhaltliche Bedeutung zukommt. Der Formalismus steht im All-gemeinen in gewisser Nähe zu nominalistischen Positionen, denn auch er be-hauptet die Nicht-Referenz bestimmter syntaktischer Objekte. Man könnte dies auch einen „Syntaktizismus“ nennen, nach dem der Objektbezug der Mathe-matik nicht weiter reicht als bis zu den syntaktischen Zeichen und Formeln.

Eine extreme Variante einer solchen Konzeption ist der „Spielformalismus“, in dem die Manipulationsregeln selbst ebenfalls als unabhängig von aller inhaltli-chen Bedeutung angesehen und dadurch mit Spielregeln wie zum Beispiel den Regeln des Schachspiels vergleichbar werden. Mathematik wäre demnach ein bloßes „Zeichen-“ oder „Formelspiel“.

Stichworte wie „Mathematik ist bloßes Formelspiel“ bleiben jedoch sehr un-befriedigend. Weder ist klar, was genau hier „Spiel“ heißen soll, noch ist er-kennbar, wie man bedeutungslose Regeln überhaupt anwenden können will.

Besonders unbefriedigend ist es aber deshalb, weil Hilbert so offensichtlich in diesem Sinne gar kein Formalist gewesen ist. Dafür läßt sich eine ganze Rei-he von Gründen angeben, von denen einige sogar dann schon zwingend sind, wenn auch nur ein Minimum an verständiger Interpretation der Hilbertschen Äußerungen unterstellt wird.

Schonprima facie müßte es eigentlich grotesk anmuten, Hilbert, einem der größten Mathematiker und einem der größten Mathematikliebhaber, zu unter-stellen, er habe seine Wissenschaft als nichts weiter denn ein großes Spiel ange-sehen. Dies widerspricht nicht nur der Ernsthaftigkeit, mit der Hilbert Mathe-matik betrieben hat, und überhaupt seinem wissenschaftlichen Ethos, sondern auch vielen seiner expliziten Äußerungen zum Thema. Hilbert war durch und durch Mathematiker. Er war von der Bedeutsamkeit der Mathematik überzeugt, hat ihr Lebenszeit und Schaffenskraft gewidmet und auch wissenschaftsphilo-sophisch die Position vertreten, daß eine Naturwissenschaft um so weiter ent-wickelt sei, je mehr sie mathematisiert worden ist. Schon von diesen generellen Punkten aus ist es kaum vorstellbar, daß Hilbert die Mathematik wirklich als ein bloßes „Formelspiel“ angesehen hat.

Auf der anderen Seite ist es eine historische Tatsache, daß Hilbert viel mit formalen Methoden gearbeitet und bspw. die Entwicklung der formalen

ma-2PECKHAUS,Impliziert[2005b], 2.

Formalismus 

thematischen Logik nach Kräften gefördert hat. Das Hilbertprogramm fordert expressis verbis, die herkömmliche Mathematik zu formalisieren. Hilbert illus-triert dieses Ziel immer wieder semantischerseits dadurch, daß die Ausdrücke der formalisierten mathematischen Theorien keine Bedeutungen mehr hätten.

Seine Formulierungen von (HP1) gehen in dieselbe Richtung, wenn sie das Ziel der Formalisierung beschreiben als Überführung der Mathematik in einen Be-stand an Formeln. Vereinfachend gesagt: Aus Objekten sollen Zeichen und aus Behauptungen sollen Formeln werden. Also doch Formalismus?

Dem widerspricht Hilberts Festhalten an inhaltlichen mathematischen Über-legungen, zumindest auf der metamathematischen Ebene. Er hält es für „selbst-verständlich“, daß die „inhaltlichen Überlegungen“ in der Mathematik „nie-mals völlig entbehrt oder ausgeschaltet werden können.“3 Dem Formalismus-Vorwurf widersprechen aber auch Aufwand, Mittel und Ziel einer Beweistheo-rie. Um bloß mit Formeln zu spielen, bräuchte man keinen Aufwand für ei-ne Rechtfertigung zu treiben – man könnte einfach drauflos spielen. Das Mit-tel einer solchen Rechtfertigung könnte auch keine inhaltlich bedeutsame rea-le oder finite Mathematik sein. Und wenn Mathematik nichts als Formelspiel wäre, würde ein beweistheoretisches Ergebnis als mathematisches auch nichts besagen und ergo nichts zur Grundlagensicherung beitragen, um die es Hilbert doch unbestreitbar ging.

Beide scheinbar gegenläufige Tendenzen gehen zusammen, wenn man sorg-fältig unterscheidet, was Hilbert als Teil seines methodischen Standpunktes über die Mathematik behauptet und was er wirklich über die Mathematik sagt. Die Mathematik zu einem bestimmten Zweck in gewisser Hinsicht aufzufassen, heißt ja noch lange nicht, darin auch das wirkliche Wesen der Mathematik zu se-hen. Und nicht jede Eigenschaft, die man der Mathematik in einem bestimmten Fragekontext zuschreibt, würde man ihr auch sozusagen „absolut“ zuschreiben.

Die genauere Analyse von Hilberts Äußerungen bestätigt diese Sicht in zwei Hinsichten. Erstensverwendet Hilbert im Zusammenhang mit der Formalisie-rung fast durchgängig FormulieFormalisie-rungen, die einen Prozeß und ein Werden be-schreiben: Die Mathematikwird zueinem Formelbestand gemacht,4 von der Be-deutung der Ausdrückewird abstrahiertbzw. die Ausdrückewerdenihrer Bedeu-tungen entkleidetusw. Durch die Transformation der Mathematik in Formelge-stalt wird nach Hilbert nicht eine neue Art von Mathematik behauptet, sondern einBildder Wissenschaft geliefert.5Die Formeln, die so entstehen, „sinddie Ab-bilderder Gedanken, die die übliche bisherige Mathematik ausmachen“.6Immer bleibt vorausgesetzt, daß die mathematischen Sätze einen Inhalt und die ma-thematischen Terme eine Bedeutunghaben. Diese werden nur ausgelassen bzw.

nicht mehr betrachtet.

3HILBERT,Neubegründung[1922], 165.

4Vgl. z. B. HILBERT,Grundlagen Mathematik[1928], 1; HILBERT,Probleme Grundlegung[1929], 3.

5Vgl. HILBERT,Grundlagen Mathematik[1928], 1.

6HILBERT,Grundlagen Mathematik[1928], 2.

 Formelspiel vs. methodische Einstellung

Dies ließe aber noch die Möglichkeit offen, daß Hilbert hier einen Prozeß beschreibt, der eine Transformation oder Erneuerung der Auffassung von Ma-thematik schlechthin darstellt. Dagegen sprechen zwei weitere Beobachtungen an Hilberts Äußerungen. Dieerstegeht aus den Darlegungen Gottlob Freges her-vor, der nach der harten Kontroverse mit Hilbert über dessen Verständnis von Axiomatik wohl als „unverdächtiger Zeuge“ gelten kann. Hilbert hatte Frege gegenüber im Gespräch anscheinend zu erkennen gegeben, daß er „das For-melwesen in der Mathematik eher zu vermindern als zu vermehren bestrebt“

war. Frege fühlte sich daraufhin bemüßigt, Hilbert in einem Brief geradezu von den Vorteilen der Symbolik und der Kalküle in der Mathematik überzeugen zu wollen.7Hilbert stimmte Frege zu, allerdings nicht ohne noch einmal besonde-res Gewicht darauf zu legen, daß die formalen Hilfsmittel bestimmten Zwecken dienen und daher erst das Spätere gegenüber dem eigentlichen Gedanken oder dem mathematischen Bedürfnissen sein können.8 Von hier aus scheint es klar, daß Hilbert kein Anhänger eines Standpunktes „Formeln um der Formeln wil-len“ gewesen ist. Frege hatte den Eindruck, Hilbert von den Vorteilen erst über-zeugen zu müssen, und Hilbert hat die Vorgängigkeit des Inhaltlichen vor dem Formalismus betont.

DiezweiteBeobachtung besteht darin, daß Hilberts formalistisch klingende Äußerungen fast immer explizit im Kontext einer Beschreibung des methodi-schen Standpunkts der Beweistheorie stehen.Um Beweistheorie betreibenzu kön-nen, muß man die Mathematik zu einem formalen System machen. Sie ist für die Beweistheorie (als Objekt-Mathematik) dann nichts anderes als dieses formale System. „Mathematik ist...“-Behauptungen sind in diesen Kontexten durchaus gerechtfertigt, aber sie sind aufzufassen als „bei dieser Betrachtung ist Mathe-matik...“ oder „gemäß dieser Methode ist MatheMathe-matik...“. Eine solche Unter-scheidung zwischen einem echten „ist“ und einem sozusagen Kontext- oder Methoden-„ist“ ist zwar etwas umständlich auf den Begriff zu bringen, aber dennoch in unserer alltäglichen und in der wissenschaftlichen Welt gang und gäbe. (Auch wenn sie die große Gefahr mit sich bringt, gelegentlich vergessen zu werden. Man denke nur an die vollmundigen Hypothesen der Hirnforscher.) Man kann dies „Formalismus“ nennen. Eine solche Beschreibung von Hil-berts Position ist allerdings eine zweischneidige Sache, denn es besteht eben die nicht zu vernachlässigende Gefahr, Hilberts Position grundsätzlich zu ver-fehlen. Es wird immer zu berücksichtigen sein, daß Hilbert in seinen entspre-chenden Äußerungen nur den methodischen Standpunkt seiner Beweistheorie be-schreibt, und keineswegs sein Bild von der Mathematik überhaupt! Deswegen soll im Folgenden konsequent von Hilberts „methodischem Formalismus“ ge-sprochen werden. Denn Hilbert beschreibt mit seinen formalistisch klingenden Aussagen nichts als eine methodische Position, eine bestimmte, zweckgeleite-te Auffassung der Mathematik, die keine definitive Aussage darüber macht,

7Frege an Hilbert, 1. 10. 1895, vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 58–59.

8Hilbert an Frege, 4. 10. 1895, vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 59–60.

Formalismus 

was Mathematik selbst eigentlich ist. Bei der Beschreibung der methodischen Einstellung der Beweistheorie wird die Mathematik, bildlich gesprochen, durch eine rote Brille betrachtet. Man schaut dadurch nur auf gewisse Aspekte und Zusammenhänge und blendet andere aus. Sicher tut man gut daran, aus der Tatsache, daß Mathematik in diesem Rahmen eine Abstufung von Rottönen ist, nicht darauf zu schließen, daß sie tatsächlich in einer Abstufung von Rottönen besteht.9

Will man Hilberts Standpunkt also insgesamt als „formal“ oder „formalis-tisch“ bezeichnen, so kann man dies in folgendem Sinne tun: Hilbert betont die Notwendigkeit der beweistheoretischen Grundlagensicherung der Mathe-matik. Teil dieser Sicherung ist die „Abbildung“ der Mathematik in die Form von formalen Systemen. „Formalismus“ alseinePhilosophie der Mathematik ist jedoch, wenn dies überhaupt eine sinnvolle Position ist, nicht die Position Hil-berts. Er war weit entfernt davon, die für die Beweistheorie entwickelten For-malismen für dieeigentliche Gestalt der Mathematik zu halten. Hilberts Forde-rung, die herkömmliche Mathematik zu formalisieren und als bedeutungsleeren Formelbestand aufzufassen, muß vielmehr als Teil seines beweistheoretischen Programms angesehen werden. (HP1) ist eine Forderung für die Beweistheo-rie, nicht für die Mathematik überhaupt. Die Formalisierung ist einemethodische Forderung zu verstehen, daß zur Durchführung der beweistheoretischen Unter-suchungen die objekt-mathematischen Sätze so zu nehmen sind, als wärensie inhaltslose Formeln. Damit verlieren Interpretationen ihren Boden, welche aus diesem programmatischen Schritt ableiten wollen, Hilbert vertrete in der Philo-sophie der Mathematik eine formalistische Position, jedenfalls im engeren Sinne, d. h., daß mathematische Aussagen nur Aussagen über Zeichen wären und ma-thematisches Beweisen „bloßes Zeichenspiel“. Die Formalisierung ist hier aus den genannten Gründen nicht als Transformation der Mathematik in eine ihr ei-gene (oder eigentliche), neue Gestalt zu verstehen, sondern als Transformation der eigentlichen Mathematik, wir können sagen: in eine uneigentliche, formale Fassung, in der sie beweistheoretisch untersucht werden soll.

Es ist also festzuhalten, daß Hilbert kein Formalist im Sinne des Spielfor-malismus war. Seine anderslautenden Äußerungen sind in ihrem Kontext als Beschreibungen des methodischen Standpunkts der Beweistheorie zu lesen.

Dies giltmutatis mutandisauch für all diejenigen Formalismuskonzeptionen, die auf die Betonung der rein syntaktischen Funktion von Formeln und anderen (formal-)sprachlichen Ausdrücken abheben.

Nach dem Gesagten bleibt dann allerdings erklärungsbedürftig, warum Hil-bert der Subsumtion unter die formalistischen Positionen nicht energischer

wi-9Dieses Bild der Brille hat den Nachteil, ein erkenntnistheoretisches Problem zu suggerieren.

Mangels eines besseren Bildes sei es dennoch angegeben und mit dem Hinweis versehen, daß es hierbei nicht um den Unterschied zwischen der Sache an sich und ihrer Erscheinung für uns geht, sondern um den Unterschied zwischen dem, was wir wirklich über eine Sache behaupten wollen, und dem, was wir nur in einem methodischen Kontext, als besondere Auffassung einer Sache ausgeben.

 Alternative Formalismusbegriffe

dersprochen hat. Wenn die hergebrachte Zuordnung zum Formalismus nicht völlig in das Reich der Abstrusitäten verwiesen werden soll, welche Aspekte sind denn auch bei genauerer Analyse zutreffend? Wie könnte ein vernünftiger Formalismusbegriff aussehen, der auch auf Hilbert anwendbar ist?

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 132-136)