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Finite Metamathematik

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 161-165)

H ILBERTPROGRAMMS

Kapitel 4 Formalismus

5.3 Finite Metamathematik

Finitismus 

len.28Gleichwohl kommt es für Hilbert nicht in Frage, der Mathematik die all-gemeine Verwendung des Tertium non datur zu verbieten. Dieses Verbot wäre in seinen Augen so, wie wenn man dem Boxer die Benutzung seiner Fäuste oder dem Astronomen die des Teleskops verbieten würde.29 Überhaupt braucht die Mathematik die uneingeschränkte Verwendung der Quantoren auch bei unend-lichen Gesamtheiten.30 Die sog. „transfiniten Schlußweisen“ sind für den Auf-bau einer Mathematik, die diesen Namen auch verdient, unerläßlich. Es mußte also eine Alternative her, die Mathematik in vollem Umfang zu rehabilitieren, und dennoch die finiten Sicherheiten nicht aufzugeben.

 Finite Metamathematik

diesen konstruktiven Zug der metamathematischen Ebene will Hilbert sich zu-nutze machen. Zwar kommt man mit den finiten mathematischen Methoden beim Aufbau der Mathematik nicht über Elementares hinaus. Das Beweisen mathematischer Resultate in formalen Kalkülen ist jedoch mathematisch be-trachtet elementar. Und das lädt dazu ein, die Sätze der Zahlentheorie als blo-ße Formeln aufzufassen und das logische Schlieblo-ßen als mechanisches Ableiten von Formeln aus Formeln, die Rechtfertigung hingegen auf die Metaebene zu verlagern, indem von diesem konstruktiv-mechanischen Regelsystem für Ab-leitungen gezeigt wird, daß es nicht auf Widersprüche führen kann. So werden nicht mehr die einzelnen mathematischen Definitionen und Beweisschritte finit-konstruktiv gerechtfertigt, sondern die ganzen Axiomensysteme.

Daß sich beim mathematischen Beweisen keine Widersprüche oder Parado-xien einstellen, soll nicht mehr dadurch verbürgt werden, daß jeder Einzelschritt finit zulässig ist, sondern dadurch, daß ganze formale Systeme zum Objekt einer Metamathematik gemacht werden. So wird der finit-konstruktive Charakter des logischen Schließens ausgenutzt, den von Neumann formuliert hat. Wenn man finit zeigen könnte, daß ein solches System widerspruchsfrei ist, hätte man ge-wissermaßen den Bereich des finit Gerechtfertigten viel weiter ausgedehnt, als die finite Zahlentheorie reicht.

Die inhaltlich betriebene Metamathematik soll in der konstruktiv-finiten Weise über die formalisierte Mathematik reden, wie die finite Zahlentheorie über Zahlzeichen geredet hat.

„Die Axiome, Formeln und Beweise, aus denen dieses formale Gebäude besteht, sind ge-nau das, was bei dem vorhin geschilderten Aufbau der elementaren Zahlenlehre die Zahl-zeichen waren, und mit jenen erst werden, wie mit den ZahlZahl-zeichen in der Zahlenlehre, inhaltliche Überlegungen angestellt, d. h. das eigentliche Denken ausgeübt.“

HILBERT,Neubegründung[1922], 165

Die „konkreten Objekte“, an denen dieses inhaltliche Denken ausgeübt wird, sind in der Metamathematik dann aber nicht bloß die Zahlzeichen, sondern überhaupt alle Zeichen, Formeln und Beweise der formalisierten eigentlichen Mathematik.33

Der entscheidende „turn“ war also derjenige von einer finit betriebenen Ma-thematik hin dazu, die MaMa-thematik sich selbst zum Objekt zu machen. Mittels einer finit betriebenen Metamathematik soll die Absicherung der Objektmathe-matik erfolgen.

Die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metatheorie hat Hilbert aller-dings vor dem 1922 in Leipzig gehaltenen Vortrag Die logischen Grundlagen der Mathematik34noch nicht konsequent durchgezogen. Zunächst war auch die Ob-jekttheorie noch ganz konstruktiv konzipiert. So vermeidet er in den Vorlesun-gen von 1920 und in einem Manuskript von 1920/21 jegliche logischen Regeln für die Negation. Das einzig „negative“ Element in den betrachteten Theorien

33HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 153.

34HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923].

Finitismus 

ist die Ungleichheit, also ein „negatives“ Prädikat. Dieses wird jedoch in keine direkte Beziehung zu seinem Gegenstück, der Gleichheit, gesetzt, außer eben im metatheoretischen Begriff der Widerspruchsfreiheit, der gefaßt wird als Nicht-Ableitbarkeit von einer Gleichung und der entsprechenden Ungleichung. Aber Gleichungen und Ungleichungen haben im Kalkül gewissermaßen nichts mit-einander zu tun.

Noch in seinem 1921er Vortrag Neubegründung der Mathematik betont Hil-bert, daß dieser konstruktive Aspekt der Objekt-Theorie für seine Beweistheo-rie geradezu „charakteristisch“ sei.35Dennoch findet sich inNeubegründungder erste Schritt zur Konzeption einer Objekttheorie mit voller klassischer Logik.

Hilbert läßt hier zum ersten Mal logische Axiome für die Negation zu, nämlich:

a6=a→ A(kurz füra=a→ (a6=a→ A), daa=aals Axiom vorhanden ist) und(a=b → A) → ((a6=b→ A) →A).36 Auch wenn die Objekttheorie noch nicht von den konstruktiven Beschränkungen befreit ist, scheint in Neubegrün-dung die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metatheorie schon deutlicher durchgeführt zu sein als in den vorausgehenden Schriften. Dafür spricht etwa die stringente Unterscheidung zwischen Objektvariablen und Mitteilungszei-chen, die auch durch den Frakturschrift-Satz hervorgehoben wird.37

Die vollen logischen Negationsaxiome werden allerdings erst in der Ber-nays’schen Mitschrift zu Hilberts Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 und in dem genannten Leipziger Vortrag von 1922 verwendet.38 Sie zeigen an, daß der konzeptionelle Übergang von einer direkt finit-konstruktiv gerechtfertigten Mathematik zu einer klaren methodischen Trennung zwischen Objekttheorie mit voller klassischer Logik und konstruktiv-finiter Metatheorie vollzogen wur-de und damit erst wirklich wur-der genannte reflexive „turn“ zur vollen Ausgestal-tung kam.

Die entscheidende Frage ist nun aber, welche Schlußweisen genau finit zu-lässig sind und welche nicht. Lassen sich Kriterien dafür angeben? Ein Kriteri-um, das Hilbert gibt, geht aus folgender Passage hervor:

„Die beweisbaren Formeln, die auf diesem Standpunkt gewonnen werden, haben sämtlich den Charakter des Finiten, d. h. die Gedanken, deren Abbilder sie sind, können auch ohne irgendwelche Axiome inhaltlich und unmittelbar mittels Betrachtung endlicher Gesamt-heiten erhalten werden.“ HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 154

35Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 173.

36Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 175. Bernays sieht diese „formale Beschränkung der Ne-gation“ inNeubegründungebenfalls als „Überbleibsel aus dem Stadium, in dem diese Sonderung [zwischen Objekt- und Metatheorie, C. T.] noch nicht vollzogen war“ an; vgl. BERNAYS,Hilberts Untersuchungen[1935], 203.

37So auch BERNAYS, Hilberts Untersuchungen[1935], 203, der darin sogar eine „scharfe Son-derung des logisch-mathematischen Formalismus von der inhaltlichen, ‚metamathematischen‘

Überlegung“ sieht.

38Die zwei AxiomeA(AB)und(AB)((AB)B)finden sich im zweiten Teil der offiziellen Vorlesungsausarbeitung von Bernays, der eine eigene Paginierung hat. Dies und der Vergleich mit einer tatsächlichen Mitschrift der Vorlesung von Hellmuth Kneser legen nahe, daß die Axiome noch nicht in der Vorlesung selbst Verwendung fanden; vgl. auch EWALD/SIEG, Lectures[2007], 376, bes. Fn. 57; HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 152, bes. Fn. 3.

 Finite Metamathematik

Als finit gelten die Formeln, die Abbilder finit zu erhaltender Gedanken sind, und das sind solche, die man „inhaltlich und unmittelbar mittels Betrachtung endlicher Gesamtheiten“ erhalten kann. Bei diesem Rekurs auf „endliche Ge-samtheiten“ bleibt jedoch die Anzahl der Elemente dieser Gesamtheiten unbe-stimmt. Die Frage ist daher: Fallen darunter auch diejenigen Gedanken, die man durch Betrachtung einer ganzen Kette endlicher Gesamtheiten, z. B. mit aufstei-gender Elementezahl, erhalten kann?

Ein unbeschränkter Allquantor gilt Hilbert jedenfalls als etwas durchaus Transfinites. Während eine generelle Aussage über die Elemente einer endli-chen Gesamtheit gleichbedeutend mit der Konjunktion der Einzelinstanzen ist und somit das Tertium non datur unzweifelhaft gültig ist, gilt für eine generelle Aussage über die Elemente einer unendlichen Gesamtheit nichts Entsprechen-des.39 Auch hier zeigt sich wieder die schon früher entdeckte Spur, „finit“ und

„endlich“ eng zusammenzulesen und gegen das für problematisch gehaltene Unendliche abzugrenzen.

Wenn Hilbert dann so weit geht zu sagen, daß die Negation eines allgemei-nen Urteils ∀xϕ(x) bei unendlichen Gesamtheiten „zunächst gar keinen präzi-sen Inhalt“ habe,40 so sieht man daran, wie weit er sich in der Frage der meta-theoretisch zulässigen Beweismittel Brouwer angenähert hat. Dabei ist hier ei-gentlich schon Vorsicht angesagt, denn selbst eine Formel mit einem Allquantor gehört nach Hilbert nicht mehr zum Bereich des finit Zulässigen. Aussagen, in denen Allgemeinheit ausgedrückt wird, gehen nach Hilberts Darstellung nicht weiter als bis zu allgemeinen Aussagen wie, daß für zwei beliebige Zahlzeichen aundbstetsa+b=b+agilt. Und selbst bei diesen Aussagen betrachtet Hilbert nur den Teil „a+b = b+a“ als die eigentliche finite Aussage, wenn er näm-lich den quantifizierenden Teil „für zwei beliebige Zahlzeichenaundb“ schon unter die „inhaltlichen Hinweise“ rechnet, die mit der eigentlichen finiten Aus-sage „verbunden“ werden und damit jedoch letztlich von ihr zu unterscheiden sind.41

Inhaltliche Kriterien für die Abgrenzung der finit zulässigen Schlußweisen haben oft das Problem, daß sie zu vage sind. So etwa wenn Gentzen die finiten Schlußweisen als solche bestimmt, „die von jeglicher Anfechtbarkeit frei sind“.42 Solange nicht näher bestimmt ist, welche Arten von „Anfechtungen“ hier zuläs-sig wären, ist mit diesem Vorschlag nicht viel zu gewinnen. Ähnliches gilt auch für Hilberts Charakterisierung des finiten Bereichs als „Bereich des völlig Siche-ren“.43 Oder auch für sein Kriterium, daß finite Schlußweisen „den Charakter des handgreiflich Sicheren haben“ müssen.44 Man wird dies wohl nur so ver-stehen können, daß die zur Debatte ver-stehenden Schlußweisen einzeln

durchge-39HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 154–155.

40HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 155.

41Diese These wird auch vertreten als Nr. (4) in SCHIRN/NIEBERGALL,Extensions[2001], 136.

42GENTZEN,Widerspruchsfreiheit[1936a], 5.

43HILBERT,Wintersemester 21/22 (Bernays)[1922a*], 3a.

44HILBERT,Wintersemester 21/22 (Bernays)[1922a*], 2a.

Finitismus 

gangen und auf ihre finite Zu(ver)lässigkeit, also darauf, daß sie „handgreiflich sicher“ sind, zu prüfen sind. Welche Kriterien bei dieser Prüfung genau eine Rolle spielen, bleibt jedoch dunkel.

Entlang dieser Linien ist eine präzise Beschreibung des Umfangs der finit zulässigen Methoden ein schwieriges Unterfangen, das die Frage aufwirft, ob es überhaupt möglich ist. Mit Niebergall und Schirn wird man festhalten müssen, daß finite Metamathematik (und mit ihr auch ihr „Vorbild“, die finite Mathe-matik) keine formale Theorie ist und daß, selbst wenn man sie in eine formale Theorie überführen wollte, nicht zu sehen ist, warum dabei eine axiomatisierba-re Theorie herauskommen müßte.45

Mit der allgemeinen Frage, welche Schlußweisen „von jeglicher Anfechtbar-keit frei“ sind, hängen zwei konkretere Fragenkreise zusammen. Der erste be-trifft die Induktion. Sind im Finitismus induktive Prinzipien zugelassen? Müs-sen sie in einem Finitismus im Rahmen des Hilbertprogramms gar zugelasMüs-sen werden? Und wenn ja: Welche Arten von Induktion und wie sind sie finit ge-rechtfertigt? – Diese Fragen haben als mehr oder weniger implizite die konkre-ten Ansätze zu Widerspruchsfreiheitsbeweisen der Hilbertschule deutlich be-einflußt. Deshalb und weil mit ihnen eine grundsätzliche Kritik an Hilberts Vor-gehen verbunden worden ist, soll dieser Fragenkreis erst in den Reflexionen des dritten Teils dieser Arbeit behandelt werden, und zwar unter dem Namen Poin-carés, der diese Kritik vorgetragen hat (vgl. dritter Teil, Kapitel 1, S. 303ff.). Im folgenden Abschnitt wird es hingegen um einenzweitenKreis konkreter Fragen gehen, der sich darum dreht, inwiefern man die „finit zulässigen Methoden“

durch die Identifikation eines formalen Systems dingfest machen kann.

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 161-165)