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Kriteriologie für Axiome

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 76-89)

H ILBERTPROGRAMMS

2.5 Kriteriologie für Axiome

 Kriteriologie für Axiome

Wurzeln: Axiomatik 

Und „volle“ Mathematik heißt dabei nichts Anderes, als die Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit auf ein Minimum zu beschränken.

Wenn Hilbert so die Freiheit der Mathematik immer wieder betont, zieht er sich schnell den Vorwurf zu, daß seine Axiomatik völlig beliebige Axiome zu-lasse49 und dadurch in die theoretische Beliebigkeit abrutsche. Ist diese große Freiheit nicht letztlich reine Beliebigkeit? Sind die Axiome nicht beliebige Fest-setzungen?

An dieser Frage nach der Willkürlichkeit der Axiome lassen sich einige Teil-aspekte unterscheiden. Da ist zum einen die Frage nach dem Verhältnis von Axiomen und Wahrheit. Wenn die Axiome nach Hilberts „neuer Axiomatik“

nun nicht mehr Grundwahrheiten sein müssen, sind sie dann überhaupt noch an irgendeine Form von „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ gebunden oder können

„falsche“ Sätze genauso „beanspruchen“, Axiome zu sein? Auf der Ebene des Objektbezugs stellt sich eine ähnliche Frage: Wenn die Begriffe innerhalb der axiomatischen Theorie so behandelt werden sollen, als hätten sie keine Bedeu-tung, sind dann die Axiome nicht von jedem Bezug auf wirkliche Entitäten ab-gelöst? Können Axiome noch anders aufgefaßt werden denn als Festsetzungen über völlig beliebige, weil unterbestimmte Entitäten? Schließlich könnten Axio-me auch noch willkürlich sein im Bezug auf ihre konkrete Auswahl. Wie soll zwischen zwei „Axiomkandidaten“ ausgewählt werden, die vor dem Hinter-grund der übrigen Axiome genau die gleichen Folgerungen nach sich ziehen würden?

Auf diese Fragen antworten die Kriterien, die Hilbert für die Auswahl von Axiomensystemen thematisiert. Bei diesen Kriterien handelt es sich um Bedin-gungen, denen die einzelnen Axiome oder die gesamten Axiomensysteme ge-nügen sollen. Sie haben insofern den Charakter von Beschränkungen gegenüber einer grundsätzlich uneingeschränkten Freiheit der mathematischen Theoriebil-dung.

Auf der einen Seite plädiert Hilbert also geradezu leidenschaftlich für die Freiheit der Mathematik und sieht diese Freiheit in der Axiomatik und ihrer Ablösung von der unmittelbaren Bindung der Axiome an die sachliche Wahr-heit realisiert. Auf der anderen Seite ist die Aufstellung von Axiomen und die Untersuchung ihres Zusammenhanges kein Selbstzweck, sondern dient der bes-seren Ordnung und damit der Orientierung innerhalb der betrachteten Theorie, wie es unter dem Stichpunkt „Axiomatik als Methode“ schon behandelt wur-de.50Die Auswahl der Axiome erfolgt daher keineswegs beliebig, aber doch mit einer gewissen Wahlfreiheit.51

Der methodische Charakter der Axiomatik hängt dabei mit verschiede-nen anderen Zielvorgaben zusammen, die durch eiverschiede-nen programmatischen oder

49So spricht z. B. MOSTOWSKI, Thirty Years[1966], 7, von der „inevitable arbitrariness of the axioms“ in Hilberts Ansatz.

50Vgl. Abschnitt 2.4.2, S. 74ff..

51Vgl. auch Hilberts Formulierung vom „freien Schalten“ im Frege-Briefwechsel; FREGE, Brief-wechsel[1976], 66.

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sonstigen wissenschaftlichen Kontext vorgezeichnet sein können.52So kann ei-ne bestimmte Theorie nach Hilbert durchaus auf verschiedeei-ne Weisen axiomati-siert werden. Manchmal mag es Sätze geben, die „man“ für besonders grundle-gend hält und die daher „natürliche“ Kandidaten für Axiome sind. Man ist aber weder daran gebunden, noch haben diese Sätze „an sich“ einen ausgezeichne-ten Status. Hilbert hält sich ausdrücklich die Möglichkeit offen, ja bezeichnet sie sogar als natürliche Vorgehensweise in der Mathematik, daß einmal gewähl-te Axiome ein anderes Mal mit vollem Recht auf tiefliegendere andere Axiome zurückgeführt werden. Die Hilbertsche Axiomatik ist also auch gekennzeichnet von einertheorieinternen reduktiven Komponente.

Das Umgekehrte, nämlich die Hinzufügung neuer Axiome, ist für Hilbert ebenfalls typisch für die Entwicklung der Mathematik.53Beide Prozesse gesche-hen nun zwar immer mit einer gewissen Willkür,54aber innerhalb von kriteriel-len Grenzen, die Hilbert zumindest teilweise auch explizit macht. Sie sind daher nicht in einem starken Sinne willkürlich.

Bei den Kriterien könnte man nun meinen, daß sich systematisch Kriterien für einzelne Axiome und Kriterien für das Gesamtsystem unterscheiden lassen würden. Eine solche Trennung läßt sich jedoch nicht durchhalten, denn die Kri-terien für die einzelnen Axiome lassen sich eigentlich nicht sinnvoll von den Kriterien an das Gesamtsystem trennen. Dies liegt vor allem daran, daß die Bedeutung der in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe sich nach Hilberts Verständnis mit der Hinzufügung neuer Axiome verändert (vgl. auch den Ab-schnitt zur impliziten Definition durch Axiome, 2.3, S. 68ff.).

Die Kriterien, die im Folgenden kurz thematisiert werden sollen, lassen sich zur besseren Orientierung in syntaktische, semantische und pragmatische un-terscheiden. Als syntaktisches Kriterium soll die Widerspruchsfreiheit, als se-mantisches Kriterium die Vollständigkeit und als pragmatische Kriterien Ein-fachheit und Unabhängigkeit betrachtet werden. Es wird sich zeigen, daß diese Einteilung einem absteigenden Verbindlichkeitsgrad der Kriterien entspricht.

2.5.2 Vollständigkeit oder: Woher kommen die Axiome?

Den modernen Leser müßte es eigentlich irritieren, wenn in der Überschrift die Frage nach Vollständigkeit und die Frage nach dem Woher der Axiome in eins gesetzt werden. In der modernen Logik gibt es verschiedene Vollständigkeits-begriffe, etwa die semantische Vollständigkeit (Ableitbarkeit aller allgemeingül-tigen Formeln) und die syntaktische oder Post-Vollständigkeit (Hinzufügung nicht ableitbarer Formeln führt zu Inkonsistenz). Die Frage, woher die Axiome kommen oder wie man zu neuen Axiomen gelangt, scheint demgegenüber ei-ne ganz andere Frage zu sein. In Hilberts Sprachgebrauch trifft man jedoch auf

52Vgl. HILBERT,Über das Unendliche[1926], 177.

53HILBERT,Neubegründung[1922], 175.

54HILBERT,Über das Unendliche[1926], 177.

Wurzeln: Axiomatik 

einen Vollständigkeitsbegriff, der sich offenbar von denen der modernen Logik unterscheidet und mehr mit der genannten Frage zu tun hat.

2.5.2.1 Bezug auf ein vorgängiges Wissensgebiet

Hilbert nennt eine Axiomatisierung nämlich gelegentlich „vollständig“ in Be-zug auf ein Wissensgebiet, das gerade axiomatisiert werden soll. Das resultie-rende Axiomensystem heißt also „vollständig“ in dem Sinne, daß es das Wis-sensgebiet vollständig axiomatisiert, d. h., daß es alle (oder zumindest: alle we-sentlichen) Lehrsätze dieses Wissensgebietes abzuleiten gestattet. Dies ist die-jenige Vollständigkeit, die Hilbert vor allem in seinen frühen Schriften immer wieder fordert. Sie hängt eng mit seiner Überzeugung von der Lösbarkeit aller mathematischen Probleme zusammen und setzt das voraus, was auch schon die Konzeption von Axiomatik als metatheoretischer Untersuchungsmethode vor-ausgesetzt hat, nämlich eine Wissenschaft, die axiomatisiert werden soll. Durch Axiomatisierung erschafft man keine Wissenschaft, sondern strukturiert Vor-handenes um. Darauf zielt auch der erwähnte Vollständigkeitsbegriff ab. Wenn eine Axiomatisierung in diesem Sinne vollständig ist, hat man mit ihr sozusa-gen die Aussasozusa-gen des Wissensgebiets eingefansozusa-gen, d. h. nichts verloren, sondern nur eine besonders übersichtliche Darstellung ihrer inneren Struktur gewonnen.

Weildie zu axiomatisierende Wissenschaft ihrer Axiomatisierung vorausgeht, ist die Aufstellung von Axiomensystemen in Hilberts Augen keine Sache von Be-liebigkeit. Sie ist für ihn derart an die Vorgaben der Wissenschaft gebunden, daß er das Aufstellen von Axiomen nicht als ein Erfinden, Ausdenken oder bloßes Setzen beschreibt, sondern als ein „Sammeln“ und „Aufstellen“.55

Die Axiomatik hat den Vorteil, auch mit der Situation umgehen zu können, daß in einer Wissenschaft mehrere miteinander unverträgliche Prinzipien vor-kommen. Die nichteuklidische Geometrie ist hier noch einmal ein gutes Beispiel.

Das Parallelenaxiom und die verschiedenen Alternativen zu ihm werden hier einfach zu Bestandteilen verschiedener Axiomensysteme, die nebeneinander-stehen und nebeneinander erforscht werden können. Beide entstammen jedoch der Geometrie als vorher bestehender wissenschaftlicher Disziplin.

Der Zusammenhang zwischen axiomatisierter und nichtaxiomatisierter Theorie gestaltet sich dabei in etwa wie folgt. Es gibt die informelle Wissen-schaft mit ihren herkömmlichen Begriffen, die wiederum ihre herkömmliche Bedeutung haben usw. Auf der anderen Seite gibt es die Axiome des axioma-tischen Systems, die gewissermaßen die Abbilder der „wirklichen Sätze“ sind.

Mit ihnen wird innerhalb des axiomatischen Rahmens rein formal operiert. Dies sichert die „Strenge der Beweisführung“. Die so formal abgeleiteten Sätze bzw.

Formeln sind dann wieder mittels der Abbildungsrelation in den Bereich der eigentlichen Wissenschaft zurückzuprojizieren. Die Begriffe der Theorie wer-den so von ihrer gewöhnlichen Bedeutung entkoppelt, in die formal-logische Maschinerie gesteckt und deren Ergebnisse werden schließlich wieder inhalt-lich interpretiert. Auf der Zwischenstrecke werden die Begriffe so behandelt,

55HILBERT,Neubegründung[1922], 160.

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als hätten sie keine Bedeutung. Sie werden völlig interpretationsoffen gehalten.

Dadurch werden die Worte gewissermaßen aus ihrem semantischen Netz her-ausgelöst und in ein neues, weniger bestimmtes solches Netz gestellt. Dies ist eine Keimzelle für den späteren methodischen Formalismus: Die Abkoppelung der Grundbegriffe einer Theorie von ihrer herkömmlichen Bedeutung.

Das semantische Netz innerhalb der axiomatischen Theorie, dasalleindurch die Axiome der Theorie bestimmt wird, ist nach dieser Abbildungskonzeption nicht unabhängig von der ursprünglichen Bedeutung der Worte.56 Es werden nicht völlig beliebige Sätze zu Axiomen erklärt, wie man gerade deshalb beto-nen muß, weil Hilbert später so häufig unterschiedslos als „Formalist“ gekenn-zeichnet wurde. Aber die Axiomatik hat den Vorteil, mit verschiedenen sich wi-dersprechenden Axiomen umgehen zu können. Woher stammen aber dann die konkreten Axiome? Die traditionelle Antwort war im Fall der Geometrie: aus der räumlichen Anschauung.

2.5.2.2 Axiome und Anschauung

Hilbert hält in den Grundlagen der Geometrie daran fest, daß die Aufgabe aus der geometrischen Axiomatik auf „die logische Analyse unserer räumlichen An-schauung“ hinauslaufe.57Wenn dies so ist, wäre Hilbert allerdings noch einmal die Frage zu stellen, wie ein und dieselbe Anschauung zu miteinander unver-träglichen Axiomen führen kann. Entsprechend hat sich Frege darüber gewun-dert, daß man noch an einer Bindung zwischen Axiomen und Anschauung fest-halten kann, wenn man eine Konzeption von Axiomatik vertritt wie die Hilbert-sche. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß Hilbert

„die Geometrie von der Raumanschauung ganz loslösen und zu einer rein logischen Wis-senschaft gleich der Arithmetik machen“ FREGE,Briefwechsel[1976], 70

wolle. Ja, er entwirft sogar ein genaueres Bild, wenn er über Hilberts Konzeption schreibt:

„Die Axiome, die sonst wohl als durch die Raumanschauung verbürgt, dem ganzen Baue zu Grunde gelegt werden, sollen, wenn ich Sie recht verstehe als Bedingungen in jedem Lehrsatz mitgeführt werden, zwar nicht im vollen Wortlaute ausgesprochen, aber als in den Wörtern ‚Punkt‘, ‚Gerade‘, u.s.w. eingeschlossen.“ FREGE,Briefwechsel[1976], 70

Genau dies scheint mir der Kern von Hilberts Lehre von der Definition der Grundbegriffe durch die Axiome zu sein. Und wenn Hilbert selbst feststellt, daß

56So auch PECKHAUS,Impliziert[2005b], 13: „Das axiomatische Verfahren beginnt inmitten der bestehenden, nicht-axiomatisierten Mathematik. [. . . ] Die Axiomatisierung kann somit als die Re-konstruktion eines Teils gegebener Mathematik angesehen werden und ist daher auch nicht voll-kommen frei von dieser gegebenen Mathematik.“

57Vgl. HILBERT,Grundlagen Geometrie[1899], 1. – Mit dieser Formulierung verweist Hilbert na-türlich auf Kant. Und so ist der Einleitung auch als Epigramm ein Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft vorangestellt:

„So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begrif-fen und endigt mit Ideen.“ [KrV, Elementarlehre, T. 2, Abt. 2]

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ein Punkt in verschiedenen Geometrien etwas Verschiedenes ist,58so scheint er wohl die Anbindung an eine anschauliche Vorstellung von Punkten aufgegeben zu haben.

Nach diesen Feststellungen muß man zunächst festhalten, daß von der An-lage von Hilberts Axiomatikkonzeption und vom Wortlaut seiner Einlassungen her vieles dafür spricht, daß sein Festhalten an der räumlichen Anschauung in den Grundlagen nicht mehr als eine Reverenz an die traditionelle (Philosophie der) Geometrie ist. Ohne daß dies hier im Einzelnen entfaltet werden kann, wä-ren allerdings noch zwei andere Punkte zu prüfen.Erstenswäre auch nach Hil-bert noch ein Zusammenhang zwischen räumlicher Anschauung und geometri-scher Theorie denkbar, wenn eine interpretative Zwischenstufe offen gehalten würde. Die „räumliche Anschauung“ müßte sich beispielsweise nicht nur auf den euklidischen Raum oder, sagen wir noch allgemeiner, irgendeinen „tota-len“ Raum beziehen, sondern könnte auch Axiome für Teilräume liefern. So sind die Axiome, die sich aus der Analyse der Anschauung des gesamten (euklidi-schen) Raumes ergeben, natürlich andere als diejenigen, die sich aus der Analy-se von im euklidischen Raum eingebetteten Objekten ergeben. Letztere können natürlich nichteuklidische Geometrien modellieren. Der zweitePunkt klingt in Hilberts Aussage an, daß ein Punkt in verschiedenen Geometrien etwas Ver-schiedenes sei.59Geht man diesem Gedanken radikal nach, so könnte man noch argumentieren, daß es eben verschiedene Arten von Raumanschauungen gibt, eine Anschauungsart für euklidische Punkte und Geraden und eine andere für hyperbolische Punkte und Geraden usw. Ohne diese beiden Punkte sorgfältig durchdacht zu haben, kann man wohl kein abschließendes Urteil über die Frage fällen, ob Hilbert nicht doch an einer Ankoppelung der Axiome an die Anschau-ung festgehalten hat, die sich eben nur von der traditionellen 1-zu-1-AnbindAnschau-ung an einen totalen euklidischen Raum unterscheidet.

2.5.2.3 Vollständigkeit im technischen Sinne

Es kann als gesichert gelten, daß Hilbert die Syntax/Semantik-Unterscheidung schon früh klar war. Dennoch hat er beide Ebenen häufig nicht klar getrennt, sondern einen Kalkül verwoben mit seiner semantischen Motivation und in-tendierten Interpretation präsentiert, wie etwa in den Vorlesungen von 1920.60 Zumindest im Bezug auf die Aussagenlogik ist mit der (zweiten, Göttinger) Ha-bilitationsschrift von Bernays schon 1918 ein klarer Standard gesetzt worden.

Bernays trennt die semantische und die syntaktische Ebene sauber voneinander und stellt mit Vollständigkeits- und Korrektheitsbeweisen die präzisen Zusam-menhänge her. Hilbert hingegen erlaubt sich in seiner Vorlesung vom Winter-semester 1920, den Ausdruck „Richtigkeit“ sowohl für einen syntaktischen als

58So im Briefwechsel mit Frege; FREGE,Briefwechsel[1976], 67.

59Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 67.

60Vgl. EWALD/SIEG,Lectures[2007], 251.

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auch für einen semantischen Begriff zu verwenden. Sein informeller Vollstän-digkeitsbeweis rechtfertigt diese scheinbare Äquivozität natürlich.61

Im modernen, technischen Sinne hat Hilbert die Vollständigkeitsfrage erst später gestellt. Die früheste wirklich öffentliche Erörterung dieses Problems hat er wohl erst in seinem Vortrag auf dem Mathematikerkongreß in Bologna 1928 gegeben.62 Dies war aber nicht die erste Äußerung Hilberts zu diesem Thema überhaupt. So hat er (in einem seiner Redebeiträge) in der Vorlesung vom Win-tersemester 1922/23 schon die „Post-Vollständigkeit“ formuliert:

„Die Vollständigkeit eines Axiomensystems besteht darin, daß bei Zufügung eines nicht aus den Ax[iomen] folgenden neuen Axioms ein Widerspruch auftritt.“

HILBERT,Wintersemester 22/23 (Kneser)[1923*]

Interessanterweise wurde die technische Vollständigkeit für ihn damit genau zu der Zeit wichtig, als er die Vollständigkeit im Bezug auf ein Wissensgebiet nicht mehr unbedingt verlangte. So hält er es in seinen Schriften zu dieser Zeit nicht mehr für ein Problem, daß Axiomensysteme in dem früheren Sinne un-vollständig sind. Die Relativierung des Beweisbegriffs auf Axiomensysteme gilt ihm nämlich als unproblematisch, weil die Axiomensysteme beständig erwei-tert werden können.63Sind solche Erweiterungen etwas ganz Gewöhnliches, so scheint der alte, nichttechnische Vollständigkeitsanspruch nicht mehr zu gelten.

2.5.3 Unabhängigkeit und Einfachheit

Die Frage nach der Unabhängigkeit von Axiomen ist die Frage danach,

„ob etwa gewisse Aussagen einzelner Axiome sich untereinander bedingen und ob nicht somit die Axiome noch gemeinsame Bestandteile enthalten.“

HILBERT,Mathematische Probleme[1900a], 264

Sie ist nicht nur eine Frage, die man bei Axiomensystemen untersuchen kann, sondern sie wird jedenfalls teilweise auch als Kriterium für bzw. Forderung an Axiomensysteme verstanden.64Es ist natürlich von theoretischem Interesse, ein System unabhängiger Axiome für eine Theorie zu haben, da dann aus den Axio-men gewissermaßen deutlicher hervorgeht, was genau Bestandteil dieser Theo-rie im Unterschied von anderen TheoTheo-rien ist. Allerdings steht dieses Kriterium für Hilbert immer unter pragmatischen Einschränkungen. Er ist nicht der An-sicht, daß jede Art von Abhängigkeit der Axiome unbedingt vermieden werden

61So bemerken auch EWALD/SIEG,Lectures[2007], 252.

62So FEFERMAN, Gödel 1931c[1986], 208; vgl. HILBERT, Probleme Grundlegung[1929]. Hilbert stellt in seinem Vortrag auf dem Mathematikerkongreß 1928 in Bologna zwei Fragen nach Voll-ständigkeit, nämlich nach der semantischen Vollständigkeit der Prädikatenlogik und nach der syntaktischen Vollständigkeit der elementaren Zahlentheorie. Beide Fragen hat letztlich Gödel beantwortet, die erste durch seinen Vollständigkeitssatz positiv, die zweite durch den (ersten) Unvollständigkeitssatz negativ.

63Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 169.

64Vgl. HILBERT,Zahlbegriff[1900b].

Wurzeln: Axiomatik 

müßte. Im Gegenteil ist er sogar explizit der Meinung, daß es unter bestimm-ten Umständen Sinn machen kann, beweisbare Sätze als Axiome zu nehmen.65 Es ist vielmehr eine zu erforschendeFrage, ob solche Abhängigkeiten vorliegen.

Wenn Hilbert beispielsweise in seinem Pariser Vortrag fordert, daß man diese Abhängigkeiten „beseitigen muß“, so versäumt er nicht, dies konditional einzu-schränken: Man „muß“ dies nur dann vermeiden, „wenn man zu einem System von Axiomen gelangen will, die völlig von einander unabhängig sind.“66„Wenn man will“, bedeutet eben nicht, daß man dies müßte. Pragmatische Einschrän-kungen können ganz unterschiedlicher Art sein. Beispielsweise ist es für Hilbert durchaus denkbar, abhängige Axiome zuzulassen, wenn dadurch entweder die systematische Gliederung der Axiome abgerundeter ist oder wenn die einzelnen Axiome durch Aufnahme redundanter Teile „leichter faßlich“ sind.

Ähnlich der pragmatischen Seite zuzurechnende Kriterien sind die Einfach-heit und die Anschaulichkeit eines Axiomensystems oder einzelner Axiome.67 Diese Forderungen scheinen kaum näher präzisierbar zu sein. Auch in Hilberts Vorlesungen finden sich nur wenige Hinweise in dieser Richtung. Vielmehr als ein paar, mehr oder weniger triviale Hinweise wird man hier nur schwerlich ge-ben können. So wird beispielsweise ein logisch einfacher strukturierter Satz im Allgemeinen den Vorzug haben vor einem ihm äquivalenten Satz, der logisch komplexer strukturiert ist. Axiome werden keinen unnötigen „Ballast“ enthal-ten sollen, keine offensichtlichen Redundanzen. Aber sie werden auch von ei-nem mehr theoretisch-systematischen Standpunkt aus „einfacher“ sein sollen, wie man etwa in der Zahlentheorie die Rekursionsaxiome für die Rechenopera-tionen axiomatisch fordern wird, nicht aber den Satz von der eindeutigen Zer-legung in Primfaktoren, der im Regelfall wohl zur Menge der zu beweisenden Sätze gerechnet werden wird. Viel mehr wird man hier nicht sagen können. Un-abhängigkeit, Anschaulichkeit und Einfachheit sind eher „weiche“ Kriterien, die im Einzelfall unter pragmatischen Gesichtspunkten verschieden bestimmt und zugunsten anderer Zwecke zurückgestellt werden können.

2.5.4 Widerspruchsfreiheit

Ein Kriterium ganz anderer und objektiverer Art ist die Widerspruchsfreiheit.

Sie durchzieht alle späteren Schriften Hilberts wie ein roter Faden, so daß es müßig wäre, diese hier im einzelnen zu betrachten.68Interessant mag hingegen der Hinweis auf frühe Schriften sein, als die Beweistheorie und ihre Zielsetzung noch nicht existierten. So erwähnt Hilbert die Widerspruchsfreiheit als wichtiges Kriterium für Axiomensysteme um die Jahrhundertwende z. B. in den

Grundla-65Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 160–161.

66HILBERT,Mathematische Probleme[1900a], 264.

67Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 160.

68Vgl. z. B. HILBERT,Neubegründung[1922], 160.

 Kriteriologie für Axiome

gen der Geometrie,69 in Über den Zahlbegriff70 und in Mathematische Probleme.71 Das zweite der insgesamt 23 ungelösten mathematischen „Jahrhundertproble-me“, die Hilbert in seiner berühmt gewordenen Liste zusammenstellte,72ist die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik. Wie schon erwähnt erhielt sie besondere Dringlichkeit dadurch, daß die Widerspruchsfreiheit vieler anderer mathemati-scher und physikalimathemati-scher Theorien auf sie zurückgeführt worden war, während man sie selbst noch nicht bewiesen hatte.

Während für Dedekind Widerspruchsfreiheit zunächst ein semantischer Be-griff war (Existenz eines logischen Modells),73 vertrat Hilbert schon in den Grundlagen der Geometrie und in Über den Zahlbegriff einen syntaktischen Kon-sistenzbegriff (Ableitbarkeit eines Widerspruchs).74 Unter „Widerspruchsfrei-heit“ eine syntaktische Eigenschaft eines Axiomensystems zu verstehen, bedeu-tet aber noch nicht, diese Eigenschaft auch mit syntaktischen Methoden zu be-weisen. So sind die Widerspruchsfreiheitsbeweise in denGrundlagen der Geome-trie ganz semantisch,75 und erst im Heidelberger Vortrag von 1904 treten zum ersten Mal syntaktische Methoden auf.76DieseMethoden, Widerspruchsfreiheit zu beweisen, sollen aber erst im zweiten Teil näher untersucht werden, während es hier nur um denBegriff der Widerspruchsfreiheit geht.

2.5.4.1 Verschiedene Fassungen der Widerspruchsfreiheit

Hilbert verwendet verschiedene Begriffe von Inkonsistenz. In den meisten Fäl-len gilt ein Axiomensystem als inkonsistent, wenn es einen Satz bzw. eine For-mel ϕgibt, so daßϕund ¬ϕbeweisbar sind. Die geometrischen Axiomensys-teme aus denGrundlagen der Geometrieheißen hingegen widersprüchlich, wenn aus ihnen „ein Widerspruch gegen ein Axiom“ ableitbar ist, also ein Satz ¬Ax für ein Axiom Ax. Schwache Fragmente der Zahlentheorie nennt er hingegen widerspruchsvoll, wenn für irgendwelche Zahlzeichen a und b die Formeln

69HILBERT,Grundlagen Geometrie[1899].

70HILBERT,Zahlbegriff[1900b].

71HILBERT, Mathematische Probleme[1900a]. Dieser Vortrag wurde mindestens dreimal veröf-fentlicht: 1.) in denNachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, mathematisch-physikalische Klasse(1900), S. 253–297; 2.) imArchiv für Mathematik und Physik, 3. Reihe, 1 (1901), S.

44–63 u. S. 213–237; 3.) in denGesammelten AbhandlungenHilberts, Bd. 3, Berlin 1935, S. 290–329.

72Die Hilbertsche Liste ist rezeptionsgeschichtlichäußersteinflußreich geworden. Bis heute er-scheinen regelmäßig mathematische Fachaufsätze, die schon in ihrem Titel auf dasn. Problem Hilberts Bezug nehmen. Die Geschichte dieser Probleme ist also keineswegs abgeschlossen. Mo-mentaufnahmen der geschichtlichen Entwicklung bieten beispielsweise YANDELL, Honors class [2002]; KAPLANSKY,Hilbert’s Problems [1977]und, leider nur in einer skandinavischen Sprache erschienen, TORNEHAVE,Hilberts problemer[1980].

73Vgl. SIEG,Introduction WS 1921/22 + WS 1922/23[2006a], 330–331.

74Vgl. hierzu Abschnitt 1.2.2, S. 204ff.

75Vgl. die Darstellung in Abschnitt 1.2, S. 203ff.; SIEG,Introduction WS 1921/22 + WS 1922/23 [2006a], 330–331.

76Vgl. Abschnitt 1.3, S. 208ff.

Wurzeln: Axiomatik 

a = bunda 6= bzugleich beweisbar sind.77Und inÜber das Unendlichespricht er von „Widerspruchsfreiheit“, wenn16= 1keine beweisbare Formel ist.78

All diese Definitionen der Widersprüchlichkeit sind in hinreichend starken Systemen natürlich äquivalent. Da die ersten Ansätze zu Widerspruchsfreiheits-beweisen jedoch mit relativ schwachen Systemen operieren, die beispielsweise keine allgemeinen Negationsaxiome besitzen, macht es Sinn zu klären, unter welchen Bedingungen verschiedene Fassungen der Widerspruchsfreiheit bzw.

Korrektheit äquivalent sind. Solange keine logische Rahmentheorie genauer spezifiziert ist, sind die folgenden Diskussionen natürlichcum grano saliszu le-sen. Wenn es heißt, daß man für einen bestimmten Übergang ein bestimmtes Beweisprinzip „benötigt“, so ist natürlich nicht gemeint, daß man nurin einer Theorie, in der dieses Prinzip ein Axiom ist, den gewünschten Übergang aus-führen kann. Man kann einzelne logische Prinzipien ja in der Regel durch eine geeignete Kombination anderer ersetzen. Diese Ersetzungen sollen ebenfalls als Situationen gelten, in denen das benötigte Prinzip vorhanden ist. Daß man es

„braucht“ ist daher nicht so zu lesen, daß man nur in Theorien mit diesem Axi-om den Übergang machen kann, sondern eher so, daß in Theorien, in denen ein solches Prinzip nicht ableitbar ist, der Übergang kaum möglich ist. Also ist hier einerseits abzuschwächen in Richtung der Möglichkeit der Ersetzung von Prinzipien durch eine Menge anderer Prinzipien und andererseits in Richtung darauf, daß es sich hier nur um tentative Argumentationen handelt, die erst ein-mal nur Plausibilitätscharakter beanspruchen.

Die wichtigsten Versionen von Widerspruchsfreiheit in den Schriften der Hilbertschule sind die folgenden, die hier auch mit Namen versehen werden sollen, um bei der Analyse der Widerspruchsfreiheitsbeweise eine einheitliche Terminologie verwenden zu können.

(1) Dieallgemeine logischeWiderspruchsfreiheit, nach der für keine Formelϕgilt, daßϕund¬ϕableitbar sind.

(2) Die allgemeine arithmetische Widerspruchsfreiheit, nach der für keine zwei Termesundtgilt, daß sowohls=tals auchs6=tableitbar sind.

(3) Diespezielle arithmetischeWiderspruchsfreiheit, nach der spezielle Gleichun-gen oder UngleichunGleichun-gen nicht ableitbar sind, deren GeGleichun-genstück (offensicht-lich) ableitbar ist. Z. B., daß0 = 1oder06= 0nicht ableitbar sind.

(4) Diearithmetische Korrektheit, nach der keine falschen numerischen Gleichun-gen oder UngleichunGleichun-gen ableitbar sind.

Zwischen diesen Versionen bestehen folgende Beziehungen (die trivialen Voraussetzungen, wie daß 0und 1Zeichen der formalen Sprache sein müssen usw., seien als gegeben vorausgesetzt).

(3)⇔(2): Damit aus der speziellen arithmetischen Widerspruchsfreiheit (3) die allgemeine (2) folgt, muß man aus einem beliebigen arithmetischen Wider-spruch auf die geforderte spezielle falsche Gleichung oder Ungleichung

schlie-77Vgl. HILBERT,Neubegründung[1922], 170.

78HILBERT,Über das Unendliche[1926], 179.

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 76-89)