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Erste begrifflich-inhaltliche Abgrenzungen

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 152-155)

H ILBERTPROGRAMMS

Kapitel 4 Formalismus

5.1 Erste begrifflich-inhaltliche Abgrenzungen

Wenn Hilbert in (HP2) Widerspruchsbeweise für die formalen mathematischen Axiomensysteme aus Schritt (HP1) fordert, nennt er den „Finitismus“ zwar nicht beim Namen, aber er führt zwei seiner Charakteristika an: Er soll eine Sicherung der Mathematik liefern und ihm fällt im Rahmen des beweistheore-tischen Konzepts der inhaltliche Part zu. Daß dies Charakteristika des Finitis-mussind, ist aus vielen anderen Publikationen klar, in denen ein „finiter

Stand-1BERNAYS,Hilberts Untersuchungen[1935], 198–199. – Bernays’ Formulierung ist etwas irritie-rend, denn einerseits legt er nahe, daß die ursprünglichen Methoden enger waren als die später zugelassenen („gedachte . . . auszukommen“), andererseits erwähnt er „in der Theorie der reellen Zahlen angewandte Methoden“, d. h. eine Theorie von der Stärke der Analysis – und dies würde bei weitem über jeglichen Finitismus hinausreichen, ja sogar über diejenigen Theorien hinausrei-chen, deren Widerspruchsfreiheit es überhaupt noch zu zeigen galt.

2Vgl. BERNAYS,Zur Beurteilung[1954], 9f.

Finitismus 

punkt“, eine „finite Einstellung“ oder auch eine „finite Zahlentheorie“ beschrie-ben werden.3

Im Rahmen von Hilberts grundlagentheoretischem Ansatz sollen diese Be-weise also eine sicherndeFunktion haben. Daher ist es von größter Bedeutung, wie der Bereich der dafür zulässigen Beweismittel genauer abzugrenzen ist.

Denn ein Beweis kann ja stets nur soviel Sicherheit bieten wie die zulässigen Beweismittel, d. h. die Annahmen bzw. Axiome und die logischen Schlüsse.

Um die Kriterien für solche sicheren Ausgangspunkte genauer herauszuar-beiten, ist es erhellend, zunächst ganz allgemein von der Bedeutung des Aus-drucks „finit“ auszugehen. Die „Taufe“ des beschränkten Methodensets als „fi-nit“ war nämlich keineswegs arbiträr. Daß das „Finite“ das Sichere ist, auf dem man aufbaut, verdankt sich der Einschätzung, daß für die Unsicherheiten und Schwierigkeiten in den Grundlagen der Mathematik, wie sie sich in den Para-doxien widerspiegeln, das Unendliche verantwortlich sei.4Genauer gesprochen war es ein zu freizügiger und zu sorgloser Umgang mit diesem schwierigen Begriff, der nach Hilberts Meinung zu allzu leichtfertigen Schlüssen und Defi-nitionen verführt hat. Hilbert hielt es wie Cantor für die „Wurzel allen Übels“

im Bereich des Unendlichen, unbedacht Prinzipien, die im Endlichen gelten, auf das Unendliche zu übertragen.5 Da metamathematisch gerade gezeigt werden sollte, daß mathematische Systeme diesen Problemen nicht verfallen sind, und da diese metamathematischen Ergebnisse nicht selbst wieder dem Verdacht un-terliegen sollten, durch sorglosen Umgang mit dem Unendlichen ihre Zuverläs-sigkeit zu gefährden, sollten die metamathematisch verwendeten Schlußweisen eine besondere Art von Rechtfertigung haben, die (nach Möglichkeit) keinerlei

„Gebrauch vom Unendlichen“ macht. Metamathematische Methoden sollen „fi-nit“, d. h. „endlich“ oder „im Endlichen“ gerechtfertigt sein, ohne Rückgriff auf Unendliches.

Das heißt zunächst konkret, daß der Rückgriff auf unendliche Gesamthei-ten finit ausgeschlossen ist. Schon die einfachste Unendlichkeit, die Menge der

3Im Folgenden wird wie bei Hilbert zwischen „Finitismus“, „finiter Einstellung“ und „finitem Standpunkt“ stilistisch hin und her variiert; nur der Ausdruck „finite Zahlentheorie“ wird eine Sonderrolle spielen.

4So explizit HILBERT/ACKERMANN,Theoretische Logik [1928], 66: „Mit dem Begriff des Un-endlichen sind die Schwierigkeiten und Paradoxien verknüpft, die bei der Diskussion über die Grundlagen der Mathematik eine Rolle spielen“. Ähnlich schreibt Bernays in HILBERT/BERNAYS, Grundlagen I[1934], daß sich die Aufgabe der Beweistheorie als ein Problem des Unendlichen her-ausgestellt hätte. Vgl. auch GENTZEN,Gegenwärtige Lage[1938a], 7, und HILBERT,Über das Un-endliche[1926], sowie auch den Titel des letzteren Aufsatzes. Darin werden zwar zunächst etwas überspannt „Ungereimtheiten und Gedankenlosigkeiten“ in der mathematischen Literatur dem Unendlichen angelastet (S. 161–162), später wird dies jedoch präzisiert und die Unstimmigkeiten beim Operieren mit dem Unendlichen werden in der Identifikation von „unendlich“ mit „sehr groß“ gesehen, sowie in der vorschnellen Übertragung von Sätzen, die im Endlichen gelten, auf das Unendliche (S. 166–167).

5Vgl. HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 155; CANTOR,Grundlagen[1883], 178; CANTOR, Über die verschiedenen[1886], 371–372; sowie Cantors Brief vom 24. 1. 1886 an Constantin Gutberlet, in: TAPP,Kardinalität[2005], 347–351.

 Erste begrifflich-inhaltliche Abgrenzungen

natürlichen Zahlen, ist als solche finit nicht zuhanden, obgleich man die einzel-nen natürlichen Zahlen durchaus „alle“ benutzen darf.6 Das finite Verbot des Rückgriffs auf Unendliches erhielt syntaktisch die Gestalt einer Restriktion in der Verwendung bzw. Interpretation von Allquantoren. Dies spricht dafür, daß man die syntaktischen Objekte (Quantoren) sehr eng nicht nur an die Objek-te ihres Quantifikationsbereichs (bspw. die natürlichen Zahlen), sondern an den Quantifikationsbereich als ganzen (bspw. die Menge der natürlichen Zahlen) an-gekoppelt sah.

Für ein enges Zusammenlesen von „Finitismus“ und „Endlichkeit“ spricht auch Hilberts erste, informelle Schilderung des HP in der Vorlesung vom Win-tersemester 1921/22 nach der Kneser-Mitschrift. Darin heißt es:

„Wir brauchen nicht an das Vorhandensein unendlicher Mengen zu glauben; wir wissen, daß wir so schließen dürfen, als wenn sie da wären, ohne auf Widersprüche zu kommen.

So verstehen wir, was auf dem Kron[ecker]-Br[ouwer]-W[eyl]schen Standpunkte als Wun-der erscheint [. . . ], durch endliche Logik, d. h. anschauliches Handeln und Operieren mit anschaulichen Gegenständen, eben den Formeln und Beweisen.“

HILBERT,Wintersemester 21/22 (Kneser)[1922*], III, 9–10

Das Operieren mit unendlichen Gegenständen soll also als widerspruchsfrei ge-sichert werden, und zwar mit einer finiten, endlichen Logik.

Diese finite Logik besteht in einer Beschränkung der sonst üblichen logi-schen Schlußweisen. Besonders beim Umgang mit konstruktiven, aber unendli-chen Gesamtheiten sollen Schlußweisen wie das Tertium non datur ausgeschlos-sen sein. Allgemeine Urteile sind rein hypothetisch oder schematisch aufzufas-sen und existenziale Urteile als Partialurteile.7Diese Punkte werden unten noch weiter zu klären sein. Hier ist festzuhalten, daß die Beschränkung der logischen Schlußweisen zumindest große Ähnlichkeit mit den Beschränkungen aufweist, die die intuitionistische Logik kennzeichnen.

Gelegentlich wird behauptet, der Finitismus sei im Wesentlichen identisch mit dem Intuitionismus. Diese Überzeugung war anscheinend im Göttingen der 1920er Jahre verbreitet.8Heute wird man dies nicht mehr so undifferenziert be-haupten können, und zwar aus mehreren Gründen.Erstenswurde im Abschnitt über den Intuitionismus (Abschnitt 3.2, S. 116ff.) schon darauf hingewiesen, wie wichtig für Brouwers Intuitionismus seine philosophische Grundhaltung war, die man wohl kaum Hilbert unterstellen wird. So hat auch Bernays zunächst

6Hier verläuft genau die Grenze zum sog. „Ultrafinitismus“ oder „striktem Finitismus“, dem zufolge nicht einmal natürliche Zahlen beliebiger Größe zulässig sind. Durch seine (willkürliche) Begrenzung des Zahlenbereichs nach oben handelt sich der Ultrafinitist ganz eigene Probleme ein. Diese werden im Folgenden keine Rolle spielen.

Hilbert selbst scheint ursprünglich zumindest ein engerer Finitismus vorgeschwebt zu sein als derjenige, den er in seinen Publikationen entfaltet hat. Bernays zufolge stellte es für Hilbert schon einen Kompromiß dar, den Allgemeinbegriff der Ziffer als finit zu akzeptieren; vgl. BERNAYS,Zur Beurteilung[1954], 12; HALLETT,Hilbert Logic[1995], 169, 173; SIEG,Hilbert’s Programs[1999], 25;

EWALD/SIEG,Lectures[2007], 256.

7HILBERT,Wintersemester 21/22 (Bernays)[1922a*], 3a.

8So auch nochVONNEUMANN,Die formalistische[1931], 116.

Finitismus 

den Finitismus als Intuitionismus minus seiner merkwürdigen philosophischen Begründung beschrieben. Zweitens geht es bei dieser Identifikation, auch der von Bernays, in erster Linie um die Abgrenzung der finit bzw. intuitionistisch zulässigen Axiome und Schlußweisen. Sowohl der Finitismus als auch der In-tuitionismus sind jedoch von einer Rahmendoktrin umgeben und diese Rah-mendoktrinen lassen sich ebensowenig miteinander identifizieren wie die all-gemeineren philosophischen Perspektiven, in die sie eingebettet sind. Insofern ist es zumindest in grundlagentheoretisch-philosophischen Zusammenhängen irreführend, davon zu sprechen, daß Hilbertden Intuitionismusunddie klassische Mathematik versöhnen wollte.9 Hilbert war weder von der „Hintergrundphilo-sophie“, noch vom konkreten grundlagentheoretischen Rahmen her Intuitionist, und für den radikalen Intuitionisten kann es, wie gesehen, keinen anderen als den intuitionistischen Weg zum Aufbau der Mathematik geben, d. h. auch keine nicht-intuitionistische Vermittlung oder Versöhnung.

Bernays hat die Identifikation von intuitionistisch und finit Zulässigem spä-ter aufgegeben. 1935 relativierte er entsprechend die Bedeutung des Äquikon-sistenzresultats zwischen HA undPA für das HP: intuitionistische Arithmetik gehe über finite Betrachtung hinaus,

„indem sie neben den eigentlichen mathematischen Objekten auch das inhaltliche Bewei-sen zum Gegenstand macht und dazu des abstrakten Allgemeinbegriffs der einsichtigen Folgerung bedarf.“ BERNAYS,Hilberts Untersuchungen[1935], 212

Daher sei durch das Gödel-Gentzensche Resultat (vgl. Teil II, Kapitel 3, S. 267ff.) zwar intuitionistisch die Widerspruchsfreiheit der klassischen Arithmetik ge-zeigt, aber nicht finit.

Was mit der Beschränkung auf das Endliche, „Überblickbare“ bzw. „hand-greiflich Sichere“ gemeint ist, zeigt sich deutlicher bei der Betrachtung von Hil-berts finiter Zahlentheorie.

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