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Hilberts Formalismus

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 138-150)

H ILBERTPROGRAMMS

Kapitel 4 Formalismus

4.3 Hilberts Formalismus

Es soll nun die Hypothek eingelöst werden, die darin besteht, daß die Zuord-nung Hilberts zum Formalismus nicht als gänzlich abwegig angesehen wird. Im Folgenden wird es darum gehen, diejenigen Aspekte von Hilberts Position her-auszuarbeiten, die man als formalistisch bezeichnen kann. Gleichzeitig wird zu testen sein, inwieweit diese formalistischen Aspekte mit einer inhaltlichen Auf-fassung von Mathematik zusammenpassen. Damit wird noch nicht behauptet, Hilbert habe diese inhaltliche Auffassung von Mathematik vertreten. Es wird nur darum gehen, daß seine Sicht mit einer inhaltlichen Philosophie der Mathe-matik kompatibel ist. Dadurch soll die These gestützt werden, daß diejenigen Aspekte aus Hilberts Sicht der Grundlagen der Mathematik, die man als forma-listisch bezeichnen kann, in einem Sinne formaforma-listisch sind, der durchaus mit einer inhaltlichen Position zusammenpaßt, so daß von daher Hilberts Sicht kei-ne formalistische Philosophie der Mathematik ist.

Die „formalistischen Aspekte“, um die es nun gehen wird, lassen sich in methodische und axiomatische unterteilen. Im Folgenden werden zunächst die methodischen Aspekte diskutiert und anschließend der Versuch unternommen, einen weiteren, axiomatischen Formalismusbegriff zu skizzieren.

4.3.1 Methodischer Formalismus

Oben wurde schon festgehalten, daß die Formalisierung der Mathematik, wie sie der erste Schritt des HP fordert, für Hilbert kein Selbstzweck ist, sondern im Kontext der im zweiten Schritt geforderten Konsistenzbeweise steht. Diese set-zen voraus, daß die Objektmathematik formalisiert ist. Nur dann ist bestimmt, was als Beweis gilt, und die Konsistenzaussage bekommt einen präzisen Sinn.

Alles Mathematische, was durch das Hilbertprogramm gerechtfertigt werden soll, muß also formalisiert werden (können). Daher rührt ein gewisser Totali-tätsanspruch der Formalisierung, der es nahelegt, Hilberts Position als „forma-listisch“ zu kennzeichnen. Aber damit ist nach dem oben Dargelegten nur eine methodische Haltung beschrieben, eine Betrachtung der Mathematik,als obsie keine Bedeutung hätte. Für das HP ist es nicht notwendig, über diesen beschei-denen Anspruch hinauszugehen. Der entscheidende „turn“ in Hilberts Denken war die Idee, die Widerspruchsfreiheit einer mathematischen Theorie selbst mit mathematischen Mitteln zu zeigen und zu diesem Zweck die Mathematik sich selbst zum Objekt zu machen. Die Möglichkeit, mit den Ausdrucksmitteln des Logikkalküls weite Teile der Mathematik darstellen zu können, zeigte sich in beeindruckender Weise in den Werken der Logizisten. Ein solches Formalisie-ren mathematischer Begriffe, Aussagen und Beweise macht aus ihnen rein

syn-Formalismus 

taktisch faßbare Objekte. An die Stelle eigentlicher logischer Schlüsse tritt die Manipulation konkreter Zeichenkonfigurationen nach bestimmten Regeln. Statt einen traditionellen Modus-ponens-Schluß durchzuführen, geht man von zwei Formelnpundp→ qzur Formelqüber. Für diesen Übergang reicht es, die for-male Struktur der beteiligten Formeln zu kennen: die erste muß vor dem Pfeil in der zweiten auftreten, dann kann man zu der Teilformel hinter dem Pfeil in der zweiten Formel übergehen. Dieser erste formalistische Aspekt von Hilberts Po-sition läßt sich treffend durch das Stichwort „methodischer Formalismus“ kenn-zeichnen.

Ein zweiter Aspekt betrifft die Formalisierung als Voraussetzung für eine jedwede „Beweistheorie“ im wörtlichen Sinne, also für eine präzise Erforschung des mathematischen Beweises. Paul Bernays zufolge hielt Hilbert eine solche systematische Erforschung nicht nur wegen der Konsistenzfragen für vordring-lich, sondern auch, um philosophisch-erkenntnistheoretische Fragen zu behan-deln, wie z. B. das Problem der prinzipiellen Lösbarkeit jedes mathematischen Problems und die Frage nach dem Verhältnis zwischen Inhaltlichkeit und For-malismus in Mathematik und Logik.16 John von Neumann erklärte es in sei-nem 1930er Referat zum Formalismus als eines der Hauptverdienste des „Hil-bertschen Formalismus“, Ansätze zur mathematisch-kombinatorischen Unter-suchung der formal beschriebenen mathematischen Methoden und ihrer Zu-sammenhänge geschaffen zu haben.17 Dies ist sicherlich für die spätere Ent-wicklung der Beweistheorie „prophetisch“ gewesen. Auch wenn Bernays und von Neumanns Darstellungen sich in puncto der erkenntnistheoretischen Ziele Hilberts unterscheiden (nach von Neumann sind diese Fragen schon verabschie-det), sind sie sich einig in der Betonung einer zweckgeleiteten Verwendung for-maler Methoden. Die „Betonung des Formalen“ ist ein Mittel zur Erreichung des Zwecks, durch formale Studien mehr über das „Wesen“ des mathematischen Beweises zu lernen. Auch diesen Aspekt von Hilberts Position kann man daher unter „methodischen Formalismus“ fassen.

4.3.2 Axiomatischer Formalismus

Ein anderer, aber mindestens ebenso wichtiger Aspekt läßt sich Hilberts Kon-zeption von Axiomatik entnehmen (vgl. Kapitel 2, S. 53ff.). Schon in diesem Zu-sammenhang betont Hilbert, daß die Begriffe in einer axiomatischen Theorie von ihrer herkömmlichen Bedeutung entkleidet würden. Sie tragen nur noch die Bedeutungen, die durch die Axiome explizit angegeben werden. Die Wör-ter werden so zu reinen PlatzhalWör-tern für ihre Funktion innerhalb der Theorie.

Daß man statt „Ebene“ und „Gerade“ auch „Biertisch“ und „Bierseidel“ sagen können muß, hat genau diesen Sinn. Gewissermaßen ist also schon die

axio-16Vgl. BERNAYS,Hilberts Untersuchungen[1935], 202.

17Vgl.VONNEUMANN,Die formalistische[1931].

 Hilberts Formalismus

matische Methode formalistisch:18Es „gibt“ keine Begriffsbedeutungen, keinen Inhalt, der den singulären Termen unmittelbar zukommen würde. Dieser liegt ausschließlich in dem formalen Zusammenspiel der verschiedenen Begriffe, wie es durch die Axiome, Definitionen und logischen Regeln festgesetzt ist. Wenn man so will, könnte man sagen: Die Bedeutung der Begriffe besteht in ihrer for-malen Rolle in der logischen Theorie. Aber haben die Begriffe dadurch wirklich jede externe Bedeutung verloren? Wird ein Konzept von Mathematik vertreten, in der die Begriffe keine Bedeutungen mehr haben? Dieser Schluß ist nicht zwin-gend und zwar aus zwei Gründen.

Erstens bleibt die Möglichkeit völlig unberührt, den Elementen der Theo-rie durch Interpretation der TheoTheo-rie externe Bedeutungen zu geben. Aber dies ist dann eben ein echtes Geben und die Elemente der Theorie haben diese Be-deutungen weder „an sich“ noch durch ihre Funktion innerhalb des Theoriege-bäudes. Was sie jedoch haben ist dieMöglichkeiteiner derartigen Interpretation.

Die begriffliche Struktur ist dann theorieintern so, daß eine Interpretation durch theorieexterne Entitäten möglich ist.

Neben diesem Punkt, der die Interpretation der Theorie betrifft, also gewis-sermaßen die Front ihrer Verwendung und ihrer Anwendung, wäre zweitens hinzuweisen auf die Rückseite ihrer Herkunft. Hilbert spricht gelegentlich da-von, daß die formalen Zeichen einer Theorie die eigentlichen mathematischen Gedanken „abbilden“,19 mit dem Zweck der Rechtfertigung bzw. Absicherung der eigentlichen Mathematik durch die formalen Methoden. Formale Theorien sind gleichsam keine völlig beliebigen und von allem echten mathematischen Denken unabhängige Gebilde, die in der Luft schweben, sondern sie werden (in jedem konkreten Fall sowieso) aus den wirklichen, inhaltlichen mathema-tischen Theorien durch Formalisierung gewonnen. Daß Hilbert diesen Punkt kaum reflexiv einholt, darf nicht dahingehend überinterpretiert werden, daß dieser Punkt für ihn keine Rolle gespielt habe. Im Gegenteil wird man schon rein empirisch feststellen können, daß Hilbert nie theoretische Phantasiegebil-de betrachtet hat, sonPhantasiegebil-dern immer „ernsthafte“, „wirkliche“, „mathematische“

Theorien. Und was sollen diese Attribute anderes heißen, als daß es sich bei sei-nen Formalisierungen um Formalisierungen von eigentlichen mathematischen Theoriegebäuden gehandelt hat?

Die Frage ist nun, ob auch im Bezug auf den hier skizzierten axiomatischen Formalismusbegriff der methodische Vorbehalt gilt, d. h., ob Hilberts Ausfüh-rungen nur eine zweckgerichtete Umformung der eigentlichen Mathematik

be-18Dagegen hält HINTIKKA,Hilbert Vindicated?[1997], 15–36, Hilberts axiomatischen Standpunkt für unabhängig vom Formalismus. Dies erklärt sich allerdings einfach daher, daß Hintikka den Ausdruck „Formalismus“ für eine Doktrin in der Philosophie der Mathematik reserviert. In die-sem Sinn könnte dann die in dieser Arbeit vertretene These radikaler formuliert werden: Hilbert war kein Formalist.

19Vgl. HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 153; HILBERT,Grundlegung Zahlenlehre[1931], 192.

Formalismus 

treffen20 oder ob es hier wirklich um ein neues Mathematikverständnis über-haupt geht. Die Analyse der Hilbertschen Texte liefert hierzu keine zwingenden Ergebnisse. Es spricht aber vieles dafür, daß Hilbert mit der Axiomatik tatsäch-lich ein neues Mathematikverständnis verbunden hat, wenn man zugleich hin-zufügt, daß es sich dabei mehr um eine neue Darstellungsweise schon gewonne-ner mathematischer Erkenntnisse handelt als um eine wirkliche Transformation der Mathematik in Axiomensysteme. Die kreative Tätigkeit des Mathematikers, die in der Einleitung dieser Arbeit schon der eher rekonstruktiven, systemati-sierenden und absichernden Darstellung in Form von Ableitungen aus Axio-mensystemen gegenübergestellt wurde, geht auch für Hilbert im Allgemeinen sicher nicht-axiomatisch vor sich. Eine Polemik, nach der Hilbertsche Axioma-tik bedeute, gewissermaßen einen großen Apparat mit Axiomen zu füttern, der dann von selbst nach und nach, ganz mechanisch, alle mathematischen Resulta-te ausspuckt, zeichnet ein Zerrbild des Hilbertschen Ansatzes.21

4.3.3 Historische Desiderata

Wenn man Hilberts Position nun eigentlich nur als „methodischen Formalis-mus“ beschreiben und selbst wenn man mit guten Gründen einen axiomati-schen Formalismusbegriff entwickeln kann, so bleibt es zu erklären, wie es kam, daß Hilbert bis heute gemeinhin die volle Form einer formalistischen Philoso-phie der Mathematik unterstellt wird.

Dies hängt sicher mit der Polemik zusammen, der Hilbert in der Auseinan-dersetzung mit den intuitionistischen Ansichten von Brouwer und dem mitt-leren Weyl ausgesetzt war. Hilbert hat die Etikettierung als „Formalist“ nicht deutlich abgelehnt. Seit der Königsberger Konferenz von 1930 ist Brouwers Un-terscheidung der Trias von Logizismus, Intuitionismus und Formalismus „klas-sisch“ geworden und prägt nahezu unwidersprochen den Begriff des Formalis-mus zur klassifikatorischen Beschreibung von Hilberts Position. Allerdings ist das Verhältnis von Hilbert und Brouwer zu vielschichtig und zu differenziert, es war zu vielen Veränderungen unterworfen und von Polemiken begleitet, als daß eine eindeutige Grenzziehung möglich wäre, wie „Intuitionismus vs. Formalis-mus“ insinuiert. So war schon bei der Diskussion des Intuitionismus die Rede davon, daß auf weite Strecken Intuitionismus und Finitismus sozusagen als „ex-tensional gleich“ angesehen wurden. Dies wird im Kapitel über den Finitismus noch näher zu erläutern sein. Jedenfalls ist klar, daß Hilbert den jungen Brouwer nicht nur als Mathematiker außerordentlich geschätzt hat, sondern sich auch im

20So PECKHAUS,Impliziert[2005b], 13, wenn er schreibt: „Axiomatisierung ist kein Zweck an sich, zumindest nicht für Hilbert.“

21Diesem Zerrbild scheint auch Peckhaus aufgesessen zu sein, wenn er sagt, daß der Formalis-mus „lediglich eine methodische Anleitung für die Praxis des Mathematikers bei der Produktion der Mathematik“ gebe, vgl. PECKHAUS,Impliziert[2005b], 3. Ich halte dagegen, daß die axioma-tische Darstellungsweise gerade nicht Hilberts Bild von der Praxis der „Mathematikproduktion“

widerspiegelt, sondern sozusagen die bestmögliche Darstellungsweise schon weit entwickelter Mathematik ist.

 Widerspruchsfreiheit, Wahrheit und Existenz

Laufe seiner Überlegungen zum Finitismus mehr und mehr Punkten von Brou-wers Diagnose mathematischer Grundlegungsprobleme angeschlossen hat.

Jaakko Hintikka hält es für ausgemacht, daß Hilberts Wiederentdeckung ei-ner Axiomatik, die in Bezug auf Beweise von jeglicher Begriffsbedeutung ab-sieht, Ende des 19. Jahrhunderts eine derartige Neuerung darstellte, daß Hilbert sich den Formalismusvorwurf zuzog, obwohl Aristoteles und Euklid, die schon ähnliche Axiomatikkonzeptionen gehabt hätten, sich diesen Vorwurf nicht zu-gezogen hätten. Hintikkas Ansatz bleibt jedoch ein bloßer Versuch, solange er nicht weiter klärt, was er eigentlich unter „Formalismus“ versteht.22

Eine vollständige historische Erklärung des Phänomens „Hilbert=Formalis-mus“ kann hier nicht gegeben werden. Die Andeutungen zu Brouwers Polemik, Hilberts mangelndem Widerspruch gegen eine formalistische Einordnung und der Hinweis auf die tatsächlich bei Hilbert vorhandenen formalistischen Aspek-te, die in diesem Abschnitt herausgearbeitet wurden, mögen wenigstens die Richtung anzeigen, in der man eine solche historische Erklärung suchen kann.

4.4 Widerspruchsfreiheit, Wahrheit und Existenz 4.4.1 Wahrheit

1899 schrieb Hilbert an Frege:

„Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen mit sämtli-chen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch die Axiome definirten Dinge. Das ist für mich das Criterium der Wahrheit und Existenz.“ FREGE,Briefwechsel[1976], 66

Hilbert vertritt hier deutlich einen Zusammenhang zwischen Wahrheit bzw.

Existenz und Widerspruchsfreiheit, der bei unvoreingenommener erster Be-trachtung verwundern muß. Wissen wir nicht, daß es Axiomensysteme gibt, die zwar jedes für sich genommen widerspruchsfrei sind, sich aber gegenseitig wi-dersprechen? Das beste Beispiel hier sind das klassische Parallelenpostulat „Zu jedem Punkt pund jeder Geradenggibt es genau eine Parallele zugdurchp.“

und die Alternativkandidaten, die die sog. nichteuklidischen Geometrien aus-machen, wie beispielsweise „Zu jedem Punktpund jeder Geradenggibt es un-endlich viele Parallelen zug durchp.“ Beide Axiome zusammen können nicht wahr sein, denn sie widersprechen sich. Dennoch ist die euklidische Geometrie genauso widerspruchsfrei wie die nichteuklidische. Es gibt also Axiomensys-teme, die äquikonsistent und dennoch unverträglich sind: ihre Vereinigung ist inkonsistent. Wie kann man da behaupten, die Widerspruchsfreiheit genüge als hinreichendes Kriterium für Wahrheit? Daß Widerspruchsfreiheit ein notwendi-gesKriterium ist, ist wohl unbestreitbar. Aber einhinreichendes? Muß man jetzt sagen, das euklidische Axiom sei wahr und sein nichteuklidisches Gegenstück sei auch wahr, obwohl nicht beide zusammen wahr sein können?

22Vgl. HINTIKKA,Hilbert Vindicated?[1997], bes. 16.

Formalismus 

Eine solche Gedankenlosigkeit war nicht im Sinne Hilberts und auch nicht im Sinne seiner Vorläufer, die im Bezug auf die Mathematik dieselbe Zusam-menfügung von Wahrheit und Widerspruchsfreiheit vertreten hatten. Zu ihnen sind keine Geringeren als Dedekind und selbst Cantor23und Poincaré24zu rech-nen. Was ist also hier genauer gemeint?

Oskar Becker, der sich in seinem Buch Mathematische Existenz strikte ge-gen Hilberts Auffassung wendet, hat paradoxerweise auf den Begriff gebracht, worum es Hilbert ging, als er behauptete zu sagen, worum es Hilbert gar nicht habe gehen können. Becker schreibt:

„Die Sache liegt aber auch nicht einfach so, daß die formale Mathematik ein ‚hypothetisch-deduktives System‘ bildet [. . . ] d. h. nur hypothetische Satzgefüge enthält von der Form:

‚Wenn die und die Axiome gelten, so gelten die und die Theoreme‘.“

BECKER,Mathematische Existenz[1927], 70

Hier kann keine detaillierte Auseinandersetzung mit den Gründen für und Hintergründen von Beckers Kritik geschehen.25Aber man wird sagen müssen:

Doch, genau so liegt die Sache. Dies wird besonders deutlich an einer anderen Stelle von Hilberts Frege-Brief von 1899, wenn Hilbert schreibt:

„Ja, es ist doch selbstverständlich eine jede Theorie nur ein Fachwerk oder Schema von Be-griffen nebst ihren notwendigen Beziehungen zu einander, und die Grundelemente kön-nen in beliebiger Weise gedacht werden. Wenn ich unter meikön-nen Punkten irgendwelche Systeme von Dingen, z. B. das System: Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger [. . . ] denke und dann nur meine sämmtlichen Axiome als Beziehungen zwischen diesen Dingen annehme, so gelten meine Sätze, z. B. der Pythagoras auch von diesen Dingen.“

FREGE,Briefwechsel[1976], 67

Die Metapher vom Begriffsfachwerk, die Hilbert gern zur Illustration seines axiomatischen Standpunkts heranzieht, stellt die Interpretationsoffenheit der Theorie heraus. Die ansonsten bloß aberwitzige Interpretationsmöglichkeit geo-metrischer Terme durch „Liebe“ und „Schornsteinfeger“ macht deutlich, daß die axiomatische Theorie nur denjenigen Teil der Bedeutung der Begriffe fest-legt, der durch die in den Axiomen ausgedrückten Relationen zwischen den Begriffen besteht. Alles Weitere ist offen und insbesondere ist nicht festgelegt, wie man die Beziehung zwischen der Theorie und der wirklichen Welt herstellt.

Das Bild von Mathematik, das hier gezeichnet wird, ist das eines

hypothetisch-23Cantor hat zwar keinen ausgeprägten axiomatischen Standpunkt vertreten. Seine starke Un-terscheidung zwischen immanenter und transienter Realität von mathematischen Begriffen führ-te ihn jedoch zu der „Aufgabenverführ-teilung“, Fragen nach der transienführ-ten Realität der Metaphysik und solche nach der immanenten Realität der Mathematik zuzuordnen. Das steht im Hintergrund seiner berühmten Lehre von der Freiheit der Mathematik, die durch nichts eingeschränkt sei, au-ßer durch intratheoretische Relationen (wie die Definition von Begriffen durch bereits definierte oder durch Grundbegriffe) und durch die Widerspruchsfreiheit. Insofern vertritt auch der Nicht-Axiomatiker Cantor einen engen Zusammenhang von Widerspruchsfreiheit und Existenz mathe-matischer Objekte, zumindest im Sinne der immanenten Realität. Vgl. hierzu besonders CANTOR, Grundlagen[1883], 181–182.

24Vgl. POINCARÉ,Wissenschaft und Methode[1914], 137: „In der Mathematik kann das Wort:

‚existieren‘ nur einen Sinn haben: es bedeutet ‚widerspruchsfrei sein‘.“

25Vgl. hierzu besonders PECKHAUS,Impliziert[2005b].

 Widerspruchsfreiheit, Wahrheit und Existenz

deduktiven Systems: Wenn nur die Axiome von etwas gelten (und das ist sozu-sagen das Abstruse bei der Schornsteinfeger-Interpretation), dann gelten auch ihre deduktiven Folgerungen davon.26

An anderer Stelle beschreibt Hilbert es gerade als großen Vorteil der Axio-matik, das Studium der Relationen zwischen Begriffen von der Frage nach ihrer sachlichen Wahrheit getrennt zu haben.27 Mit dieser „sachlichen Wahrheit“ ist wohl das gemeint, was man traditionell unter Wahrheit als einem Welt- oder Wirklichkeitsbezug sprachlicher Entitäten verstanden hat.28 Ähnliche Wider-spiegelungen der Unterscheidung zweier verschiedener Wahrheitsbegriffe fin-den sich bei Hilbert häufiger. So reserviert er gelegentlich fin-den Anspruch „ab-solute Wahrheiten“ zu liefern für die inhaltlich vorgehende Beweistheorie, und zwar in folgendem Sinne. „Wahr“ sind nicht die herkömmlichen mathemati-schen Sätze, sondern „wahr“ sind Aussagen wie, daß eine Formel, die einem bestimmten mathematischen Satz entspricht, aus einem Axiomensystem ableit-bar ist oder daß dieses Axiomensystem widerspruchsfrei ist.29 Manchmal ver-wendet Hilbert auch nicht den mißverständlichen Begriff der Wahrheit, wenn er von den formalen Konsequenzen eines widerspruchsfreien Axiomensystems spricht, sondern nennt diese Konsequenzen „richtig“.30 Ein Begriff von Wahr-heit, dessen hinreichendes Kriterium die Widerspruchsfreiheit ist, ist offenbar ein anderer Begriff als „der“ klassische Wahrheitsbegriff. Wie läßt sich dieser

„formalistische Wahrheitsbegriff“ besser verstehen?

Wenn es in der Mathematik nur um das Studium der Relationen zwischen Begriffen geht, und zwar auch nur insoweit, als diese Relationen in Axiomen ei-ner Theorie festgeschrieben werden, so ist Mathematik notwendig abstrakt. Sie handelt nicht von den konkreten Relationen zwischen wirklichen den, sondern von den möglichen Relationen zwischen möglichen Gegenstän-den. Die Theoreme, die sich aus einem Axiomensystem ableiten lassen, gelten in allen möglichen Objektsystemen, die die Axiome erfüllen. In der Mathema-tik geht es nur um diese abstrakten Strukturen bzw. Zusammenhänge. Wenn

26So auch PECKHAUS,Impliziert[2005b], 16–17, der auf eine Zermelo-Vorlesung von 1908 als frühe Göttinger Quelle für diese Auffassung hinweist. Zermelo operiert dabei mit der traditionel-len kantischen Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteitraditionel-len. Nach seiner Darstellung beruht das Wesen Hilbertscher Axiomatik darauf, alles Synthetische in die Axiome zu verlagern, so daß die Beweise rein analytische Ableitungen würden. Durchhypothetische Hin-zufügungder synthetischen Axiome zu den eigentlichen mathematischen Urteilen würden diese dann vollends analytisch.

27Vgl. auch BERNAYS,Philosophie der Mathematik[1930], 19: „Für diese logische Abhängigkeit ist es aber gleichgültig, ob die vorangestellten Axiome wahre Sätze sind oder nicht, sie stellt einen rein hypothetischen Zusammenhang dar: wenn es sich so verhält, wie die Axiome aussagen, dann gelten die Lehrsätze“. – Ich halte es jedoch für zweifelhaft, ob man mit PECKHAUS, Impliziert [2005b], 17, aus der Abkoppelung von sachlicher Wahrheit und logischen Abhängigkeiten den Schluß ziehen kann, die Wahrheit der Axiome festzustellen, gehöre nicht zu den Aufgaben des Mathematikers.

28Von einer referentiellen Komponente spricht auch PECKHAUS,Impliziert[2005b], 16.

29Vgl. z. B. HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 153.

30So z. B. in HILBERT,Die logischen Grundlagen[1923], 156.

Formalismus 

man, wie Hilbert, in diesem Zusammenhang von „Wahrheit“ sprechen will, so ergibt sich ein ganz eigener mathematischer Wahrheitsbegriff, der sozusagen nur einen Teil des vollen traditionellen Wahrheitsbegriffs umfaßt. Mathemati-sche Wahrheit ist etwas Anderes als sachliche Wahrheit, sie wäre dann sozusa-gen nur „mögliche sachliche Wahrheit“.31 Wenn die Mathematik von Kreisen spricht, geht es nicht unmittelbar um wirkliche Kreise in unserer wirklichen Welt, sondern: In allen Systemen von Dingen, die die geometrischen Axiome bei geeigneter Interpretation erfüllen, heißen diejenigen Dinge, die die Kreisde-finition erfüllen, Kreise. Um ein naheliegendes Beispiel anzuführen: Auch al-le Mengen von Paaren reelal-ler Zahal-len, die eine Kreisgal-leichung erfülal-len, heißen dann Kreise. Die Menge der Paare reeller Zahlen bildet ein Modell für die eukli-dische Geometrie.

Wenn die Mathematik derart von der wirklichen Welt getrennt und auf eine abstrakte Ebene gehoben ist, so daß nurmehr durch Interpretationen eine Ver-bindung mit der wirklichen Welt hergestellt werden kann, was bleibt dann noch vom Wahrheitsbegriff übrig? Wenn die Korrespondenzrelation erst durch eine der Theorie externe Interpretation ins Spiel kommt, was kann dann noch die interne Wahrheit einer Theorie ausmachen? – Es bleibt nur noch die Möglich-keit, interpretiert zu werden. Und Interpretierbarkeit heißt allgemein gespro-chen nichts Anderes als Widerspruchsfreiheit.

Insofern läßt sich sagen: Eine Auffassung von Mathematik als abstrakter Wissenschaft koppelt mathematische Theorien von jeglicher wirklichen Bezie-hung zur wirklichen Welt ab. Von dieser BezieBezie-hung bleibt nur noch ihre Mög-lichkeit übrig. Und wenn diese MögMög-lichkeit besteht, so gibt es ein Modell, in dem die Sätze der Theorie wahr sind. „Es gibt ein Modell in dem die Sätze der Theorie wahr sind“ ist aber äquivalent zur Widerspruchsfreiheit der Theorie (ei-ne vollständige Axiomatisierung der Logik vorausgesetzt). Und insofern bleibt beim mathematischen Wahrheitsbegriff von der sachlichen Wahrheit nur ihre Möglichkeit übrig und das ist die Widerspruchsfreiheit. So kann Hilbert zu dem ansonsten völlig unverständlichen Diktum kommen:

„Gelingt uns dieser Nachweis [der Widerspruchsfreiheit, C. T.], so stellen wir damit fest, daß die mathematischen Aussagen in der Tat unanfechtbare und endgültige Wahrheiten sind – eine Erkenntnis, die auch wegen ihres allgemeinen philosophischen Charakters von größter Bedeutung für uns ist.“ HILBERT,Neubegründung[1922], 162

In dem Leipziger Vortrag ein Jahr später präzisiert er dies allerdings noch ein-mal:

„Die Axiome und beweisbaren Sätze, d. h. die Formeln, [. . . ] sind die Abbilder der Gedan-ken, die das übliche Verfahren der bisherigen Mathematik ausmachen, aber sie sind nicht selbst die Wahrheiten im absoluten Sinne. Als die absoluten Wahrheiten sind vielmehr die Einsichten anzusehen, die durch meine Beweistheorie hinsichtlich der Beweisbarkeit und

31So heißt es auch in Hilberts Vorlesung vom Wintersemester 1922/23, daß in den Axiomen einer Theorie nurmöglicheBeziehungen zwischen Objekten ausgedrückt würden; vgl. HILBERT, Wintersemester 22/23 (Bernays)[1923a*], 32.

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