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Formale Abgrenzung

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 165-169)

H ILBERTPROGRAMMS

Kapitel 4 Formalismus

5.4 Formale Abgrenzung

Finitismus 

gangen und auf ihre finite Zu(ver)lässigkeit, also darauf, daß sie „handgreiflich sicher“ sind, zu prüfen sind. Welche Kriterien bei dieser Prüfung genau eine Rolle spielen, bleibt jedoch dunkel.

Entlang dieser Linien ist eine präzise Beschreibung des Umfangs der finit zulässigen Methoden ein schwieriges Unterfangen, das die Frage aufwirft, ob es überhaupt möglich ist. Mit Niebergall und Schirn wird man festhalten müssen, daß finite Metamathematik (und mit ihr auch ihr „Vorbild“, die finite Mathe-matik) keine formale Theorie ist und daß, selbst wenn man sie in eine formale Theorie überführen wollte, nicht zu sehen ist, warum dabei eine axiomatisierba-re Theorie herauskommen müßte.45

Mit der allgemeinen Frage, welche Schlußweisen „von jeglicher Anfechtbar-keit frei“ sind, hängen zwei konkretere Fragenkreise zusammen. Der erste be-trifft die Induktion. Sind im Finitismus induktive Prinzipien zugelassen? Müs-sen sie in einem Finitismus im Rahmen des Hilbertprogramms gar zugelasMüs-sen werden? Und wenn ja: Welche Arten von Induktion und wie sind sie finit ge-rechtfertigt? – Diese Fragen haben als mehr oder weniger implizite die konkre-ten Ansätze zu Widerspruchsfreiheitsbeweisen der Hilbertschule deutlich be-einflußt. Deshalb und weil mit ihnen eine grundsätzliche Kritik an Hilberts Vor-gehen verbunden worden ist, soll dieser Fragenkreis erst in den Reflexionen des dritten Teils dieser Arbeit behandelt werden, und zwar unter dem Namen Poin-carés, der diese Kritik vorgetragen hat (vgl. dritter Teil, Kapitel 1, S. 303ff.). Im folgenden Abschnitt wird es hingegen um einenzweitenKreis konkreter Fragen gehen, der sich darum dreht, inwiefern man die „finit zulässigen Methoden“

durch die Identifikation eines formalen Systems dingfest machen kann.

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schen Sätzen operieren, hängen stark an der Formalisierbarkeit der Metamathe-matik und an der Relation, die zwischen metamathematischen Aussagen und ihren Formalisierungen besteht. Darauf wird im dritten Teil zurückzukommen sein, wenn es um die Implikationen der Gödelsätze für das HP geht (vgl. dritter Teil, Kapitel 2, S. 323ff.).

Bei der Frage nach der formalen Abgrenzung des Finitismus geht es dar-um, die metamathematischen Beweismittel dadurch genauer zu bestimmen, daß man sie mit formalen Systemen identifiziert. Der prominenteste Vorschlag für eine genaue formale Abgrenzung der finiten Mathematik (und damit via Arith-metisierung der finiten Metamathematik) stammt von William W. Tait. Er hat 1981 vorgeschlagen,46 die finit zulässigen Beweismittel genau mit den in der primitiv-rekursiven Arithmetik (PRA) verfügbaren zu identifizieren. Genau-er gesagt geht es Tait darum, die finiten Funktionen genau mit den primitiv-rekursiven Funktionen zu identifizieren und die finit beweisbaren Sätze mit den Allabschlüssen von inPRAherleitbaren Formeln.47

Eine entscheidende Frage bei solchen formalen Abgrenzungen ist die nach der zugrundegelegten Klasse von Funktionen. Aus der besonderen Sicherheit, die die finiten Methoden bieten sollen, schließt Tait darauf, daß das Hauptkrite-rium für die Funktionenklasse sein muß, alle und nur diejenigen Funktionen zu enthalten, die in jeglicher nichttrivialer Mathematik vorausgesetzt werden. Das wird zumindest in dieser „top-down-Perspektive“ (Zach) das Beste sein, was man bekommen kann.

Was wäre nun der absolute Basisbestand jeglicher Mathematik? Selbst mit den restriktivsten Mathematikern wie Kronecker wird man jedenfalls die na-türlichen Zahlen als solchen ansetzen können. Dem entspricht genau die von Poincaré so leidenschaftlich verteidigte Einschätzung, daß die Induktion als ei-ne letzte und nicht mehr hintergehbare Basis mathematischen Denkens anzuse-hen ist.48Auf der Seite der Funktionen bedeutet das, daß zunächst die konstan-te Nullfunktion und die Nachfolgeroperation als die absolukonstan-ten Basisfunktionen jeglicher Mathematik anzusehen sind, da sie unmittelbar dem fundamentalen Begriff der natürlichen Zahl entsprechen.

Dann ist die Frage, welche weiteren Operationenmit diesen Funktionenman zulassen will. Wenn man daran festhält, daß die Begriffe der natürlichen Zahl und des induktiven Prozesses der letzte Maßstab sind, dann lautet die Frage ge-nauer: Welche Arten von Funktionen und Funktionsoperationen werden durch den Begriff der natürlichen Zahl gedeckt und sind sozusagen „implizit“ in ihm enthalten?

Die Beobachtung, daß die Nachfolgeroperation die natürlichen Zahlen in der Weise einer endlichen Sequenz erzeugt (die Zahl 5 wird genau durch die Folge ihrer Vorgänger repräsentiert), gibt Anlaß dazu, zunächst endlich-stellige Funktionen und endlich-stellige Argumente zuzulassen, mitsamt den

entspre-46Vgl. TAIT,Finitism[1981].

47Vgl. zu dieser Klarstellung auch SCHIRN/NIEBERGALL,What Finitism[2003].

48Vgl. hierzu auch im dritten Teil, Kapitel 1, S. 303ff.

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chenden Projektionsfunktionen. Als absolut grundlegend wird man auch das Hintereinanderausführen zweier Funktionen ansehen. Und wenn man dies zu-gelassen hat, so wird man mit Tait sagen können, daß dann auch die n-fache Iteration einer Funktion dem Begriff der natürlichen Zahl entspricht. Wie die Nachfolgeroperation bei der „Anfangszahl“ 0 „startet“, so beginnt die Iteration bei einer Anfangsfunktion h, und wie die Nachfolgeroperation von einer Zahl nzun+ 1übergeht, geht man bei der Iteration von dern-maligen Anwendung einer Funktion zurn+ 1-maligen Anwendung über. Damit hat man genau das Schema der primitiven Rekursion: die Definitionsmöglichkeit einer Funktionf durch die Festlegungf(0) =hundf(n+ 1) =g(f(n)).49

Betrachtet man also den induktiven Prozeß, der ausgehend von der Null die natürlichen Zahlen erzeugt, als den absoluten Basisbestand der Mathematik, wird man auf diesem Weg dafür argumentieren können, die Klasse der finiten Funktionen als die Klasse der primitiv-rekursiven Funktionen zu bestimmen.

Während man damit gute Gründe für die Annahme hat, daß das formale SystemPRA, welches die Theorie der primitiv-rekursiven Funktionen axioma-tisiert, das Minimum dessen ist, was „implizit im Zahlbegriff“ steckt, bleibt um-gekehrt die Frage, ob damit schonallesabgedeckt wird, was sich auf diesem Weg vom Zahlbegriff her rechtfertigen ließe.

Hilbert, Bernays und Ackermann haben jedenfalls auch weitergehende Re-kursionsprinzipien als finit gerechtfertigt angesehen, etwa die k-fache ver-schachtelte Rekursion. Zach hat darauf hingewiesen, daß dasselbe Argument, das Tait zur Aufnahme der primitiven Rekursion vorgebracht hat, auch für die k-fach verschachtelte Rekursion gelten müßte. Auch bei ihr ließe sich die Paral-lele zum Aufbau der natürlichen Zahlen durchn-fache Nachfolgerbildung zie-hen, nur daß man für ein festesknunk-viele Rekursionsargumente berücksich-tigen müßte. Wenn mehrstellige Funktionen zulässig sind, dann aber sicher auch k-viele Rekursionsargumente.50

Ignjatovic hält es sogar für möglich, daß diejenigen Prinzipien, die man für eine Rechtfertigung vonPRAals eines formalen System für finit zulässige Funk-tionen verwendet, nicht nur umfassendere Systeme rechtfertigen, sondern sogar solche, die bis zu ε0 gehen.51 Dies hätte weitreichende Auswirkungen, da man dann in Anbetracht von Gentzens Widerspruchsfreiheitsbeweis für die Zahlen-theorie (vgl. im zweiten Teil, Kapitel 4, S. 271ff.) feststellen müßte, daß Hilberts Programm erfolgreich durchgeführt worden ist. Zach hat darauf hingewiesen, daß Taits Replik auf Ignjatovics Überlegung wenig überzeugend ist. Tait hielt eine solche Rechtfertigung von Beweisprinzipien, die höhere Rekursionsklas-sen verwenden nur für möglich unter Heranziehung höherer Typen.52Zach

ver-49Vgl. TAIT,Finitism[1981], 531–532.

50Vgl. ZACH,Hilbert’s Finitism[2001], 145–146.

51Vgl. IGNJATOVIC,Hilbert’s Program[1994].

52Vgl. TAIT,Remarks on Finitism[2002].

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weist demgegenüber auf diek-fach verschachtelte Rekursion, diekeinehöheren Typen verlange und dennochωωk-rekursive Funktionen erzeuge.53

Auch wenn es in den eher beweistheoretisch orientierten Diskussionen au-ßer Frage zu stehen scheint, daß man den Finitismus mit gewissen formalen Systemen identifizieren kann,54wird man dieser Selbstverständlichkeit kritisch begegnen müssen. Die in dieser Arbeit entwickelte Auffassung des Hilbertpro-gramms hält entschieden daran fest, daß es sich bei der Hilbertschen Metama-thematik um eine informelle „Theorie“ handelt, die weder axiomatisierbar, noch mit einem bestimmten formalen System für die Arithmetik identifizierbar sein muß.

Schirn und Niebergall haben in diesem Zusammenhang darauf hingewie-sen, daß schon die Rede von finiten Funktionen in sich problematisch ist, denn Funktionen scheinen der Prototyp transfiniter bzw. abstrakter Objekte zu sein, die der Finitist nicht „beherrschen“ können muß. Die einzigen Explikationen einer Rede von „finiten Funktionen“, die nach ihrer Analyse mit dem Hil-bertschen Standpunkt kompatibel ist, wären (1) daß der Finitist eigentlich nur Funktionszeichenmeint, wenn er von „Funktionen“ spricht oder (2) daß er da-mit Zahlzeichen für die Codes von codierten prida-mitiv-rekursiven Funktionen meint. In beiden Fällen kann man dann aber gegen Taits Identifikation der fini-ten Funktionen mit den primitiv-rekursiven Funktionen argumentieren: Im Fall (1), weil es dann gar keine finiten Funktionen gibt, sondern nur Zeichen, und im Fall (2) immerhin noch deswegen, weil primitiv-rekursive Funktionen und die Strichfolgen-Zeichen für ihre Codes zu verschiedenen Objektkategorien ge-hören und von daher nicht, oder zumindest nicht ohne Weiteres, miteinander identifiziert werden können.55

In dieser Diskussion ist noch viel Vermittlungsarbeit zu leisten. Es wäre zu untersuchen, ob man überhaupt einen allgemeinen Begriff einer Formalisierbar-keitsrelation dingfest machen kann, der die in der Mathematischen Logik im-mer wieder aufbrechenden Fragen nach dem Zusammenhang zwischen einer informell-inhaltlich bestimmten Menge von Objekten oder Beweismitteln und den „entsprechenden“ formalen Systemen uniform zu beantworten gestattet.

Was muß der Fall sein, damit man von einem formalen System sagen kann, daß es die informellen Objekte und/oder Beweismittel „enthält“ oder „reprä-sentiert“? Man denke hier an die Churchsche These oder die Verwendung der Gödelschen Sätze in Argumenten gegen künstliche Intelligenz, aber eben auch an die Diskussion über die formale Abgrenzung des Finitismus.

Neben dieser Frage nach dem Zusammenhang zwischen formaler und in-haltlicher Seite wird man beim Finitismus aber auch noch fragen müssen, wie die inhaltliche Seite genauer zu bestimmen wäre. Welche allgemeinen erkennt-nistheoretischen Ansprüche will man hier überhaupt geltend machen, bzw.

wel-53Vgl. ZACH,Hilbert’s Finitism[2001], 146.

54Vgl. neben den genannten Arbeiten von Zach und Tait auch SIMPSON,Partial Realizations [1988].

55Vgl. SCHIRN/NIEBERGALL,What Finitism[2003], 49–50.

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cher Grad von Sicherheit soll durch die Beschränkung des finit zulässigen Theo-rieinstrumentars erreicht werden? Michael Detlefsen hat schon darauf hinge-wiesen, daß man den Bogen vermutlich überspannt und vom Finitismus mehr verlangt als man sinnvollerweise verlangen kann, wenn man ihn auf die Errei-chung „unfehlbaren“ (Kitcher) oder auch nur „kartesianischen“ Wissens (Tait) verpflichten will. Dennoch wird man auf eine besondere „epistemische Zuver-lässigkeit“ (Detlefsen) der Metamathematik, und damit eine gewisse Art von Unbezweifelbarkeit, nicht verzichten können, wenn die Metamathematik ihrem eigenen grundlagentheoretischen Anspruch entsprechen will.56

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 165-169)