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Axiomatik als Metawissenschaft?

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 71-76)

H ILBERTPROGRAMMS

2.4 Axiomatik als Metawissenschaft?

Wurzeln: Axiomatik 

Anordnungsaxiome II 1 – II 5 den Begriff „zwischen“ definieren würden,35 bie-tet er folgende Lesart an:

„Wenn man [. . . ] das Wort Definition genau im hergebrachten Sinne nehmen will, so hat man zu sagen: ‚zwischen‘ ist eine Beziehung für die Punkte einer Geraden, die folgende Merkmale hat: II 1 . . . II 5.“ FREGE,Briefwechsel[1976], 65

Frege suchte diese Sprechweise mit Beispielen zu torpedieren, die vor allem die Unterbestimmtheit deutlich machen, die Definitionen dieser Art eigen ist.36 Diese Unterbestimmtheit kann man aber gerade als Vorteil dieser Sprechweise auslegen. Wenn Frege dann weiter fragt, ob man hier von „Definitionen“, von

„Erklärungen“ oder von etwas Anderem sprechen sollte, so betrifft dies in Hil-berts Augen eben auch nur unterschiedliche Redeweisen. Bei ihnen ist Hilbert nur wichtig, ob sie mit dem Sprachgebrauch der Wissenschaftler übereinstim-men; ansonsten signalisierte er Frege, nichts gegen eine andere Terminologie zu haben.37Hilbert selbst begnügt sich bei dem Ausdruck „Definition“ damit, dar-unter eine bedeutungsmäßige Festlegung von Begriffen zu verstehen.

Hilberts Konzeption der impliziten Definition von Grundbegriffen durch die Axiome ist für seine eigenen späteren Arbeiten38 und für die moderne Logik überhaupt zu einem unverzichtbaren Standard geworden. Man täte Frege Un-recht, wenn man behaupten würde, daß er diese Konzeption schlichtweg nicht richtig verstanden hätte. Einerseits haben die vorstehenden Überlegungen ge-zeigt, wie er durch seinen Briefwechsel mit Hilbert durchaus zu einer deutliche-ren Fassung dieser Konzeption beigetragen hat. Andererseits zeigt besonders seine zweite Anfrage sein – sicher auch im Lauf des Briefwechsels gewachse-nes – Verständnis für Hilberts Absichten. Es soll nun um diese zweite Anfrage gehen: Geht Hilberts Axiomatik von einer Theorie zu einer Metatheorie über?

 Axiomatik als Metawissenschaft?

wird, wenn man es so ausdrücken will, der Begriff „ein Punktbegriff sein“ defi-niert, jedenfalls ein Begriff höherer Stufe.

Ist nun die Hilbertsche Axiomatik überhaupt ein Übergang von der Ebene einer Theorie auf eine höhere Stufe, auf die Ebene einer Metatheorie?

2.4.1 Interesse an metatheoretischen Fragestellungen

Unbestreitbar ist es eine Besonderheit an Hilberts Standpunkt, daß er durch ein starkes Interesse an metatheoretischen Fragestellungen geleitet wird. Die Unab-hängigkeit des Parallelenaxioms von den übrigen Axiomen der Geometrie hat in dieser Hinsicht sein Denken über Geometrie und damit auch sein Denken über Axiomatik überhaupt entscheidend beeinflußt. Für Hilbert war die axio-matische Fassung einer Theorie ein Mittel, um die logischen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Sätzen der Theorie ans Licht zu bringen. Folgt ein Satz rein logisch aus einer bestimmten Menge von Axiomen oder ist er von ihr unab-hängig? Kann man den Satz zu den Axiomen hinzunehmen, ohne Gefahr zu lau-fen, dadurch Widersprüche zu erhalten, ist der Satz also relativ zu den Axiomen widerspruchsfrei? Ist man so schließlich zu einer Menge von Axiomen gelangt, aus denen sich alle wesentlichen Sätze des Wissensgebietes rein logisch ablei-ten lassen, ist die Axiomatisierung des Wissengebietes also vollständig?39 Die Behandlung solcher Fragen ist Gegenstand einer höheren, metageometrischen gedanklichen Ebene. Es geht nicht mehr um den Beweis eigentlicher geometri-scher Sätze, sondern um den Beweis von Sätzenüberdie in der Geometrie (oder genauer: in verschiedenen Geometrien) beweisbaren Sätze, d. h. um Aussagen über dieMöglichkeit oder Unmöglichkeitvon solchen Ableitungen aus gegebenen Voraussetzungen. Frege gegenüber beschreibt Hilbert die Ziele des axiomati-schen Vorgehens in denGrundlagen der Geometriedann auch wie folgt:

„[I]ch wollte die Möglichkeit zum Verständnis derjenigen geometrischen [sic!] Sätze ge-ben, die ich für die wichtigsten Ergebnisse der geometrischen Forschungen halte: dass das Parallelenaxiom keine Folge der übrigen Axiome ist, ebenso das Archimedische etc. Ich wollte die Frage beantworten, ob der Satz [. . . ] bewiesen werden kann, oder vielmehr wie bei Euklid ein neues Postulat ist.“ FREGE,Briefwechsel[1976], 65

Frege bemerkt in seinem anschließenden Brief treffend, daß Hilbert sich so

„auf einen höheren Standpunkt stell[t]“ und von dort die Geometrie betrach-tet.40Damit hat Frege natürlich Recht. Wenn man dieses Vorgehen dennoch als

39Unter „Vollständigkeit“ wurden im Lauf der Entwicklung der Mathematischen Logik sehr verschiedene Konzepte verstanden: Die Ableitbarkeit aller allgemeingültigen Sätze, die Nicht-Erweiterbarkeit der Axiomenmenge, die Ableitbarkeit aller Sätze eines vorgegebenen Systems und die vollständige Erfassung eines Wissensgebietes. Hier, in HilbertsGrundlagen der Geometrie ist wohl letzteres gemeint.

40Frege hat in seinen Briefen Hilbert in diesem Punkt weniger kritisiert, als vielmehr sein Ver-ständnis dafür geäußert, daß man, um axiomatische Fragen wie die nach der Unabhängigkeit verschiedener Axiome behandeln zu können, sich geradezu „auf einen höheren Standpunkt stel-len“müsse; vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 64, auch 71.

Wurzeln: Axiomatik 

„geometrisches“ bezeichnet, so muß damit nicht unbedingt ein Wandel im Ver-ständnis von Geometrie markiert sein. Nur wenn man festsetzte, daß Geome-trie mit bestimmten Axiomensystemen bzw. der Menge von deren Folgerun-gen identisch sei, würde es ein Problem darstellen, metageometrische FraFolgerun-gen als „geometrische“ zu bezeichnen. Daß Hilbert das nicht tut, sollte dann An-laß zur Vorsicht sein, ihm diese Identifikation zu unterstellen. Eine kohärente-re Hilbert-Interpkohärente-retation erhält man, wenn man „Geometrie“ vor allem als Be-zeichnung für eine wissenschaftliche Disziplin liest. In dieser Disziplin können dann durchaus auch metatheoretische Fragen zu bestimmten Theorien ihren Platz haben.

Frege hat ebenfalls Recht, wenn er darauf hinweist, daß nach Hilberts Stand-punkt Punkte nicht mehr in einer Weise definiert werden, daß ich anschließend leicht feststellen könnte, ob meine Taschenuhr ein Punkt ist oder nicht.41 Ein Punkt ist sozusagen eine funktionale Stelle in einem System von Axiomen. Je-des Objekt, das diese funktionale Stelle ausfüllen kann, kann ein Punkt genannt werden. Hilbert definiert nicht im klassischen Sinne, was ein Punkt ist, sondern er „definiert“, welche Eigenschaften Objekte haben müssen, um als Punkte in-terpretiert werden zu können. Gewissermaßen ist dies eine Definition zweiter Stufe: Es wird, wie eingangs erwähnt, der Begriff „ein Punktbegriff sein“ de-finiert. Um Freges Frage zu entscheiden, ob denn nun meine Taschenuhr ein Punkt im Sinne dieses Axiomensystems sei, müßte man eben antworten: Wenn es möglich ist, aus meiner Taschenuhr und einer Unzahl weiterer Gegenstände ein Modell für eine geometrische Theorie zu bauen, bei der die Taschenuhr gera-de zu gera-dem Bereich von Gegenstängera-den gehört, gera-der gera-den „Punkten“ gera-des Axiomen-systems entspricht, so könnte man in dieser Hinsicht sagen, daß die Taschenuhr ein Punkt sei. Aber „ein Punkt sein“ ist dabei eben eine Formulierung, die auf die Funktion eines Gegenstandes im Rahmen eines Modells bzw. einer Theorie abhebt.

Man wird Frege zustimmen können, daß von dieser Warte aus kein Weg zur klassischen Wahrheit oder zu klassischen Existenzbehauptungen führt. Den-noch ist er auf einen Verständigungsvorschlag Hilberts nicht eingegangen. Hil-bert hatte die Verständigungsprobleme mit Frege über die Rede von „Wahrheit“

und „Existenz“ darauf zurückgeführt, daß er den Ausdruck „wahr“ anders ver-wende als Frege.42 Frege ist darauf nicht eingegangen und hat an seiner Zu-ordnung der Ausdrücke „Wahrheit“ und „Existenz“ festgehalten. Dieser „klas-sische“ Wahrheitsbegriff und das Festhalten am Anspruch, daß Axiome Grund-wahrheiten sein müssen, erschienen Frege als der „schroffste“ Gegensatz zu Hil-bert43 und machten es ihm unmöglich, die Entwicklung der modernen mathe-matischen Axiomatik zu verstehen. Er hat es nicht für möglich gehalten, daß es

41Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 73.

42Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 66.

43Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 74.

 Axiomatik als Metawissenschaft?

mehrere sich widersprechende Axiomensysteme geben kann.44

Hilbert hat ein nachhaltiges Interesse an metatheoretischen Fragestellungen gehabt. Dabei war er sich durchaus bewußt, daß seine Konzeption von Axioma-tik die Fragestellungen von den eigentlichen Fragen einer Wissenschaft weg auf eine höhere, eine Meta-Ebene verlagert. Dies war Teil der axiomatischen Metho-de.

2.4.2 Axiomatik als Methode

Die Axiomatik wird von Hilbert zwar gelegentlich auch als „Standpunkt“ be-zeichnet, in erster Linie aber als „Methode“. Sie ist für ihn in erster Linie eine

„Untersuchungsmethode“ für Wissenschaften,45 eine Methode, „ein Teilgebiet einer Wissenschaft zu erforschen“.46Sie soll die grundlegenden logischen Bezie-hungen zwischen den Sätzen der Wissenschaft herausbringen. Der Gegenstand dieser Methode ist also die betreffende Wissenschaft selbst bzw. das betreffende wissenschaftliche Teilgebiet, und die Fragen, die mit dieser Methode beantwor-tet werden sollen, liegen dementsprechend auf der metatheoretischen Ebene.

Die Wissenschaft, die man erforschen will, geht der Anwendung der Axioma-tik schon voraus. Mit der AxiomaAxioma-tik erforscht man nicht eigentlich das Sachge-biet, von dem die Wissenschaft handelt, sondern man erforscht die Wissenschaft selbst.

Die axiomatische Untersuchung besteht aus zwei Schritten, die sich zwar ge-danklich trennen lassen, die jedoch in der axiomatischen Praxis immer in einem sich gegenseitig bedingenden Wechselspiel ausgeführt werden. Im ersten Schritt wird eine Wissenschaft bzw. ein wissenschaftliches Teilgebiet in eine axiomati-sche Form gebracht, d. h., die wichtigsten Beziehungen zwiaxiomati-schen den Objekten des Sachbereichs werden als Axiome aufgestellt, so daß sich möglichst alle üb-rigen Beziehungen mittels bloßer logischer Schlußfolgerungen aus diesen Axio-men ergeben. Im zweiten Schritt können an dem so erhaltenen AxioAxio-mensystem dann typisch axiomatische Fragestellungen untersucht werden wie z. B. Unab-hängigkeit und Widerspruchsfreiheit. Die Beweisbarkeit einzelner Sätze gehört als Spezialfall zu diesen metatheoretischen Fragestellungen. Beide Schritt voll-ziehen sich im konkreten Fall jedoch, wie gesagt, als Wechselspiel und nicht als einmalige Hintereinanderfolge.

Die axiomatische Methode dient nach Hilbert

„zur endgültigen Darstellung und völligen logischen Sicherung des Inhaltes unserer

Er-kenntnis.“ HILBERT,Zahlbegriff[1900b], 181

Eines der Ziele der Axiomatik soll demnach die Sicherung eines schon vorgän-gigen Erkenntnisinhaltes sein. So ist auch die Redeweise zu verstehen, daß es

44Vgl. besonders seine Einschätzung, es könne im Bereich der euklidischen Geometrie keine Widersprüche geben, denn die Axiome seien ja wahr; FREGE,Briefwechsel[1976], 71.

45Vgl. HILBERT,Zahlbegriff[1900b].

46HILBERT,Neubegründung[1922], 160.

Wurzeln: Axiomatik 

sich bei einem Axiomensystem um ein Axiomensystem für die Geometrie han-deln soll. Diese Beobachtung scheint trivial zu sein, unterstützt jedoch auch noch einmal die These, daß ein Wissensgebiet seiner Axiomatisierung voraus-geht. Dies ist kaum verträglich mit Sichtweisen, die ein Wissensgebiet oder eine wissenschaftliche Disziplin mit seiner axiomatisierten Form identifizieren bzw.

die axiomatisierte Form zur eigentlichen Gestalt der Wissenschaft erklären wol-len. Hieraus ergeben sich einerseits Probleme für einen radikalen Formalismus, denn er kann kein Formalismus für eine bestimmte Wissenschaft sein, weil er dann dieser Wissenschaft genau die Selbständigkeit zugestehen müßte, die er als Formalismus bestreitet (vgl. Kapitel 4, S. 131ff.). Andererseits ist es auch für die Frage nach der Willkürlichkeit der Axiome von Bedeutung (siehe auch Ab-schnitt 2.5.2, S. 78ff.).

Es geht bei der Axiomatisierung einer vorhandenen mathematischen Theo-rie also darum, die TheoTheo-rie klarer darzustellen (so daß beispielsweise die lo-gischen Abhängigkeiten zwischen Sätzen der Theorie deutlich zum Vorschein kommen) und sie abzusichern. Dieses „Absichern“ kann man interpretieren als Gewinnung derjenigen Sicherheit, die aus klaren, widerspruchsfreien Axiomen auf der einen Seite und der Strenge des mathematischen Schließens auf der an-deren hervorgeht.47Damit dieser Punkt durch die Axiomatisierung erfüllt wer-den kann, ist ihre ontologische Neutralität wichtig. Durch die Transformation eines Wissensgebietes in axiomatische Gestalt soll sich eigentlich nichts an der Ontologie der betreffenden mathematischen Objekte oder am inhaltlichen Be-stand der Mathematik ändern. Wie sich dieser Anspruch zum axiomatischen Existenz- und Wahrheitsbegriff verhält, wird noch zu erörtern sein.

In früheren Zeiten der Mathematikgeschichte konnte es somiternsthafte Strei-tigkeiten geben, ob ein vorgelegter Beweis akzeptabel ist oder nicht, denn dies hing davon ab, wie man sich zur Akzeptabilität der Axiome stellte. Durch eine Meta-Perspektive wie die Hilbertsche können solche Streitigkeiten ausgeschlos-sen werden bzw. können vom konkret vorliegenden Beweis gelöst und auf die allgemeinere Ebene der Frage nach der Zweckmäßigkeit, der begrifflichen Ad-äquatheit, dem Sinn oder gar der Wahrheit des Axiomensystems verschoben werden. Ob ein vorgelegter Beweis eines Satzes in einem Axiomensystem Ax einAx-Beweis ist, sollte hingegen durch einfache und für jeden nachvollziehba-re Kriterien entscheidbar sein, die in der (im zugehörigen Beweisbegriff konknachvollziehba-re- konkre-tisierten) Zugehörigkeit jeder Voraussetzung und jedes Beweisschrittes zu den Axiomen bzw. den Schlußregeln bestehen. Diese Einsicht in den konstruktiven Charakter des Aufbaus mathematischer Beweise wird für den Finitismus von entscheidender Bedeutung sein (vgl. Kapitel 5, S. 151ff.).

47Zu dieser Identifikation von Strenge und logischem Schließen vgl. auch HILBERT, Mathemati-sche Probleme[1900a], 257.

 Kriteriologie für Axiome

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