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Geometrie als Paradigma der traditionellen Axiomatik

Im Dokument An den Grenzen des Endlichen (Seite 54-62)

H ILBERTPROGRAMMS

2.1 Geometrie als Paradigma der traditionellen Axiomatik

Das Paradigma für einen axiomatischen Aufbau war von Alters her die Geome-trie. Ihre systematische Darstellungsweise und die argumentative Durchsichtig-keit, die durch die klare Trennung von Voraussetzungen und Beweisschritten (zumindest dem Anspruch nach) erfolgen sollte, hatte das „more geometrico demonstratum“ in der philosophischen Tradition zu einem regelrechten Güte-sigel werden lassen. Traditionell wurde unter dem axiomatischen Aufbau einer Theorie etwa Folgendes verstanden. Am Anfang des deduktiven Lehrgebäudes stehen Definitionen, die die Grundbegriffe abgrenzen, und Axiome, die Grund-wahrheiten ausdrücken sollen. Aus diesen Definitionen und Axiomen werden dann die Lehrsätze der betreffenden Theorie logisch deduziert, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme weiterer Definitionen, die letztlich nur Abkürzungen ein-führen.

Gewisse Entwicklungen in den Naturwissenschaften und in der Mathema-tik, interessanterweise gerade im Bereich der Geometrie, machten im 19. Jahr-hundert eine Reform der traditionellen Axiomatik unausweichlich. Hilberts ers-te große grundlagentheoretische Leistung ist genau diese Reform gewesen. Man muß die traditionelle Axiomatik vielleicht nicht gerade mit ihm als „naiv“ be-zeichnen.4Es zeigt sich aber, daß sie in mehreren Punkten unzureichend ist. Die wichtigsten dieser Punkte sollen im Folgenden näher diskutiert werden.

2.1.1 Wahrheit der Axiome

Es scheint eine verbreitete Praxis in der Physik gewesen zu sein und gelegentlich auch in der Mathematik, daß man Axiome im Laufe der deduktiven Entwick-lung einer Theorie gewissermaßen „nachforderte“.5Nachdem man die Grund-begriffe definiert und die eigentlichen Axiome längst festgelegt hatte, konnte es beim Ableiten der Lehrsätze geschehen, daß für den Beweis eines Satzes die Grundwahrheiten und die schon bewiesenen Lehrsätze nicht ausreichten. Ei-ne „billige“ Methode war dann, kurzerhand weitere Axiome hinzuzufügen und den Bereich der „Grundwahrheiten“ so immer mehr zu erweitern. Diese Praxis war für Hilbert wie für Frege gleichermaßen nicht tolerabel.6Ein solches

Vorge-[2005b], 3, wobei er mit dem Ausdruck „Formalismus“, soweit ich ihn verstehe, genau das meint, was hier „Axiomatisierung“ oder „Axiomatik“ genannt wird.

4HILBERT,Über das Unendliche[1926], 177.

5Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 67.

6Frege teilte Hilberts Meinung, daß die nachträgliche Einführung von Axiomen ein Übel sei, das man vermeiden müsse. Denn, so sieht es auch Frege, durch die Hinzufügung eines Axioms wird an den Begriffen etwas verändert. Dies ergibt sich einerseits aus seinem Hauptkritikpunkt an der genetischen Methode, daß nämlich dort die Begriffe schon benutzt würden, obwohl sie noch nicht fertig seien; vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 72. Andererseits daraus, daß er Hilbert vorhält, eigentlich nicht von „dem“ Parallelenaxiom sprechen zu dürfen, da es sich in jeder Geometrie um einen anderen Gedanken handle, der nur mit denselben Worten ausgedrückt werde; vgl. FREGE, Briefwechsel[1976], 75.

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hen macht die Menge der Grundannahmen kaum noch kontrollierbar. Welche Gewähr hat man dafür, daß ein solches Verfahren nicht zu Zirkeln, Trivialitäten, Widersprüchen oder Leersinn führt?

Die Standardstrategie zur Rechtfertigung der Einführung neuer Axiome war die Berufung auf deren Wahrheit.7 Die Wahrheit der Axiome sollte ihre Ver-träglichkeit miteinander sichern. Wenn die ursprünglichen Axiome Wahrheiten waren und die Definitionen „per definitionem“ zu Wahrheiten wurden, konn-te die Hinzufügung weikonn-terer Wahrheikonn-ten zu diesem Syskonn-tem doch kein Problem darstellen. Wahrheiten können schließlich nicht anderen Wahrheiten widerspre-chen. Dies ergibt sich schon aus demSatz des Widerspruchsvon Aristoteles. Denn wie auch immer der Wahrheitsbegriff in diesem Zusammenhang ausbuchsta-biert wird, er enthält immer irgendeine Komponente der Bindung an einen Be-reich außerhalb der sprachlich gefaßten Axiome, ob dies nun unmittelbar die empirische Welt ist, ein Reich mathematischer Ideen oder unsere räumliche An-schauung. Jedenfalls war traditionell die Rede von der Wahrheit der Axiome an einen Bereich gekoppelt, in dem schlichtweg gilt, was die Axiome aussagen.

Und da in solchen Bereichen nicht vom gleichen Objekt zur gleichen Zeit und in gleicher Hinsicht ein Prädikat und sein Gegenteil gelten können, scheinen Widersprüche gar nicht auftreten zu können.

Diese Strategie verliert den Boden unter den Füßen, wenn die Axiome von der unmittelbaren Anforderung, Wahrheiten zu sein, gelöst werden. Zu dieser Ablösung drängten Ende des 19. Jahrhunderts zunächst zwei Gründe, zu denen etwas später ein dritter Grund hinzutrat.

2.1.1.1 Die Etablierung der nichteuklidischen Geometrien

Der erste Grund hängt mit einer „Altlast“ der euklidischen Geometrie zusam-men: dem ungeklärten Status des Parallelenaxioms. Auch tiefschürfende Unter-suchungsansätze zur räumlichen Anschauung konnten es nicht in befriedigen-der Weise als „Grundwahrheit“ ausweisen. Kann man es dann einfach mitbe-nutzen und es als Axiom postulieren?

Dieses alte Problem wurde über alle Maßen verschärft und zur Entschei-dungsnotwendigkeit getrieben durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien. Im 19. Jahrhundert stellte sich heraus, daß sie keine bloß hypo-thetische Möglichkeit waren, Geometrie zu betreiben, sondern wirklich anwen-dungsfähige Theorien. Durch Konstruktion von Modellen für die nichteuklidi-schen Axiomensysteme in euklidinichteuklidi-schen Systemen war zudem ihre relative Wi-derspruchsfreiheit gesichert: Wenn die euklidische Geometrie widerspruchsfrei ist, dann sind es nichteuklidischen auch. Damit sind sie nach mathematischen Maßstäben mindestens genauso gut wie die euklidische.

Daraus ergeben sich drastische Konsequenzen für die herkömmliche Recht-fertigungsstrategie für die Axiome. Denn euklidische und nichteuklidische Geo-metrien widersprechen sich. Während die euklidische behauptet, zu einer Gera-de und einem nicht auf Gera-der GeraGera-de liegenGera-den Punkt gäbe es genau eine Parallele

7Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 67.

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zu dieser Gerade durch den Punkt, behauptet eine der nichteuklidischen Geo-metrien beispielsweise, daß es zu der Gerade und dem Punkt unendlich viele Parallelen gebe. Das Parallelenaxiom und sein nichteuklidischer „counterpart“

widersprechen sich also und können ergo nicht beide wahr sein. Damit fiel die Grundlage weg für die traditionelle Rechtfertigung der Axiome und besonders für die Hinzufügung zusätzlicher Axiome im Verlauf der Deduktion.

2.1.1.2 Die Multiapplikabilität der Mathematik

Der zweite wichtige Grund für die Abkoppelung der Mathematik von einer direkten Bindung an einen Wirklichkeitsbereich ist ihre „Multiapplikabilität“.

Mit diesem Kunstwort soll die Erfahrung bezeichnet werden, daß ein und die-selbe mathematische Theorie in ganz verschiedenen naturwissenschaftlichen – und später dann auch in gesellschaftswissenschaftlichen und psychologischen – Theorienangewandtwerden kann. Versteht man „angewandt“ hier in dem Sin-ne, in dem sich seit dem 19. Jahrhundert eine „angewandte Mathematik“ entwi-ckelt hat, so geht dieser Anwendbarkeitsbegriff sowohl in seiner Komplexität als auch in seiner prinzipiellen Reichweite über die schon seit Alters her gesehene Abstraktheit der Mathematik hinaus.

Die Mathematik verdankt einen Gutteil ihrer Anwendungsfähigkeit einer gewissen Deutungsoffenheit. Diese zeigt sich beispielsweise dann, wenn für ei-ne spezielle Anwendung in der Physik eiei-ne elaborierte mathematische Theorie entworfen wird, von der sich später herausstellt, daß sie sich noch auf ganz an-dere physikalische Theorien anwenden läßt. Gerade in der traditionellen Be-ziehung zwischen Mathematik und Physik kann der Erfolg der Anwendung mathematischer Theorien nur erklärt werden, wenn man diese „Deutungsof-fenheit“ oder „Interpretierbarkeit“ berücksichtigt. Die mathematische Theorie ist nicht festgelegt auf bestimmte Objekte, sondern man kann sie anwenden auf völlig beliebige Arten von Entitäten, wenn diese nur in Beziehungen stehen, die als Interpretationen der theorieinternen Beziehungen fungieren können.

Gerade für einen Mathematiker wie Hilbert, der in der theoretischen Physik die Anwendbarkeit ein und derselben Theorie in ganz verschiedenen naturwis-senschaftlichen Kontexten sozusagen aus dem Forschungsalltag kannte, war es geradezu eine theoretische Notwendigkeit, eine Auffassung von Mathematik zu haben, die diese Anwendbarkeit zuließ. Das hieß konkret: die Mathematik muß so aufgefaßt werden, daß sie nicht gewissermaßen „in sich“ statisch auf die An-wendbarkeit in einem einzelnen Wirklichkeitsbereich festgelegt ist.

Im Umkehrschluß war das nichts Anderes als ein von der Anwendungs-seite herstammendes und damit extrinisches Argument für eine Verabschie-dung des Anspruchs von Axiomen, unmittelbar Wahrheiten eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs auszudrücken bzw. im eben beschriebenen Sinne gültig zu sein, kurz: für das, was Hilbert „Abkoppelung von der Frage der sachlichen Wahrheit“ genannt hat. Dieses Argument geht parallel mit dem mathematik-intrinsischen Grund, den die nichteuklidischen Geometrien lieferten. Beide Gründe zusammen sprechen für eine konzeptionelle Modifikation der

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schen Geometrie und damit für eine Umgestaltung der axiomatischen Methode überhaupt.8 Beide haben nachweislich auch historisch Hilberts Arbeiten beein-flußt.9Bei einem dritten sachlichen Grund ist nicht mit letzter Sicherheit klar, ob er in gleicher Weise historisch wirksam war.

2.1.1.3 Die Paradoxienproblematik

Dieser dritte Grund ist die Paradoxienproblematik. Die Rede ist von paradoxa-len Argumenten, ja handfesten Widersprüchen, die sich in gewissen mathema-tischen Argumenten einstellen konnten. Während sich nach Meinung Hilberts viele der klassischen philosophischen Paradoxien, und auch ihrer moderneren Varianten wie das sog. „Richardsche Paradoxon“, leicht auflösen lassen, ist dies bei anderen Paradoxien nicht der Fall. Sie galten Hilbert als Indiz für einen ernst-haften Mißstand in den Grundlagen der Mathematik. In seinen Vorlesungen ist er dementsprechend immer wieder auf die Paradoxienproblematik zurückge-kommen.

Das Auftreten von Paradoxien und Widersprüchen birgt nämlich ein weite-res Problem für die traditionelle Auffassung von Axiomen als Grundwahrhei-ten. Wie kann es sein, daß sich aus diesen Wahrheiten paradoxe, falsche, wi-dersprüchliche Folgerungen ergeben? Nach den eben dargelegten Argumenten hätte dies eigentlich nicht passieren dürfen. Die einzige Schlußfolgerung müßte also sein, daß man bei der Aufstellung des Axioms einen Irrtum begangen hat.

So einfach war es aber nicht, wie besonders das Beispiel von Freges System für die Arithmetik aus seinen Grundgesetzen zeigt. In diesem System entsteht die Inkonsistenz aus einem nicht leicht zu durchschauenden Zusammenspiel der verschiedenen Axiome. Während man ursprünglich davon ausging, daß Freges Axiom V über die Wertverlaufsidentität für die Inkonsistenz „verantwortlich“

sei, haben neuere Studien gezeigt, daß diese Einschätzung zu kurz greift. Es gibt durchaus widerspruchsfreie Axiomensysteme, die das Axiom V enthalten. Erst das Zusammenspiel dieses Axioms mit den anderen Axiomen in Freges System führt zur Inkonsistenz.

Wenn nun die Axiome Wahrheiten sein sollen, wenn aus diesen angebli-chen „Wahrheiten“ widersprüchliche Konsequenzen ableitbar sind, wenn man schließlich noch nicht einmal einen Irrtum bei der Aufstellung der Axiome ding-fest machen kann – dann ist die nächstliegende Reaktion eine grundlegende

8Es soll hier nicht behauptet werden, daß Hilbert der „Erfinder“ dieser neuartigen Konzeption von Axiomatik gewesen wäre. Es gibt starke Anzeichen dafür, daß man etwa die Arbeiten Richard Dedekinds zur Theorie der natürlichen Zahlen als Vorläufer dieser konzeptionellen Umwälzung ansehen kann. Vgl. auch die Ausführungen zu Dedekind im Kapitel über den Logizismus (3.1.2, S. 100ff.).

9So ist die Entstehung derGrundlagen der Geometrievon Hilberts Beschäftigung mit der axio-matischen Physik mitgeprägt worden. Besonders die 1894 posthum veröffentlichten Prinzipien der Mechanikvon Heinrich Hertz und die Arbeiten Carl Neumanns zur Galilei-Newtonschen Me-chanik sind hier zu nennen. Über die naturwissenschaftlichen Einflüsse auf die Entstehung der Grundlagen der Geometrieberichtet CORRY,Empiricist Roots[2000]; allgemeiner auch TOEPELL,On the origins[1986].

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Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch von Axiomen. Wie zuverlässig sind eigentlich die Erkenntnisquellen, aus denen man die Einsicht in die Wahrheit der Axiome schöpft? Wie kann man angesichts der Paradoxien überhaupt noch von „Evidenz“ der Axiome sprechen?

Diese skeptischen Rückfragen werden durch das Ideal der strengen Beweis-führung noch verschärft, das Frege, Hilbert und vielen anderen bedeutenden Mathematikern um die Jahrhundertwende als Gebot der Stunde erschien. Denn der Anspruch, rein logische Deduktionen vorzunehmen, erhöht auch die An-fälligkeit für „typisch logische“ Probleme. Ein Widerspruch irgendwo zwischen Axiomen oder in den Definitionen versteckt, und direkt werden alle beliebigen Sätze ableitbar. Beweise in einer solchen widersprüchlichen Theorie sind nahe-zu wertlos, da sie im Letzten möglicherweise nur aus einem Ex-falso-quodlibet-Argument bestehen. Und: die Wahrheit der deduktiven Konklusionen wird – Korrektheit der logischen Schlüsse ja gerade vorausgesetzt – zu 100% der Wahr-heit der Axiome aufgebürdet. So bedeutet der größte Vorteil dieser Konzepti-on auf der Nutzenseite geradezu die größte Belastung auf der Kostenseite. Es kommt für die „Güte“ der Resultate im Wesentlichen nur noch auf die Güte der Voraussetzungen, d. h. vor allem der Axiome an. Wenn deren Wahrheit nun aber einem Zweifelsverdacht verfällt, weil sich die Evidenzbehauptungen als unwahr herausgestellt haben, droht das auf den Axiomen errichtete Gebäude keinen Halt mehr zu haben.

Es wurde schon angedeutet, daß dieser sachliche Grund nicht zwingend auch ein historisch tatsächlich wirksamer Grund gewesen sein muß. Nach tra-ditioneller Darstellung war es ja erst Russell, der 1902, alsonachHilberts Grund-lagen der Geometrie, Frege in einem berühmt gewordenen Brief die Ableitbarkeit eines Widerspruchs aus dessen Axiomensystem mitteilte, die sogenannte „Rus-sellsche Paradoxie“.

Die letzten Jahrzehnte mathematik- und logikhistorischer Forschung haben hier ein anderes Bild entstehen lassen. Um es in aller Kürze zu skizzieren: Cantor waren die Argumente, die von der Annahme einer Menge aller Kardinalzahlen bzw. von der Menge aller Mengen auf einen Widerspruch führen, wohl schon viel früher bekannt (ungefähr Mitte der 1870er Jahre bzw. Anfang der 1890er Jahre), als die ersten Publikationen hier Widersprüchliche oder Paradoxien be-merkt haben wollten. Er hat sie als unproblematische „Reduktio“-Beweise inter-pretiert, die zeigen, daß die Annahme, die betreffenden Vielheiten seien Men-gen, falsch ist. Davon hat er Dedekind und Hilbert in den späten 1890er Jahren briefliche Mitteilung gemacht und es fügt sich auch bestens in die Entwicklungs-struktur seines Denkens ein.10 Hilbert wiederum reagierte auf Freges Vermerk der Inkonsistenz im zweiten Teil der Grundgesetzedann auch nur mit der un-aufgeregten, fast schon lapidaren Mitteilung, derartige Argumente seien ihm schon seit mehreren Jahren bekannt.11Jedenfalls hat Hilbert zur Zeit der

Abfas-10Vgl. PURKERT,Georg Cantor[1986], 151–152; TAPP,Kardinalität[2005], 54–57.

11Vgl. FREGE,Briefwechsel[1976], 79–80.

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sung derGrundlagen der Geometrienach dem heutigen Stand der Forschung die Paradoxienproblematik schon gekannt.

Aus dieser verkürzenden Darstellung kann man zumindest entnehmen, daß der dritte Grund plausiblerweise nicht nur ein sachlicher Grund ist, sondern wahrscheinlich auch ein tatsächlich wirksamer Grund dafür war, sich bei der Frage nach der Rechtfertigung von axiomatischen Annahmen nicht auf deren vermeintliche „Wahrheit“ zu verlassen.

Insgesamt sind damit drei Gründe betrachtet worden, die gegenüber der tra-ditionellen Axiomatik für das Aufgeben des Wahrheitsanspruchs der Axiome sprechen. Das Aufgeben dieser engen Anbindung an Wahrheit bzw. Geltung in einem Wirklichkeitsbereich bringt natürlich eigene Probleme mit sich, die uns in der Auseinandersetzung mit Hilberts „reformierter Axiomatik“ noch beschäfti-gen werden: Wenn die Axiome sozusabeschäfti-gen vom Wahrheitsanspruch „entlastet“

werden, wer oder was garantiert dann noch die Wahrheit der mathematischen Resultate? Dieses Problem schlägt noch einmal auf die Anwendungsseite zu-rück: Wer oder was verbürgt, daß die Anwendung einer mathematischen Theo-rie innerhalb einer physikalischen TheoTheo-rie auf richtige Ergebnisse führt? – Bevor die Auseinandersetzung mit diesen Problemkreisen im Anschluß an Hilberts Axiomatik erfolgt, sei noch ein weiterer Punkt aufgerufen, der für eine Reform der klassischen Axiomatik spricht.

2.1.2 Strenge der Beweisführung

Bei dem Problem der Strenge der Beweisführung geht es weniger um eine grundlegende Änderung in der Konzeption von Axiomatik, wie es das eben diskutierte Aufgeben des Wahrheitsanspruchs der Axiome ist. Im Zentrum steht hier vielmehr die Forderung, mit einem Anspruch ernst zu machen, der in der Konzeption von Axiomatik eigentlich immer schon vorhanden war. Dieser An-spruch besteht darin, beim Beweisen kein anderes Wissen zu verwenden als das, was sich aus den Axiomen und Definitionen ergibt.

Diesem Anspruch wurde die axiomatische Praxis nicht immer gerecht. So wurde im Rahmen der Diskussion über die Wahrheit der Axiome schon auf die früher verbreitete Praxis hingewiesen, in Beweisen nachträglich Axiome einzu-führen. Ist ein Resultat denn wirklichbewiesen, wenn in dem Beweis zusätzliche Axiome gefordert werden?

Selbst Euklid, der ansonsten das Musterbeispiel der Axiomatik abgab, hat-te in seinen Beweisen Eigenschafhat-ten geometrischer Objekhat-te benutzt, die durch seine Definitionen und Axiome nicht gedeckt waren. Will man sagen, daß er die entsprechenden Lehrsätze wirklichbewiesenhat?

Der Anspruch der axiomatischen Methode und die Standards der Mathema-tik generell verlangen hier strengere Maßstäbe. Hilberts Forderung war daher, die zulässigen Beweisschritte ausgehend von den Axiomen ausschließlich auf logische Schlüsse zu beschränken. Es geht also um eine konsequente Durchfüh-rung der Aufteilung, nach der inhaltliche Annahmen allein in den Axiomen zu

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erfolgen haben, während die Schlußfolgerungen ohne weitere inhaltliche An-nahmen, sondern rein logisch, und das heißt allgemeingültig zu ziehen sind.

Dies ist der Grund, warum Hilbert zu der Position gelangt, daß die Bedeutun-gen der Begriffe in den mathematischen Beweisen keine Rolle spielen dürfen.

Innerhalb eines axiomatischen Systems, d. h. bei der Deduktion aus den Axio-men, sind nur die Schlüsse erlaubt, für deren Gültigkeit der Inhalt der entspre-chenden Aussagen irrelevant ist. Diese Unabhängigkeit kann man daher als eine Art Formalismus beschreiben (vgl. das Kapitel über den Formalismus, Kapitel 4, S. 131ff.).

Für eine radikalere, konsequentere Durchführung der Trennung von inhalt-lichen Annahmen und rein formalen Schlüssen spricht auch noch ein anderes Argument, bei dem die Präzisierung des Beweisbegriffs von entscheidender Be-deutung ist. Denn was ist mit dem Fall, daß ein Satz nicht bewiesen werden kann? Den ersten notwendigen Schritt zu einem überzeugenden Umgang mit der Unbeweisbarkeit von Sätzen tat schon die klassische Axiomatik durch die Relativierung des Beweisbegriffs auf ein konkretes Axiomensystem. Erst so kön-nen Unbeweisbarkeitsresultate überhaupt Sinn machen.12Solange jedoch nicht präzise abgegrenzt ist, was genau als Beweismittel zulässig ist, kann man nie wissen, ob ein unbeweisbar scheinender Satz nicht doch irgendwie bewiesen werden kann. Hält man innerhalb ein und derselben Theorie die Möglichkeit offen, nachträglich noch Axiome hinzuzufügen, haben Sätze wie der von der Nichtbeweisbarkeit des euklidischen Parallelenpostulats aus den übrigen geo-metrischen Axiomen letztlich keinen Sinn. Nur wenn die Ausgangspunkte einer Theorie unveränderlich sind, kann man überhaupt präzise Angaben darüber machen, wohin man mit der Theorienichtgelangen kann. Will man

Unbeweis-12Strenggenommen kann Beweisbarkeit, auch ohne auf ein Axiomensystem relativiert zu sein, ein sinnvolles Prädikat sein. Man kann dieses Prädikat der Konklusion eines vorliegenden Be-weiskandidaten zusprechen, wenn man sich davon überzeugt hat, daß der Kandidat den Anfor-derungen an einen Beweis genügt.

Unbeweisbarkeit im Sinne der Unmöglichkeit, einen Beweis angeben zu können, müßte hinge-gen bedeuten, daß schon festgelegt sein müßte, was ganz allgemein als Beweis gelten kann. Will man es auf die Spitze treiben, könnte man sogar davon sprechen, daß es im „absoluten“ Sinne – also ohne Spezifikation von Beschränkungen an die Menge der zulässigen Voraussetzungen – überhaupt keine unbeweisbaren Aussagen gibt; denn zu jeder Aussageϕbraucht man dann nur ϕals Voraussetzung zu nehmen, umϕzu beweisen. (Oder wenn dies zu trivial erscheint, eine be-liebige Aussageψund das Konditionalψϕ, so daß mit einer Anwendung des Modus ponens wirklich aufϕgeschlossenwerden kann.)

Um als ganz einfaches Beispiel eine formale Theorie heranzuziehen: Vor die Frage gestellt, ob man1 = 1beweisen kann, oder dies eine unbeweisbare Aussage ist, ist man nicht ohne Grund zunächst ratlos. Ob man jedoch 1 = 1aus einem Axiomensystem ableiten kann, das aus dem Axioma=aund einer Substitutionsschlußregel besteht und dessen Sprache aus der Konstante 1, der freien Variableaund dem=-Zeichen besteht, ist klar zu bejahen. Ob man hingegen1 = 1 aus einem Axiomensystem ableiten kann, das aus den Axiomen a+ 0 = aund 0 = 0, einer Substitutionsschlußregel und der Sprache aus0,a,1und=besteht, kann ebenso klar verneint werden (denn alle in diesem System ableitbaren Aussagen enthalten mindestens einmal das Zei-chen0;1 = 1enthält jedoch keine0). – Vgl. hierzu das Kapitel über Hilberts frühe Beweistheorie (zweiter Teil, Kapitel 1, S. 201ff.).

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barkeitsresultate als mathematische Resultate eigenen Rechts gelten lassen, so setzt dies eine weitergehende Präzisierung des Beweisbegriffs und vor allem seine Fixierung voraus.

So steht auch für Hilbert seine vehemente Forderung nach Beweisstrenge in einem sehr allgemeinen Kontext der Frage danach, was eigentlich überhaupt als ein mathematisches Problem und was als Lösung eines solchen Problems gera-de im negativen Fall gelten kann. Im Schlußwort gera-der Grundlagen der Geometrie plädiert er für den Grundsatz:

„eine jede sich darbietende Frage in der Weise zu erörtern, daß [. . . ] zugleich [geprüft wird], ob ihre Beantwortung auf einem vorgeschriebenen Wege mit gewissen einge-schränkten Hilfsmitteln möglich ist.“ HILBERT,Grundlagen Geometrie[1899], 124

Nur wenn die Wege vorgeschrieben und die Hilfsmittel klar beschränkt sind, wenn also die zulässigen Beweismittel eindeutig bestimmt sind, kann eine Aus-sicht darauf bestehen, solche Fragen klar zu entscheiden, sei es positiv oder negativ. Beides gilt Hilbert als Lösungeines Problems und (wohlgestellte) ma-thematische Probleme sollen nach Hilberts tiefer optimistischer Überzeugung ja stets lösbar sein – es gibt kein „Ignorabimus“ in der Mathematik. Das setzt aber voraus, daß bei einem mathematischen Problem, wo es um den Beweis eines Satzes oder die Unmöglichkeit eines Beweises geht, die erlaubten Beweismittel genau spezifiziert werden. Und dies ist für Hilbert letztlich nichts Anderes als das Problem in die Frage zu transformieren, ob der entsprechende Satz in einem bestimmten Axiomensystem beweisbar ist. Der „Glaube“ an die Lösbarkeit aller mathematischen Probleme verlangt somit die Akzeptanz auch von Unbeweis-barkeitsresultaten als echte Lösung mathematischer Probleme. Und um einen präzisen Sinn zu haben, verlangen diese wiederum, den Anspruch strenger Be-weisführung durchzuhalten.

Hieran schließt sich ein definitionstheoretisches Argument für die strenge Beweisführung an. Hilbert hat darauf hingewiesen, daß die nachträgliche Hin-zufügung von Axiomen die Bedeutung der Begriffe einer Theorie verändert.

Denn wenn ein Satz ϕ, der von Objekten der Art F handelt, aus den zuvor vorliegenden Definitionen und Axiomen nicht beweisbar ist, dann geht dieje-nige Eigenschaft vonF, die durchϕzum Ausdruck gebracht wird, anscheinend über das hinaus, was von den Definitionen und Axiomen überFfestgeschrieben wird. Dabei hilft es auch nichts zu sagen, alle F’s hätten doch die Eigenschaft ϕ „in Wirklichkeit“, dies sei nur nicht in den Grundsätzen der Theorie festge-schrieben gewesen. Zu „wirklichen“ F’s fügt man so sicher nichts hinzu, aber innerhalb der Theorie war bis dahin anscheinend von denF’s weniger festgelegt als nun, nach Einführung des zusätzlichen Axioms. Um ein Beispiel zu bemü-hen: Wenn man die Axiome für eine Gruppe aufgestellt hat und fordert später noch die Kommutativität der Gruppenverknüpfung, dann verändert man den axiomatisierten Begriff. Es ist dann kein allgemeines Axiomensystem für eine Gruppe mehr, sondern ein Axiomensystem für spezielle Gruppen, nämlich die abelschen. Will man also ein Axiomensystem als ein Axiomensystem-für-etwas,

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