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1.1.2 Kirche als geistliche und weltliche Größe

1.1.2.2 Kirche als Mysterium

Diese kirchenamtlich verordnete juridisch-hierarchische Sicht der Kirche konnte auf Dauer nicht ohne Widerspruch bleiben.73 Im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelte sich innerhalb der theologischen Forschung neues Interesse am Kirchenverständnis der Frü-hen Kirche: Als Gegengewicht zur lehramtlicFrü-hen Rezeption der Societas-perfecta- und Societas-inaequalis-Lehre wurden die lange Zeit vernachlässigten (geistlichen) Vorstel-lungsweisen von Kirche als „Mysterium“ oder als „mystischer Leib Christi“ und „Volk Gottes“ wiederbelebt74 und in der Theologie und Ekklesiologie neu bedacht. Charakte-ristisch für diese wiederentdeckten Kirchenbilder ist ihre gemeinschaftliche und spiritu-elle Dimension und gerade nicht eine rein äußerliche, gesellschaftliche oder juridische, hierarchische Vorstellung von Kirche.75

Parallel dazu entstanden nach dem Ende des ersten Weltkriegs unter der Gläubigen, vor allem unter Laien und Theologen, verschiedene „Katholische Bewegungen“:76 die Mis-sionarische Bewegung, die Ökumenische Bewegung, die Liturgische Bewegung, die Bibelbewegung, die (katholische) Jugendbewegung und viele andere mehr. Diese inner-kirchlichen Aufbruchbewegungen nahmen die theologische Rückbesinnung auf bibli-sche und patristibibli-sche Grundlagen der Kirche bereitwillig auf und lieferten weitere Denkanstöße für ein neues spirituelles und strukturelles kirchliches Selbstverständnis.

Weniger unter der amtlichen Führung der kirchlichen Hierarchie,77 sondern vorwiegend

72 HÜNERMANN,P.,Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: HThK Vat.II 2, 263-582, 273.

73 Vgl. zum Folgenden NEUNER,Ekklesiologie, 510f; DERS.,Der Laie und das Gottesvolk, 93-100;

FRIES,H., Wandel des Kirchenbildes und dogmengeschichtliche Entfaltung, in: MySal IV,1, 223-285, 273; HÜNERMANN,Theologischer Kommentar, 277-280.

74 „In den Jahren zwischen 1920 und 1925 erschienen über den mystischen Leib ebenso viele Darstel-lungen wie in den 20 Jahren zuvor; und von 1930 bis 1935 dann fünfmal so viele wie zwischen 1920 und 1925; der Höhepunkt wurde 1937 erreicht.“ CONGAR,Lehre von der Kirche, 117.

75 Die Reihe der Theologen, die durch ihre Forschungen in dieser Zeit einen Beitrag zur Besinnung auf biblische und frühkirchliche Wurzeln leisteten, lässt sich selbstverständlich noch fortsetzen, so zum Beispiel durch folgende Personen: H. de Lubac, L. Bouyer, J. Daniélou, R. Guardini, E. Przywara, H.U. von Balthasar, K. Rahner, J. Ratzinger u.a. Vgl. dazu ausführlicher die Zusammenstellung bei SCHMITZ,R.M.,Aufbruch zum Geheimnis der Kirche Jesu Christi. Aspekte der katholischen Ekkle-siologie des deutschen Sprachraumes von 1918 bis 1943 (MThS.S 46), St. Ottilien 1991, 175-259, der die Entwürfe der deutschsprachigen Theologie im Hinblick auf das jeweilige Verhältnis Christus – Kirche in fünf Hauptströmungen einteilt.

76 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei SCHMITZ,Aufbruch zum Geheimnis, 95-111.

77 Diese war zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem um (hierarchische Einbettung und) Organisation des wachsenden kirchlichen Vereinswesens bemüht sowie um die von den Päpsten ins Leben

gerufe-innerhalb der Kreise von Laien entstand eine Rückbesinnung auf Kirche als Gemein-schaft, die in ihrem Leben und ihrer Liturgie den Menschen nicht gegenübersteht und nicht als Begrenzung, sondern als Inhalt und Unterstützung des religiösen und spirituel-len Lebens erfahren wird. Angestoßen durch die Theologie der Zeit und durch die innerkirchlichen Aufbruchbewegungen wird Kirche also nicht mehr allein als überge-ordnete Institution verstanden, sondern als Gemeinschaft der Gläubigen, als „Wir selber sind die Kirche“.78 Mit R. GUARDINI lässt sich diese Phase des innerkirchlichen Auf-bruchs treffend charakterisieren als das „Erwachen der Kirche in den Seelen“.79

Diese gestiegenen Forderungen aus den Reihen der Theologie und der kirchlichen Aufbruchbewegungen an eine Modifizierung des bisherigen institutionell-hierarchischen Kirchenverständnisses führten schließlich zur Entstehung der Enzyklika Mystici corporis Papst Pius’ XII. im Jahr 1943. Sie ist „die erste ausführliche offizielle Lehrdarstellung der Kirche“.80 Als Anlass für seine Enzyklika führt Pius XII. in der Einführung tatsächlich auch die kirchlichen Aufbruchbewegungen, einschließlich der (päpstlich bzw. hierarchisch initiierten) Katholischen Aktion an und weist darauf hin, dass er mit den folgenden Erklärungen einem einseitigen rechtlich-gesellschaftlichen Kirchenverständnis entgegentreten möchte. Als programmatisches Leitbild der Enzykli-ka und des damit modifizierten Kirchenverständnisses wird der Begriff des „mystischen Leibes Christi“ vorgestellt bzw. in Erinnerung gerufen.

„Bei einer Wesenserklärung dieser wahren Kirche Christi, welche die heilige, katholische, apostolische, römische Kirche ist, kann nichts Vornehmeres und Vorzüglicheres, nichts Göttlicheres gefunden werden als jener Ausdruck, womit sie als ,der mystische Leib Chris-ti‘ bezeichnet wird. Dieser Name ergibt sich und erblüht gleichsam aus dem, was in der Heiligen Schrift und in den Schriften der heiligen Väter häufig darüber vorgebracht wird.“81

ne „Katholische Aktion“ mit der – bezeichnenden – „Teilnahme der Laien am hierarchischen Apos-tolat“. Zitiert nach: FRIES,Wandel des Kirchenbildes, 273; vgl. hierzu auch NEUNER,Der Laie und das Gottesvolk, 108-114. Selbstverständlich besaß der Klerus hierbei eine „Schlüsselstellung als un-angefochtenes Führungspersonal.“ GABRIEL,K.,Christentum zwischen Tradition und Postmoderne (QD 141), Freiburg i.Br. 1992, 100.

78 J.RATZINGER erinnert sich an diesen Aufschwung im ekklesiologischen Denken im Rückblick mit diesen Worten: „Wenn Kirche bis dahin vor allem als Struktur und Organisation angesehen wurde, so kam nun die Einsicht auf: Wir selber sind die Kirche; sie ist mehr als Organisation, sie ist Orga-nismus des Heiligen Geistes, etwas Lebendiges, das uns alle von innen her umgreift. Dieses neue Bewusstsein fand seine sprachliche Form in dem Wort vom ,Mystischen Leib Christi‘.“ RATZINGER, J.,Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums, in: IkaZ 15 (1986), 41-52, 41.

79 Unter diesem viel zitierten Schlagwort R.GUARDINIS (erstmals angeführt in: GUARDINI, R.,Das Erwachen der Kirche in der Seele, in: Hochl. 19 [1921/22], 257-267, 257; später genannt in: DERS., Vom Sinn der Kirche. Fünf Vorträge, Mainz 1922, 19) wird oftmals die (spirituelle) Um- und Neu-orientierung im Kirchenbewusstsein und -verständnis zusammengefasst.

80 NEUNER,Ekklesiologie, 510f.

81 Lateinisches Original: PIUS XII., Enzyklika Mystici corporis, in: AAS 35 (1943), 193-248; dt. Über-setzung zitiert nach: Die Kirche, der geheimnisvolle Leib Christi. Rundschreiben Papst Pius’ XII.

vom 29. Juni 1943, in: Heilslehre der Kirche. Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., dt. Ausgabe des frz. Originals v. CATTIN,P.,und CONUS,H.T.,besorgt v. ROHRBASSER,A.,Freiburg/Schweiz 1953, Rdnr. 752-846, 763 (199).

Während viele Enzykliken und ähnliche lehramtliche Dokumente des 19. Jahrhunderts noch das Kirchenverständnis der „societas perfecta“ in Anlehnung bzw. Abgrenzung zu weltlichen Staatstheorien und mit juridischer Terminologie propagierten, verwendet die Enzyklika Mystici corporis vorwiegend biblische und patristische Vorstellungen und Metaphern für Kirche. Mit dem Wissen um die Denkanstöße der Theologie und der innerkirchlichen Aufbruchströmungen gewinnt man den Eindruck, dass sich Kirche nun auch von lehramtlicher Seite wieder auf ihren Ursprung und ihre eigentlichen Grundla-gen besinnt. Y.CONGAR spricht in Bezug auf die Adaption der zu Beginn des 20. Jahr-hunderts entwickelten Theologien um den Leib-Christi-Gedanken in Mystici corporis sogar von einer „Krönung“82; wie später noch gezeigt wird, trifft auch das Urteil G.WASSILOWSKYS zu, dass die „Krone freilich nicht allen theologischen Entwürfen“83 der Enzyklika aufgesetzt werden kann. Der entscheidende Teil der Enzyklika Mystici corporis ist in drei größere Abschnitte untergliedert, die die theologischen Schlüsselbe-griffe „corpus“ – „Christi“ – „mysticis“ vorstellen und erklären:84 Als „Leib“ (corpus) wird in der Enzyklika die organische, hierarchisch verbundene Gestalt und Gemein-schaft der Kirche in ihrer Einzigartigkeit, Unteilbarkeit und Sichtbarkeit verstanden, deren einzelne Glieder bzw. Teile (des Corpus!) deshalb eindeutig bestimmt werden können. Dieser Leib ist „Leib Christi“, also Christus zugeordnet, der Schöpfer und Gründer, Haupt und Leiter, Erhalter und Erlöser der Kirche ist. Der Terminus „mysticis“

bestimmt Kirche als „Leib Christi“85 – nicht als geheimnisvolle, sondern – als unsicht-bare, weil übernatürliche, von Christus kommende und auf ihn hinweisende Wirklich-keit. Die Bedeutung der drei Schlüsselbegriffe lässt sich kurz zusammenfassen: „Mit Leib wird der gesellschaftliche und soziale Charakter der Kirche bezeichnet. So wird die äußere Seite der Kirche sowie ihre soziale Struktur hervorgehoben. Der Begriff ,mystisch‘ bringt zum Ausdruck, dass die Kirche eine übernatürliche Wirklichkeit ist.

Damit wird die innere und unsichtbare Seite der Kirche betont. Durch den Genitiv ,Christi‘ wird die absolute Abhängigkeit der Kirche von Christus hervorgehoben. Die Kirche wird als eine Art Fortsetzung des Menschseins Jesu Christi verstanden.“86 Nach der Jahrhunderte dauernden Engführung des Kirchenverständnisses auf die sicht-bare juridische Ordnungsgestalt von Kirche kann die hier vorgenommene Rückbesin-nung auf biblische Wurzeln und die unsichtbare Seite von Kirche nicht genug wertge-schätzt werden. Bei genauerem Hinsehen offenbart die Verwendung des Terminus

82 CONGAR,Lehre von der Kirche, 121.

83 WASSILOWSKY,G.,Universales Heilssakrament Kirche. Karl Rahners Beitrag zur Ekklesiologie des II. Vatikanums (IThS 59), Innsbruck 2001, 120.

84 Vgl. zum Folgenden FRIES,Wandel des Kirchenbildes, 274; MIRBACH,S., „Ihr aber seid Leib Chris-ti“. Zur Aktualität des Leib-Christi-Gedankens für eine heutige Pastoral, Regensburg 1998, 122-136;

VERWEYEN,H., Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, Regensburg 42002, 403-407.

85 Der Enzyklika zufolge dient die Ergänzung des Leib-Christi-Begriffs durch das Adjektiv „mystisch“

zur Unterscheidung des Leibes der Kirche vom persönlichen und vom eucharistischen Leib Christi.

86 GARIJO-GUEMBE,M.M.,Gemeinschaft der Heiligen. Grund, Wesen und Struktur der Kirche, Düssel-dorf 1988, 98.

„Corpus“ und die Hervorhebung von Christus als „Haupt“ dieses Leibes in der Enzykli-ka allerdings auch eine ganz andere Lesart: P. HÜNERMANN hat darauf aufmerksam gemacht, „dass sich in der europäischen Tradition mit der Metapher des Leibes und seines Hauptes die monarchische Gesellschaftskonzeption fest verbunden hat. Damit bietet sich der Terminus [„mystischer Leib Christi“] an, um die Verfassung der sichtba-ren Kirche auszudrücken, obwohl der [...] [biblische] Gebrauch diese Konnotation nicht umschließt.“87 Im Licht dieses Begriffsverständnisses kann die Enzyklika also auch ganz anders gelesen werden: Christus ist das Haupt des Leibes, der Kirche, „in einer unsichtbaren und außergewöhnlichen Weise, in sichtbarer und ordentlicher Weise wird die Leitung ausgeübt durch den Römischen Pontifex.“88 Die theologischen Neuansätze von Mystici corporis deuten in dieser Lesart nur dem Anschein nach auf eine Überwin-dung der juridisch-hierarchischen Sicht von Kirche hin, denn tatsächlich werden die wiederentdeckten frühkirchlichen Kirchenmetaphern nicht bei-, sondern untergeordnet.

Dennoch kann der Enzyklika zumindest ein Verdienst nicht abgesprochen werden: Zu ihrer Zeit hat sie auch von lehramtlicher Seite einen Prozess der Erneuerung und des Überdenkens des bisherigen katholischen Kirchenverständnisses in Gang gebracht.89 Die bis dahin einseitige institutionell-hierarchische Sicht von Kirche wurde durch eine mehr theologische Sichtweise – wenn auch nicht korrigiert, so doch immerhin – er-gänzt, wie P.NEUNER anmerkt: „So sehr der Papst den institutionellen Aspekt hervor-hob, übersah er nicht die Dimension des Geheimnisses: Christus als das Haupt des Lei-bes, der in der Kraft des Heiligen Geistes diesen beseelt und belebt. [...] Damit waren die Weichen gestellt, die zur Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils leite-ten.“90

„Kirche, was sagst du von dir selbst?“91 – Kardinal J.SUENENS stellte diese Frage wäh-rend der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils (September –

87 HÜNERMANN,Theologischer Kommentar, 280.

88 Ebd., 279.

89 J.RATZINGER fasst im Rückblick die Bedeutung von Mystici corporis mit diesen Worten zusammen:

„Mit elementarer Kraft hatte sich ein Durchbruch durch jahrhundertelange Verhärtungen ergeben, und man empfand es mit Recht als großes Ereignis, dass diese neue Sicht der Kirche in der Enzykli-ka Mystici Corporis ihre Bestätigung durch das kirchliche Lehramt empfing, denn man durfte darin zugleich eine Überwindung des einseitig hierarchologischen Verständnisses der Kirche sehen und ei-ne amtliche Bejahung all des Neuen, das seit Möhler in der Theologie gewachsen war“. RATZINGER, J.,Der Kirchenbegriff und die Frage nach der Gliedschaft der Kirche, in: DERS.,Das neue Volk Got-tes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 1969, 90-104, 93f.

90 NEUNER,Ekklesiologie, 511.

91 „Rogamus ergo ab Ecclesia: Quid dicis de te ipsa?“ (AS I/4, 223). Diese berühmt gewordene Frage stellte Kardinal J.SUENENS am 4. Dezember 1962 in der Konzilsaula des Zweiten Vatikanums. In der Sekundärliteratur wird die Frage oftmals in leicht abgewandelter Kurzform wiedergegeben („Eccle-sia, quid dicis de te ipsa?“). Ursprünglich hatte Suenens die Frage an seine Diözese in einem Hirten-brief von 1962 gestellt, der unter dem Thema stand: „Wie kann die Kirche den Fragen der Zeit be-gegnen?“ Vgl. SUENENS,J., Aux origines du concile Vatican II, in: NRTh 108 (1985), 3-21, 12. Zu dieser Fragestellung von Suenens und zur Wirkung seiner Ansprache vgl. RUGGIERI,G.,Der schwie-rige Abschied von der kontroverstheologisch geprägten Ekklesiologie, in: ALBERIGO, G.(Hrsg.), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959-1965), Bd. II, dt. Ausgabe hrsg.

Dezember 1962) in den Raum der Konzilsaula. In der Frage nach dem Wesen der Kir-che standen sich im Laufe der Diskussionen zwei Auffassungen gegenüber: die eine Seite verteidigte die gesellschaftlich-juridische Sicht der Kirche und die Identität zwi-schen katholischer Kirche und geheimnisvollem Leib Christi – in Anlehnung an das Leib-Christi-Verständnis der Enzyklika Mystici corporis; die andere Seite nutzte die Kombination des „mystischen Leibes Christi“ aus der Enzyklika als eine Art „geistiges“

Sprungbrett für ihre Überlegungen und setzte sich dafür ein, Kirche auch als „Mysteri-um“ zu verstehen.92 So ähnlich sich beide Auffassungen durch die Verwendung der Begriffe „mystisch“ und „Mysterium“ anhören, so unterschiedlich akzentuiert sind sie doch im Detail. Die eine Seite orientiert sich am Leibbegriff, den sie in zwei Richtun-gen auslegt: „einmal in Richtung auf die Sichtbarkeit als Wesensprinzip der Kirche;

zum anderen in Richtung auf die Kirche als Gesellschaft. Beide Ausdeutungen konver-gieren darin, den Leibbegriff vor allem in Richtung auf seine unterschiedlich gestufte Struktur zu lesen, also auf die Hierarchie als innere Struktur der sichtbaren Körperschaft (societas et corpus).“93

Diese Sicht findet sich wieder im ersten Entwurf De Ecclesia zu einer dogmatischen Konstitution über die Kirche zur ersten Sitzungsperiode im November 1962. Das Sche-ma De Ecclesia war von einer Kommission erarbeitet worden, die sich mehrheitlich aus Mitgliedern des Heiligen Offiziums94 und römischer Theologiefakultäten zusammen-setzte, also von Personen, die auf der höchsten hierarchischen Ebene der Kirche ange-siedelt waren und dementsprechend das bisherige hierarchisch-juridische Ordnungsge-füge verteidigen und fortschreiben wollten. Der erste Themenpunkt dieses Schemas De Ecclesia stand unter der Überschrift „Das Wesen der streitenden Kirche“95 und lässt durch die Formulierung schon offensichtlich werden, „woran sich der Streit [der

v. WITTSTADT,K.,Mainz 2000, 331-419, 400f; PESCH,O.H.,Das Zweite Vatikanische Konzil. Vor-geschichte – Verlauf – Ergebnisse – NachVor-geschichte, (Neuausgabe) Würzburg 2001, 91f.

92 Die Konzilsdebatte um die Ekklesiologie erweist sich damit als Fortsetzung der Diskussion um die Theologie der Enzyklika Mystici corporis von Papst Pius XII. 1943. Der Grundkonflikt dieser Zeit liegt in der Zweiteilung der Ekklesiologie in eine „institutionalistisch-apologetische“ und eine „dog-matisch-innere“ Strömung, die beide auch durch Mystici corporis nicht wirklich überwunden waren.

J. RATZINGER beschreibt diese Phase zwischen Enzyklika und Konzil rückblickend: „Die bisherige institutionalistische Ekklesiologie sollte nicht einfach abgebaut, sondern als apologetische Kirchen-lehre unverändert stehengelassen werden. Neben sie aber wollte man jetzt eine zweite, dogmatische Kirchenlehre setzen, die dann von der mystischen Herrlichkeit des inneren Wesens der Kirche zu handeln hätte.“ Und er fährt weiter fort: „Man konnte auf die Dauer nicht daran vorbeigehen, dass das Innere nur erscheint und wirklich ist im Äußeren und dass das Äußere nur erträglich ist, wenn es untrennbar das Sichgewähren des Inneren bedeutet. Aus diesem Grund konnte die Nebeneinander-stellung von zweierlei Ekklesiologie keinerlei Lösung sein, wo doch gerade das Ineinander von Herr-lichkeit und Niedrigkeit das eigentliche Problem ist“. RATZINGER,Kirchenbegriff, 94.

93 WENZEL,K.,Kleine Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg i.Br. 2005, 53.

94 Als Behörde der römischen bzw. päpstlichen Kurie hatte die „Sacra Congregatio Sancti Officii“

(Hl. Offizium) den Auftrag, dem Papst in der Ausübung seines obersten Hirtenamtes behilflich zu sein. Sie führte die genannte Bezeichnung von 1908-1965; Paul VI. ordnete 1965 die Kompetenzen und Strukturen aller Kongregationen neu, seitdem führt diese Kongregation den Namen

„Congregatio de Doctrina Fidei“ bzw. „Kongregation für die Glaubenslehre“ oder kurz: Glaubens-kongregation. Vgl. SCHMITZ,H.,Die Römische Kurie, in: HdbKathKR2, 364-385, 365f sowie 371.

95 „De Ecclesia militans natura“ (AS I/4, 12); vollständiger Inhalt des ersten Kapitels in: AS I/4, 12-17.

zilsväter bald] festbeißen wird: ein Denken von ,oben nach unten‘, und dies noch aus der Position der Ansprüche heraus. Die ,streitende‘ Kirche ist ja nicht nur ein typisch mittelalterlicher Begriff, sondern kennzeichnet auch noch ganz und gar die in der feind-seligen Welt sich verteidigende, ihre Rechtsansprüche anmeldende und nach Kräften durchsetzende Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts.“96

Dieser erste Entwurf zum Verständnis von Kirche löste die (ekklesiologische) Grund-debatte des Konzils schlechthin aus. Die im Folgenden kurz wiedergegebenen Extrem-positionen dieser Debatte vermitteln einen Eindruck vom harten Ringen der Konzilsvä-ter um das Selbstverständnis der Kirche; mit O.H.PESCH lässt sich zutreffend auch vom

„Kampf um das Kirchenverständnis des Konzils“97 in einer ekklesiologischen Debatte mit „atemraubende[r] Kritik“98 auf höchstem theologischen Niveau sprechen. Die Haupteinwände vieler Bischöfe gegen das Schema De Ecclesia lassen sich auf den Nenner bringen: Die vorliegende Sicht von Kirche sei zu juridisch, sie identifiziere den mystischen Leib Christi zu direkt mit der römisch-institutionellen Kirche, die heilsge-schichtliche und eschatologische Dimension von Kirche fehle völlig und Kirche sei mehr triumphalistische als demütige, arme, leidende Kirche.99 Vor diesem Hintergrund stellte Kardinal J. SUENENS von Brüssel die oben erwähnte Frage über das Selbstver-ständnis der Kirche an die Konzilsväter, vor diesem Hintergrund des ersten Kirchen-schemas kritisierte zum Beispiel auch Bischof DE SMEDT von Brügge – hier stellvertre-tend erwähnt für viele andere Konzilsväter – die hierarchisch-juridische Denkrichtung der Beratungsvorlage und die „Ruhmsucht und Prestigesucht ihrer indiskreten Superla-tive“.100 Mit O.H.PESCH lässt sich die Fundamentalkritik der Konzilsväter am vorgeleg-ten Kirchenschema zusammenfassen: „Wenn die Kirche ihre Sendung beschreibt, muss sie allen Triumphalismus vermeiden. [...] Sie darf ihr eigenes Leben nicht auf die Akti-vität der Hierarchie reduzieren und sich so zum Klerikalismus hinreißen lassen. Schließ-lich darf sie dem Juridismus keine Konzessionen machen.“101 – „Nicht alles, was neu ist, ist auch wahr und gut“102 stellte Kurienkardinal A. OTTAVIANI,Vertreter der Ent-wurfskommission des Kirchenschemas, den Kritikern entgegen und enthüllte damit seine Meinung zu den Einwänden vieler Bischöfe: In seinen Augen waren sie Neuerun-gen – obwohl alle Redner betonten, dass es sich um die vergessenen biblischen und frühkirchlichen Grundlagen der Kirche handelte.103

96 PESCH,Das Zweite Vatikanische Konzil, 140.

97 Ebd., 138. Vgl. BETTI,U., Die Entstehungsgeschichte der Konstitution, in: BARAÚNA,G. (Hrsg.), De Ecclesia I. Beiträge zur Konstitution „Über die Kirche“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg i.Br. 1966, 45-70, 50.

98 PESCH,Das Zweite Vatikanische Konzil, 141.

99 Vgl. ebd., 141-143.

100 Ebd., 142. Vgl. AS I/4, 142ff; RUGGIERI,Der schwierige Abschied, 395f.

101 PESCH,Das Zweite Vatikanische Konzil, 142.

102 Zitiert nach: ebd., 143.

103 PESCH (ebd.) schildert diesen Vorgang anschaulich: „Den Zorn der Versammlung – also Protestge-murmel, das die Rede unterbrach – erregt der Bischof Musto von Aquino (der Heimatstadt des hl.

Thomas von Aquin), als er sich mit Blick auf die Kritiker nicht scheute, von einem ,Spektrum der

Zwei Jahre und unzählige Redekämpfe zwischen den beiden verschiedenen ekklesiologischen Lagern später stand die dogmatische Konstitution über die Kirche zur Schlussabstimmung und wurde von den rund 2.200 Konzilsvätern mit nur 5 Gegen-stimmen angenommen.104 „Kirche, was sagst du von dir selbst?“105 – In den Worten der Kirchenkonstitution Lumen gentium möchte die Kirche, „indem sie dem Thema der vorausgehenden Konzilien nachfolgt, ihr Wesen und ihre allumfassende Sendung ihren Gläubigen und der gesamten Welt eindrücklicher erklären“ (LG 1,1).106 Schon allein an dieser Aussage lässt sich der epochale Unterschied und die Neuerung des Zweiten Vatikanums im Vergleich zu den beiden vorherigen Konzilien – dem Tridentinum (1545-1563) und dem Ersten Vatikanum (1869-1870) – erkennen. Die Kirche des Zwei-ten Vatikanischen Konzils hat sich ausdrücklich der Frage an sich selbst gestellt und sie ausführlich beantwortet. Das zeigt die Tatsache, dass das Zweite Vatikanum dem The-ma „Kirche“ nicht nur eine eigene dogThe-matische Konstitution gewidmet hat, sondern auch alle anderen Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen von der Frage über „Die

Zwei Jahre und unzählige Redekämpfe zwischen den beiden verschiedenen ekklesiologischen Lagern später stand die dogmatische Konstitution über die Kirche zur Schlussabstimmung und wurde von den rund 2.200 Konzilsvätern mit nur 5 Gegen-stimmen angenommen.104 „Kirche, was sagst du von dir selbst?“105 – In den Worten der Kirchenkonstitution Lumen gentium möchte die Kirche, „indem sie dem Thema der vorausgehenden Konzilien nachfolgt, ihr Wesen und ihre allumfassende Sendung ihren Gläubigen und der gesamten Welt eindrücklicher erklären“ (LG 1,1).106 Schon allein an dieser Aussage lässt sich der epochale Unterschied und die Neuerung des Zweiten Vatikanums im Vergleich zu den beiden vorherigen Konzilien – dem Tridentinum (1545-1563) und dem Ersten Vatikanum (1869-1870) – erkennen. Die Kirche des Zwei-ten Vatikanischen Konzils hat sich ausdrücklich der Frage an sich selbst gestellt und sie ausführlich beantwortet. Das zeigt die Tatsache, dass das Zweite Vatikanum dem The-ma „Kirche“ nicht nur eine eigene dogThe-matische Konstitution gewidmet hat, sondern auch alle anderen Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen von der Frage über „Die