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Communio und Volk Gottes

2.1.6.2 Kirche als Volk Gottes

Im Unterschied zum vieldeutigen und notwendigerweise erklärungsbedürftigen Termi-nus „Communio“ als Leitidee des Konzils ist ein anderer Begriff im Rahmen der Kon-zilsrezeption wesentlich früher populär geworden: Kirche ist „Volk Gottes“. Erstaunli-cherweise wird diesem Begriff schon in den ersten Konzilskommentaren jene Deutung zugesprochen, die viele Jahre später von lehramtlicher Seite zur Erklärung der „Com-munio“ herangezogen wurde. Schon 1966 betont A. GRILLMEIER, dass der „Geist der Ganzheit wie auch der Wille des Konzils, die Einheit in Verschiedenheit, Verschieden-heit in EinVerschieden-heit in entsprechender Weise zu bejahen, […] am eindrucksvollsten im Kapi-tel ,Vom Volke Gottes‘ zum Ausdruck [kommt]. Ursprünglich sollte nur eine kurze Einleitung zum Abschnitt über das Bischofsamt vom Volke Gottes reden. Im Verlaufe der Diskussion wurde aber aus der Einleitung ein umfangreiches Kapitel. Den Konzils-vätern kam immer deutlicher zu Bewusstsein, dass auch Amt und Hierarchie im Ganzen der Kirche gesehen werden müssen.“633

Allein die Systematik der Kirchenkonstitution weist „Volk Gottes“ als wichtige Vorstel-lung der konziliaren Ekklesiologie aus: Das zweite Kapitel „Volk Gottes“ (Art. 9-17) folgt der Wesensbeschreibung der Kirche als „Mysterium“ im ersten Kapitel und ist den weiteren Kapiteln über die „hierarchische Verfassung der Kirche“ und „über die Laien“

vorangestellt. Die Tatsache dieses so betitelten zweiten Kapitels ist deshalb so bedeu-tend, weil sich in ihr eine Umkehrung der bisherigen Verhältnisse zeigt: Wie viele ande-re Termini in Lumen gentium ist auch die Rede von Kirche als „Volk Gottes“ nicht nur neu, sondern fußt auf biblischer Tradition, die lange Zeit in Vergessenheit geraten war und von den Konzilsvätern nun wiederentdeckt und als adäquate Charakterisierung der Kirche benannt wurde. Vor allem aber hat sich die Vorstellung von Kirche als „Volk Gottes“ im Lauf der verschiedenen Entwürfe zur Kirchenkonstitution gegen einen ande-ren Begriff durchgesetzt: „Sie hat die Idee von der Kirche als Leib Christi abgelöst, die im Anschluss an die Enzyklika ,Mystici Corporis‘ die katholische Ekklesiologie be-stimmt hatte, und die noch in den vorbereitenden Entwürfen für das Konzil im Zentrum stand. Während die Vorstellung vom Leib Christi in der Kirchenkonstitution lediglich noch in einem Artikel angesprochen wird (Nr. 7), und dies zusammen mit anderen

632 MÜLLER,Katholische Dogmatik, 581f.

633 GRILLMEIER,Eigenart der Konstitution, 147.

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schen Bildern von der Kirche, handelt das ganze zweite Kapitel dieser Konstitution über die Kirche als Volk Gottes.“634

Dass sich diese Konzeption durchsetzen konnte, zeigt besonders deutlich den Neuansatz des Zweiten Vatikanums. „Die stürmisch positive Rezeption der Lehre des Konzils von der Kirche als Volk Gottes hat wohl ihre Ursache darin, dass der Begriff des Volkes nach der Fixiertheit des Kirchendenkens im 19. Jahrhundert auf den Begriff der societas [perfecta] und das Analogon des Staates als wohtuend ,weit‘ empfunden wurde.“635 Die neue Weite der Beschreibung von Kirche als „populum Dei“ resultiert nicht nur aus ihrer Abkehr von vorkonziliaren statischen Kirchenverständnissen. Kirche als Volk Gottes vereint in sich mehrere Komponenten, die theologisch radikal sind, insofern sie zu den biblisch-patristischen Wurzeln der Kirche führen, die aber zugleich theologisch progressiv sind, indem sie dem Aggiornamento, dem konziliaren Neuaufbruch der Kir-che in Hinwendung zu den MensKir-chen und zur Welt entspreKir-chen. Gleich der erste Arti-kel LG 9 unter der Überschrift „Volk Gottes“ fasst diese Aspekte programmatisch zu-sammen:636

- Als Volk Gottes ist Kirche Gemeinschaft der Gläubigen. Der Begriff „Volk“ (lat.

populum) thematisiert die personalen und soziologischen Komponenten der Ein-heit, Vereinigung, Sammlung und Gemeinschaft. Auf einer zweiten Ebene meint er auch die Gleichheit aller Glieder des Volkes. Für die Kirche ist dieses neue Verständnis der fundamentalen Gleichheit aller Gläubigen – vor jeder weiteren

634 NEUNER,Ekklesiologie, 518. In den Jahrzehnten vor dem Zweiten Vatikanum kam in der Theologie zunehmend Kritik auf an einseitigen Vorstellungen von Kirche als societas perfecta. Im Zuge dieser Kritik und im Rückgriff auf biblische und patristische Vorstellungen wurde die Kirche als geistliche Wirklichkeit wiederentdeckt. Im Zentrum stand dabei die Aussage von der Kirche als „Leib Christi“, die im Anschluss an die Enzyklika „Mystici Corporis“ von Papst Pius XII. (1943) die Theologie wei-testgehend bestimmte. Gegen diese Neubesinnung war gerade in den beiden Jahrzehnten vor dem Konzil eingewendet worden, dass die Bezeichnung von Kirche als „Leib Christi“ wenig geeignet sei, der Tatsache einer sündigen Kirche gerecht zu werden und die (heils-)geschichtliche Entwicklung der Kirche darzustellen. Als weiterer Einwand gegen die „Leib Christi“-Theologie wurde die Gefahr gesehen, mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten der Glieder der Kirche herausstellen. Deshalb wurden in der Theologie der Vorkonzilszeit Bemühungen laut, den Bildbegriff „Leib Christi“ durch einen Sachbegriff, eine „Analogie“, zu ergänzen bzw. ersetzen. In der theologischen Diskussion dieser Zeit hat sich schließlich die Bezeichnung der Kirche als „Volk Gottes“ als ein nicht zu übergehender Aspekt der Wesensbeschreibung von Kirche etabliert. So konnte das Konzil auf diese Begrifflichkeit zurückgreifen, um von der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen zu spre-chen. Vgl. HÜNERMANN,Theologischer Kommentar, 279-281; PHILIPS,Geschichte der dogmatischen Konstitution, 146f; GRILLMEIER,A., Kommentar zum II. Kapitel der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, in: LThK.E 1, 176-209, 176-178.

635 MIGGELBRINK,Einführung, 35. Die Textgeschichte der Kirchenkonstitution stellt unter Beweis, wie sich die Faszination und Zustimmung zum Terminus „Volk Gottes“ für Kirche nach und nach unter den Konzilsvätern ausgebreitet hat. Am ersten Textschema von 1962, das mit dem „Wesen der strei-tenden Kirche“ einsetzte, kritisierte z.B. der Wiener Kardinal F.KÖNIG:„[…] außerdem ist es not-wendig, auch das Bild vom Volk Gottes als grundlegend für die Kirche einzuarbeiten, und es muss nicht nur die Heilsnotwendigkeit der Kirche für die einzelnen Menschen, sondern auch für die Menschheit und die Welt als solche, und zwar auch für die nichtgläubige Welt, geklärt werden“

(AS I/4, 132). Auch der deutsche Bischof E.VOLK bemängelte am ersten Kirchenschema die Ver-kürzung der Theologie auf das Motiv „Leib Christi“ und die geringe Bedeutung, die der Theologie des Volkes Gottes eingeräumt worden ist (vgl. AS I/4, 286f).

636 Vgl. GRILLMEIER,Kommentar zum II. Kapitel, 176f; HILBERATH,Zwischen Vision und Wirklichkeit, 27.

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Unterscheidung in Kleriker und Laien – bahnbrechend, bedeutet es doch eine Abkehr vom „ekklesiastischen Feudalismus“637 der vergangenen Jahrhunderte:

vorrangig ist nun die Berufung jedes einzelnen Getauften durch Christus und die Sammlung zur Gemeinschaft des Volkes Gottes, die den bisherigen pyramidalen Bauplan von Kirche (mit dem Papst an der Spitze und den Abstufungen der Kle-riker und der „Übrigen“ [Laien]) verwirft.

- Im Volk Gottes hat das Handeln Gottes Priorität. Die Gemeinschaft der Gläubi-gen ist von Gott – durch Christus im HeiliGläubi-gen Geist – berufen und erwählt (vgl.

LG 9,1) und zugleich auf Gott hin- und ihm zugeordnet. Erst durch ihre theolo-gische Komponente, das heißt durch ihren Gottesbezug und göttlichen Sen-dungsauftrag wird Kirche unverwechselbar.

- Als Volk Gottes steht Kirche in der Kontinuität der Heilsgeschichte von Israel zur Kirche (LG 9).638 Das Volk Israel ist Vorbild für die Kirche, das heißt, Kir-che ist unterwegs, sie ist ein Volk des Exodus, sie wird von Gott (durch die Wüste) geführt und führt zugleich das Heiligtum Gottes mit sich (im Zelt) (vgl.

LG 9,1f).

- Als messianisches Volk weist sie hin auf die Differenz zwischen der Kirche und dem Reich Gottes (LG 9,2).

- Als pilgerndes Gottesvolk (LG 8,4) hat Kirche dynamischen Charakter. Sie wird auf ihrem Weg von Gott geführt und ist zugleich zu ihm unterwegs.639 Pilger-schaft (peregrinatio) impliziert das Wagnis des Aufbruchs, also das Aggiorna-mento des Zweiten Vatikanums, und das Unterwegssein und Suchen nach dem rechten Weg bzw. den angemessenen Strukturen hin zu Gott (vgl. UR 6).

Die durch das Zweite Vatikanum revitalisierte Begrifflichkeit und Theologie von der Kirche als Volk Gottes wurde in der Konzilsrezeption begeistert und fasziniert aufge-nommen. Das Neue an dieser Terminologie, der Gedanke des „Volkes“, regte förmlich an zu (basis-)demokratischen Forderungen für die Struktur der Kirche.640 Und es „dau-erte einige Zeit bis der Rezeptionsschwerpunkt vom Grundwort Volk auf das spezifizie-rende Bestimmungswort ,Gottes‘ fiel und damit die Tür zum Verständnis der Kirche als communio und als Sakrament wieder aufgeschlossen wurde.“641 Bis heute erscheinen Communio und Volk Gottes als konkurrierende Begrifflichkeiten in der Ekklesiologie

637 GRILLMEIER,Eigenart der Konstitution, 144.

638 Diese Metaphorik kann zum Verhängnis werden, wenn sie eine Absolut- und Ineinssetzung von Kirche und dem „wahren“ Volk Israel bedeuten würde. Denn die Exklusivität der Kirche Christi als Volk Gottes des Neuen Bundes würde dem – gegenwärtigen – Judentum die Existenz als Volk Israel und Volk Gottes (des Alten Bundes) absprechen. Eine solche antijudaistische Ekklesiologie wird in der jüngeren Theologie aber mehrheitlich abgelehnt. Vgl. MIGGELBRINK,Einführung, 38-42.

639 Das Konzil nimmt in LG 8,4 ein Zitat des Kirchenvaters Augustinus auf: „Die Kirche ,schreitet zwischen der Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin‘“ (Civ.

Dei, XVIII,51,2 [PL 41,614]). Vgl. LG 8,4, Anm. 14.

640 Das Schlussdokument der Außerordentlichen Bischofssynode von 1985 propagiert Communio als

„Leitidee“ des Konzils nicht zuletzt zur Zurückweisung der bis dahin vorherrschenden Volk-Gottes-Theologie. Vgl. das Kapitel vorher in dieser Arbeit (2.1.6.1 Kirche als Communio).

641 MIGGELBRINK,Einführung, 36.

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und ihre Relation, also die gegenseitige Zu-, Unter- oder Überordnung wird unter-schiedlich gehandhabt.642 Im Vergleich zu Communio als – abstrakter – „Leitidee“ des Konzils bietet die Charakterisierung der Kirche als Volk Gottes mehr Anknüpfungs-punkte für die Strukturierung des Heilssakraments Kirche. Dies resultiert allerdings weniger aus der Terminologie Volk Gottes als aus der Tatsache, dass das zweite Kapitel von Lumen gentium (Art. 9-17) unter dieser Überschrift ein theologisches Strukturpro-gramm entfaltet. Die folgenden Strukturelemente der Kirche, gemeinsames Priestertum (2.1.6.3) und gemeinsamer Glaubenssinn (2.1.6.4) stellen dies unter Beweis.