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und das Problem der Auswahl der Inhalte des Lehrens und Lernens

C) Sportdidaktische Konstruktionen (Forschung, Theoriebildung, Lehrerbildung)

5.3 Kategoriale Bildung in bewegungskulturellen Feldern

Auf dieser Grundlage ist danach zu fragen, welche leiblichen Welt- und Selbst-begegnungen anhand kulturell hervorgebrachter und didaktisch arrangierter Be-wegungspraxen zu ermöglichen und anzuregen sind, mit denen sich die Heraus-bildung und fortdauernde Entwicklung jeweiliger Subjektivität in persönlichen Kompetenzen, Bedürfnissen, Haltungen und kulturellen Identitäten anregen und sich gleichzeitig kulturspezifi sche Bewegungspraxen und -formen hervorbringen lassen.

Den bewegungskulturellen Praktiken des Sports, des Spiels oder des Tanzes, die als ästhetische Bewegungspraktiken zu verstehen sind, kommt hier eine ganz eigene Bedeutung zu. Im Unterschied zu Alltagsbewegungen, für die es lebens-weltliche Realgründe gibt und die in ihrer instrumentellen Bedeutungsstruktur darauf zielen, bestimmte Zwecke zu erfüllen, entwickeln ästhetische Bewegungs-formen eine gewisse Eigenweltlichkeit mit eigenen Formlogiken und einem ex-pliziten, wertrationalen Gegenwartsbezug. Sie bringen gewissermaßen eigene kontingente Wirklichkeiten hervor, die aufgrund ihrer zugespitzten Qualitäten im sinnlich-konkreten Erleben reizvolle und anspruchsvolle Anlässe bieten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sich als Akteur verwickeln zu lassen.

Insgesamt vermittelt sich durch diese Art der Verwicklung mit bewegungs-kulturellen Praxen in den persönlichen Erfahrungsstrukturen ein fundamentales Bewusstsein für die Diversität lebensweltlicher Bezüge und für die prinzipielle Relativität und Bedingtheit des menschlichen Daseins und Erlebens. Es wird deutlich, dass individuelle Wirklichkeiten keine absoluten Gegebenheiten sind, sondern einerseits durch die subjektiven Perspektiven eigener Wahrnehmung und

die Spezifi k eigener Formungsweisen und andererseits durch die kontingenten kul-turellen Gegebenheiten geprägt sind. Insofern wird hier das kontingente Moment von Lebensentwürfen insgesamt refl exiv, zu denen es immer auch Alternativen gibt (vgl. Seel, 2007).

In ihrer Eigenweltlichkeit sind sie aber auch stets auf die Welt bezogen, als deren Resonanzraum für die Regelhaftigkeiten, die sozialen Gefüge und die kul-turellen Muster sie fungieren (vgl. Seel, 2007). Sie sind gleichsam prägnante Mo-delle für sozio-kulturelle Gegebenheiten deren Regelmäßigkeiten ausagiert und in mimetischen Prozessen erschlossen werden (Alkemeyer, 1997). Ähnlich der Malerei, Musik oder Literatur vermitteln sie gemeinschaftliche Erfahrungshinter-gründe, deren man sich auch gemeinschaftlich vergewissern und über die man sich kommunikativ austauschen kann (vgl. Seel, 2007). Dabei werden Möglich-keitsräume erkundet, Fiktionen ausagiert und insgesamt die eigenen persönlichen Grenzen thematisiert. Es muss unter der Bildungsperspektive in der ästhetischen Praxis des Bewegens gerade darum gehen, sich von vertrauten Ordnungen zu lö-sen und gegebene Habituskonzepte zu verunsichern, um neue Ordnungen hervor-bringen zu können und auch für sich selbst neue, prägnante Bewegungsweisen zu entwickeln und in ihrer Werthaltigkeit zu erschließen. Vor dem Hintergrund des sinnlichen Erlebens der je persönlichen Verstrickung in soziale Strukturen, gesell-schaftliche Erwartungskomplexe und kulturelle Verhaltensmuster bieten ästheti-sche Bewegungspraxen Gelegenheiten, eigene Interessen zu entwickeln und aus-zuloten, persönliche Präferenzen herauszubilden und zu refl ektieren, Sicherheit in ambivalenten und intransparenten Situationen zu gewinnen und damit insgesamt eigene Identitätsmerkmale zu spezifi zieren und bestimmte Resonanzen im eigenen Interaktionsumfeld hervorzurufen.

In den ästhetischen Bewegungspraktiken des Sports, des Spiels, des Kämpfens oder des Tanzes sind um ihrer besonderen Werthaltigkeit willen Zuspitzungen ins Außergewöhnliche kultiviert, die im individuellen Handeln die konstitutive Ungewissheit fokussieren und gewährleisten und die eine besondere sinnliche, affektive und imaginative Prägnanz entwickeln. Damit entstehen Brüche zu den routinisierten und profanen Erlebnissen des Alltags und der Kontinuität eigener Erfahrungshintergründe und es eröffnet sich die ästhetische Perspektive, ihren Vollzug selbst zum Thema des Erlebens und der Erfahrung werden zu lassen.5 In 5 Die Perspektive, spielerisch-sportliches Bewegen aus einer ästhetiktheoretischen

Per-spektive als ästhetische Bewegungspraxis zu begreifen und als ästhetische Dimension von Bildung zu begreifen, ist bereits in früheren Arbeiten des Autors ausführlicher vorgestellt worden (Bietz, 2005, 2010, 2011; Scherer & Bietz, 2013). Hier soll der Hin-weis auf dieses grundlegende Charakteristikum des spielerisch-sportlichen Bewegens genügen.

der ästhetischen Perspektive können die jeweiligen Formlogiken bewegungskul-tureller Praktiken in fundamentalen Differenzen anschaulich werden, wie sie sich beispielsweise zwischen Alltagsbewegungen und ästhetischen Bewegungsformen, zwischen Anforderung und Können, zwischen Vorstellung und Realisierung, zwi-schen Eindruck und Ausdruck, zwizwi-schen Formungswillen und Formungswider-ständigkeit, zwischen Habituskonzepten, zwischen Ästhetisierungsformen bzw.

Stilisierungsformen oder zwischen sinnlichen Artikulationssystemen (optisch, auditiv, haptisch, kinästhetisch) in ästhetischen Erfahrungen vermitteln können (vgl. auch Franke, 2003).

Sollen die bewegungskulturellen Inhaltsfelder in ihren spezifi schen Struktur-momenten kategorial erschlossen werden, so muss dies in Anbetracht der aufge-zeigten Spezifi k in einer handelnden Auseinandersetzung geschehen, in der sich die charakteristischen inneren Formen der Inhaltsfelder in der oben aufgezeigten Weise ausprägen. Es sind also gerade nicht sprachlich-begriffl iche Kategorien, nach denen sich Bewegungswelten gestalten und die es zu erschließen gilt, sondern es sind die Formungsweisen der leiblichen Dimension des Bewegens, die Klafki in Körpergefühlen gegeben sieht. Sie bieten auch die bildungsrelevanten Potenzi-ale der „fruchtbaren Momente“ im Feld der Bewegungskultur. Klafki erscheint es daher naheliegend,

„… die Wirkungs- und Erscheinungsweisen des „fruchtbaren Moments“ zu unter-suchen und pädagogisch auszuwerten, den jeder Turner von den Augenblicken her kennt, da nach langem Bemühen eine bestimmte Übung plötzlich gelingt, wobei man im gelungenen Vollzug unmittelbar der spezifi schen Bewegungsstruktur (im

„Körpergefühl“) inne wird, die der betreffenden Übung zugrunde liegt und die dann gewöhnlich „ein für allemal“ gewonnen ist“ (Klafki, 1964, S. 457).

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