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der Bildung 8

8.1 Bildung als logisches Problem

Bildung hat es mit der Bildung von Personen zu tun. Es geht dann – letztlich und insgesamt – um denjenigen Entwicklungsprozess, in dem Personen Persönlich-keiten werden. Der äußerst heikle Punkt dieses Grundverständnisses liegt in dem kleinen Wörtchen „werden“. Ist damit gemeint, dass Personen eine Zeitlang noch keine Persönlichkeiten waren und sich im Verlauf ihrer Bildungsbiographie hin zu einer Persönlichkeit entwickeln? Oder ist ernst zu nehmen, dass wir gelegentlich darauf bestehen, dass auch schon Säuglinge kleine Persönlichkeiten sind (was sich oft etwa im direkten Vergleich von Zwillingen zeige)? Dann könnte der Bildungs-prozess nur darin bestehen, etwas zu gestalten, was schon gegeben ist – in der schönen Formulierung von Plessner (1928, S. 310): sich zu dem erst machen zu müssen, was man schon ist.

Bildungstheorien geraten hier ins Schlingern. Sie wollen zum einen an der In-tuition festhalten, dass Säuglinge in einem ganz anderen Sinne Persönlichkeiten sind als Erwachsene, denn letztere sind eben, wie wir treffend sagen, ausgebildete Persönlichkeiten. Zum anderen aber besteht jede ernsthaft an Emanzipation inte-ressierte Bildungstheorie darauf, dass jene Entwicklung hin zu einer ausgebildeten Persönlichkeit nur ein Prozess der Selbst-Bildung sein kann. Emanzipatorische Bildungstheorien beharren darauf, dass einem Wesen seine Persönlichkeit nicht beigebracht, also nicht von Außen eingeformt werden kann (Bietz, 2005, S. 87), sondern dass der Prozess der Persönlichkeitsbildung nur selbsttätig vollzogen werden kann. Insbesondere könne es also keinen Umschlagpunkt geben, bis hin zu dem ein Wesen noch keine Persönlichkeit sei, um ab dann erst Persönlich-keit zu werden. Wenn es denn tatsächlich eine Selbstbildung ist, dann gestalten sich Wesen, die schon Persönlichkeiten sind, zu ausgebildeten Persönlichkeiten.

Emanzipatorische Bildungstheorien müssen daher an beiden Intuitionen zugleich festhalten. Das sachliche Problem liegt darin, dass dies ein logisches Zugleich ist – ein nur die Sache meinendes ‚einerseits und andererseits‘ oder ‚sowohl als auch‘

ist keine Lösung, sondern reformuliert nur die Frage, in welchem logischen Ver-hältnis die beiden Aspekte zueinander stehen. Plessner spricht daher an der schon zitierten Stelle von einer „absoluten Antinomie“. So sehr das zu prüfen wäre, so klar ist doch, dass eine absolute Antinomie ein anderes logisches Verhältnis ist

als eine Komplementarität, ein anderes als die berühmten zwei Seiten derselben Medaille, ein anderes als der berüchtigte Verweis auf ein dialektisches Verhält-nis ohne nähere Angabe, was das heißen soll etc. pp. So oder so aber gilt: Nur ein Modell dieses logischen Zugleich sichert den begriffl ichen Unterschied von assistierter Bildung und Dressur,4 denn nur ein logisches Zugleich verhindert die Figur, dass da jemand eine Zeitlang noch nicht Persönlichkeit ist, um dann erst Persönlichkeit zu werden. Ein Modell, in welchem logischen Verhältnis beide Aspekte zueinander stehen, ist immer schon im Gebrauch und kann nicht nach-träglich erst herangetragen werden.

Diese logische Dimension ist ein ganz eigenbedeutsames Problem, das nicht allein durch Bezugnahme auf Konzepte von Bildung, Entwicklung, Persönlichkeit gelöst werden kann – entfernt damit vergleichbar, dass man die Bedeutung des Sat-zes ‚Alle Menschen sind sterblich‘ nicht allein durch Klärung der Konzepte von Mensch und Sterblichkeit klären kann, sondern dafür auch die logische Form von All-Sätzen klären muss.5 In diesem Sinne ist das Problem des logischen Zugleich auch sehr viel allgemeiner und begegnet auch andernorts. Um nur ein einziges weiteres Beispiel zu nennen, ebenfalls aus dem Kontext von Bildungstheorien:

Klafki (1959a; ausführlich Klafki, 1959b) hat dafür argumentiert, dass sowohl formale als auch materiale Bildungstheorien unbefriedigend bleiben, gleichwohl aber jeweils einen wichtigen Aspekt der Sache herausstellen, den es zu bewahren gelte. Die von ihm angezielte kategoriale Bildung ist geradezu mit dadurch de-fi niert, eine ‚Aufhebung‘ jener Bildungstheorien zu sein. Was aber soll dabei Auf-hebung heißen? Schon 1959 war die Theorielandschaft offenbar so gebaut, dass es bereits vielfältige Ansätze gab, die sogenannten Einseitigkeiten der materialen und der formalen Bildungstheorien zu überwinden, ohne ihre Erkenntnisse preis geben zu müssen. Angesichts dieser Situation bleibt Klafki höfl ich in der Form, wird aber geradezu böse in der Sache:

4 Der Begriff der assistierten Bildung macht eine Anleihe bei Graumann (2011); es soll damit gesagt sein, dass der Prozess der Selbstbildung kein Prozess ist, der von selbst geschieht und in der Moderne, nach der Entdeckung der Kindheit, auch nicht mehr von selbst geschehen soll, sondern wesentlich eines Schutzraumes und der Unterstützung bedarf, um sich gut zu vollziehen. Aber im Unterschied zur Dressur ist und bleibt es eine Unterstützung bei der Selbstbildung.

5 Zur Bedeutung dieses Satzes gehört, keine Induktion über viele/alle einzelne Men-schen zu sein, sondern ein Konditionalsatz zu sein: Falls x ein Mensch ist, dann ist x sterblich.

„Nun könnte man versucht sein, die Einseitigkeit jedes einzelnen Ansatzes durch die

‚Synthese‘ aller vier Aspekte im Sinne einer Zusammenfügung bzw. einer gegen-seitigen Ergänzung überwinden zu wollen. In der Tat ließe sich aus der Bildungs-theorie der letzten 150 Jahre, vor allem aus den letzten Jahrzehnten, eine geradezu ermüdende Fülle von Formulierungen anführen, die in diesem Sinne über gefähr-liche Vereinseitigungen hinauskommen wollen.“ (Klafki 1959a, S. 38)

Klafki kritisiert solche Syntheseversuche als der Sache äußerlich bleibend, denn keine „Ergänzung“ löst das jeweilig diagnostizierte Problem – sei es das Problem des zu Ergänzenden noch das Problem des ergänzten Teils:

„In den erwähnten Synthese-Versuchen wird – bewußt oder nicht bewußt – doch im Grunde immer noch an der Vorstellung festgehalten, es gäbe so etwas wie z.B. eine

‚formale Bildung‘, funktional oder methodisch verstanden, die zwar an gewissen Inhalten gewonnen wird, die aber dann als solche doch etwas von aller Inhaltlichkeit gelöstes sei, ‚geistige Kraft‘ oder ‚methodisches Mittel‘; und eben deshalb müsse diese formale Bildung durch eine materiale ergänzt werden. Die Unhaltbarkeit sol-cher Vorstellungen zu erweisen, war das Anliegen unserer Kritik.“ (ebd., S. 39) Auch heute hat sich das logische Problem keineswegs erledigt. Insofern unter-scheiden sich Theorien, die die Persönlichkeitsentwicklung als Bildungsprozess begreifen, auch und vor allem darin, ob sie bewusst oder nicht bewusst eine Syn-these jener beiden Intuitionen konzipieren oder aber ob und wie sie ein logisches Zugleich jener Aspekte denken. Wieder nur zwei Beispiele für die anhaltende Virulenz des sachlichen Problems:

Das erste Beispiel ist das Konzept von Perfektibilität oder Bildsamkeit. Insbe-sondere Benner und Brüggen haben im Anschluss an Rousseau den dynamischen Charakter dieser Grundlage moderner Bildungstheorien herausgestellt (Benner &

Brüggen, 1996; Brüggen, 1998). Perfektibilität ist der Gegenbegriff zu Perfektion, weil es nicht so sein soll, Personen auf einem erreichten Stand ihrer Entwicklung zu arretieren. Immer ist modern-emanzipatorisch zu unterstellen, sich noch weiter und anders entwickeln zu können. Der zweite zentrale Aspekt ist damit schon mit-gesagt, denn bei einem dynamischen Begriff von Bildung ist nicht zu legitimieren, dass Bildung ein exklusives Privileg sein sollte. Bildsamkeit ist vielmehr bei allen, die als Person gelten, zu unterstellen. Es ist naheliegend, für diesen dynamischen Charakter das Attribut der Unabschließbarkeit der Entwicklung zu wählen. Aber dadurch kauft man sich die schlechte Unendlichkeit eines unbestimmten Immer-weiter gleich mit ein. Damit ist der konzeptionelle Konfl ikt eingebaut. Bildung ist, eigentlich, gerade kein formalistisches Konzept eines unabschließbaren Immer-weiter, sondern, wie Brüggen (2015, S. 79) nachdrücklich herausstellt, ein „Weg

von sich selbst zu sich selbst“ (Simmel), womit Simmel „an das von Herder über Hegel bis Humboldt und Goethe entwickelte Prozessschema“ anknüpfe. Aber sofort ‚zwingt‘ die Betonung des dynamischen Charakters dazu, jenes logische Zugleich aufzugeben. Aus einem logischen Zugleich wird ein Ablauf in der Zeit und damit typischerweise eine „spiralförmige Weise“ der Entwicklung (ebd.). – Spaemann (1971) hat den Finger in diese Wunde gelegt, aber er ist im Allgemeinen nicht recht gehört oder verstanden worden, da sich an Emanzipation interessierte Theoretiker nicht gerne als „Emanzipationsideologen“ bezichtigen lassen. In der Sache ist sein Einwand schlicht zutreffend: Wer sich die Offenheit der Entwick-lung nur als Unabschließbarkeit und unendliche Annäherung – also als Ideal – denken kann, merkt nicht, dass das eigene Anliegen torpediert wird (vgl. unter Berufung auf Lange, 1947 und auf Zdarzil, 1997, aber ohne Verweis auf Spae-mann, sehr nachdrücklich dazu dann Benner, Fischer, GatzeSpae-mann, Göstemeyer &

Sladek, 1998). Wenn alle immer nur mündig werden, dann ist niemand mündig, aber alle hängen am Tropf dieser Ideologen, die ja immerhin schon wissen, dass es immer weiter gehen müsse mit der Entwicklung. „Emanzipationsideologen sind so schließlich noch die einzig Mündigen. Sie programmieren die Lernprozesse, denen sie die anderen unterwerfen“ (Spaemann, 1971, S. 321). Emanzipatorische Bildungsprozesse benötigen ein beharrendes, ein substantielles Moment und ste-hen vor der Aufgabe, durch ein logisches Zugleich (statt einer Spirale) dieses sub-stantielle Moment nicht zu substantialisieren.6

Das zweite Beispiel ist das sogenannte pädagogische Paradox. Das hier ver-handelte Ausgangsproblem wird dort eben als ein Paradox gefasst. Das eman-zipatorische Konzept assistierter Bildung wird so formuliert, dass die für

Bil-6 Gerade auch in Bildungstheorien mit emanzipatorischem Anliegen ist jenes Schlin-gern zu beobachten. In aller Regel deshalb, weil dort die Notwendigkeit eines sub-stantiellen Moments bewusst ist. Aber geradezu deshalb wird dann nicht der Bildungs-vollzug, sondern eine Fähigkeit oder ein Potential des sich bildenden Subjekts zum Ausgangspunkt genommen. Bietz (2005, S. 87) spricht von einer „potentiellen“ Auto-nomie, die Voraussetzung sei, nicht aber Ergebnis; bei Meinberg (2010, S. 44) meint Bildung „die Fähigkeit des Individuums, sich, wie Humboldt formulierte, als eine

‚Eigenthümlichkeit‘ zu bestimmen“. Wann immer man Möglichkeiten zum Ausgangs-punkt nimmt, benötigt man ein zweites, in der Regel nicht benanntes, Prinzip, um zu erklären, dass sich das Potential aktualisiert. – Umgekehrt ist das Person-Buch von Spaemann (Spaemann, 1996) zwar unverzichtbar, weil es heute als einer von wenigen Texten zum Thema darauf beharrt, dass Personalität ein Status und kein Merkmal ist; aber Spaemann kann oder will dann nicht verhindern, jenes Beharrungsmoment in einer naturrechtlichen Vor-Gabe zu sehen – mit angebbaren Preisen, z.B. mit dem Preis von homophoben Aussetzern. Es ist nunmehr gleichsam naturrechtlich verbürgt, dass die Ehe „die Geschlechterdifferenz voraus[setzt]“ (ebd., S. 47).

dungsprozesse nötigen Unterstützungsmaßnahmen als Fremdbestimmungen zur Selbstbestimmung konzipiert werden. Betzler (2011, S. 940) spricht vom „Rätsel der Erziehung zur Autonomie“ und listet die vier Annahmen auf, die zusammen dieses Rätsel aufgeben – „kurz: Wie kann Autonomie mittels Fremdbestimmung möglich werden?“ (ebd.). Das Rätsel kommt in dieser Form aber alleine durch die dortige Annahme (i) zustande, dass Kinder nicht autonom sind, und deshalb erst lernen müssen, autonom zu werden. Diese Prämisse ist unvermeidbar, wenn man Personalität und damit Autonomie als eine Eigenschaft, als ein Merkmal konzi-piert, über das autonome Wesen verfügen, nicht-autonome Wesen aber nicht. Diese Grundlage ist dort völlig unstrittig und undiskutiert (ebd., S. 937-940). Bei der

‚Lösung‘ des Rätsels fällt es dann aber auf, und es bedarf „einer Unterscheidung zwischen Autonomie als Zustand und Autonomie als Fähigkeit“ (ebd., S. 940). Ein Kind kann demzufolge „autonom werden, wenn es seine eigenen Fähigkeiten zur Autonomie aktualisiert“ (ebd., S. 941). Man muss nicht weiterlesen, um zu wissen, dass auf dieser Basis das Spaemann-Problem nicht lösbar ist, sondern dass dort ausschließlich die wohlmeinenden Eltern – genannt: „bei näherer Betrachtung“

(ebd., S. 940) – wissen, wann eine „Form der Einmischung autonomie-unterminie-rend“ (ebd.) ist und wann nicht. Bei ‚Undankbarkeit‘ etwa weiß man dann schon, dass da ein Kind seine ‚eigene‘ Fähigkeit zur Abgrenzung von den Eltern noch nicht richtig verstanden hat.

Koßler (2015) hat vorgeschlagen, eben aufgrund dieses logischen Zugleichs be-reits die Doppelrede von Person und Persönlichkeit aufzugeben, um stattdessen (wieder) von Charakter zu reden. ‚Charakter‘ ist das Zugleich von je schon konkret bestimmt sein und Entwicklungsvollzug. In der Sache folge ich ihm da gerne7 – ich werde hier und jetzt gleichwohl weiter von Person und Persönlichkeit reden, gerade weil es mir darauf ankommt, die Problemlage herauszustellen, auf die Koß-lers Vorschlag eine Antwort sein möchte.

Das Ausgangsproblem, auf das dann im Folgenden eine praxistheoretische Les-art von Unverfügbarkeit der Bildung eine Lösung sein will, lautet also auf eine Formel gebracht: Es gibt einen fulminanten Unterschied zwischen den beiden Formeln

1. Ein Bildungsprozess liegt darin, dass sich Personen zur Persönlichkeit bilden.

2. Ein Bildungsprozess liegt darin, dass sich Personen als Persönlichkeit bilden.

Das Problem stellt sich freilich nur bei emanzipatorischem Anliegen. Nur die For-mel ii) wahrt den emanzipatorischen Gehalt der Selbst-Bildung; wer nicht bereit 7 Vgl. in der Sache auch Schürmann (2014b), dort im Kontext von Konzeptionen von

Menschenwürde, aber auch dort ohne Rückgriff auf den Begriff des Charakters.

ist, der Logik und Sache nach zwischen jenem zur und jenem als zu unterscheiden, der kann begriffl ich nicht mehr zwischen Erziehung und Dressur bzw. Abrichtung unterscheiden, sondern nur noch beteuern, dass man Erziehung aber doch gar nicht als Dressur meine. Denn so jemand sagt, dass es eine Zeitlang Fremdbestimmung gibt, die dann erst in Selbstbestimmung umschlägt – also sagt so jemand, dass Er-ziehung eine Zeitlang Dressur unter einem freundlicheren Titel zu sein hat, damit sich Selbstbestimmung einstellen könne.