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Irritation und Ungewissheit 6 im Sport und im Sport- Sport-unterricht

im Sportunterricht?

9.2 Irritation und Ungewissheit 6 im Sport und im Sport- Sport-unterricht

9.2 Irritation und Ungewissheit

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im Sport und im

Regeln dienen im (Spiel- und Wettkampf-) Sport dazu, den Erfolg dieses Könnens und Leistens absichtlich zu verunsichern, indem sie Chancengleichheit zwischen Wettkampfgegnern oder Mannschaften im Spiel herstellen und damit ungewiss bleibt, wer den Wettkampf bzw. das Spiel gewinnen wird – und genau daraus er-wächst die Spannung desselben. Auch Prohl zeigt in einem Beitrag zur Anthro-pologie der Kontingenz des Sports, dass es in der Natur des (Wettkampf-) Sports als kultureller Institution liege, Kontingenz systematisch zu steigern und (hier in Rückgriff auf Seel, 1995) sogar zu feiern, statt sie zu reduzieren und zu vermei-den – er formuliert als „[…] ein wesentliches, wenn nicht das entscheivermei-dende kon-stitutive Prinzip des Sports: Sportlicher Wettkampf ist organisierte Unsicherheit (Kontingenz)“ (2012, S. 63, Hervorheb. i. Orig.). Mit einem (zunächst noch gewag-ten) Rückbezug auf die Ausführungen Kollers: Die Möglichkeit der Erfahrung von Unsicherheit, Kontingenz oder Ungewissheit und mit ihr das Widerfahren von Irritationen und ggf. auch Krisen ist im Sport gewollter, gleichsam selbstverständ-licher Ausgangspunkt des Handelns.

Aus der Perspektive eines transformatorischen Bildungsbegriffes könnte man im Anschluss daran argumentieren, dass mit dem (freiwilligen!) Betreten einer Sporthalle schon ein bildungsrelevanter Akt vollzogen werde: Indem ich mich überhaupt auf die Möglichkeit der Verunsicherung meines Handelns im Sport, auf die Ungewissheit ob ich das Tor treffe, ob ich das Spiel gewinne, ob mir der Sprung über den Kasten gelingt, einlasse, begehe ich bereits einen Akt der potentiellen Krisenerfahrung und damit auch der potentiellen Selbstüberschreitung7 (Tamboer, 1997; Leist, 2001) und Transformation – allerdings in einem geschützten, „un-ernsten“, spielerischen Rahmen.8 Hier wird die Lesart vorgeschlagen, dass im Sport an und mit der Grenze der Selbstüberschreitung bzw. der Transformation gespielt werden kann, dass hier ein (bildungsrelevantes) Handeln auf Probe oder ein „als-ob-(es-ernst-wäre)-Handeln“ möglich ist: Ich riskiere im Spiel das Ver-lieren, ich setze mich im Wagnis der Gefahr des Scheiterns aus – aber das Spiel, das Wagnis ist durch seine Situativität und Eigenweltlichkeit gekennzeichnet und damit begrenzt.

7 Zum Begriff der Selbstüberschreitung vgl. Tamboers Differenzierung von direkter, erlernter und erfinderischer Überschreitung (1997).

8 Damit trifft Bucks Konzept der „negativen Erfahrung“ im Sport so nicht mehr zwin-gend bzw. anders zu: Erwartungshorizonte werden im Sport schon in der Aussicht in eine Situation „mit hineingenommen“, enttäuscht werden zu können. Es liegt also bereits im Erwartungshorizont von Athlet/innen, möglicherweise enttäuscht werden zu können, zu verlieren, Misserfolg zu haben. Im Sport, so die These, ist der Ausgang des Handelns von (potentiellen) Krisenerfahrungen das „Normale“ (vgl. hierzu Seel, 1995).

Diese Lesart scheint zunächst im Widerspruch zu Waldenfels‘ Verständnis von Fremdheit als Widerfahrnis zu stehen (1997, S. 19), die als solche nicht verfügbar ist oder hergestellt werden kann. Die dem Sport zugrunde liegende „Paradoxie von Sicherheit und Ertragsverlust“ (Tenbruck, 1978, S. 112; zit. n. Prohl, 2012, S. 60) vermag diesen scheinbaren Widerspruch jedoch aufzulösen: Während funktiona-les bzw. zweckrationafunktiona-les Bewegungshandeln9 im Alltag darauf ausgerichtet ist, möglichst sicher zum Erfolg zu kommen, die Zielgerichtetheit des Handelns also i.d.R. einer Prozessorientierung übergeordnet wird, stehen in den kulturellen bzw.

wertrationalen Bewegungshandlungen des Sports Zielgerichtetheit (Zukunfts-orientierung: sich verbessern, etwas Neues können, gewinnen) und Prozessori-entierung (Gegenwartsbezug: Freude am Tun, Bewegungssensationen, Spannung erleben) in einem anderen Verhältnis. Für den Sport gilt:

„In dem Maße, wie der Mensch sich erfolgssichere Handlungsmuster aufbaut, ver-liert das Handeln seinen Eigenreiz als Handeln und entwertet sich subjektiv der Er-trag. Der Handelnde bezahlt die Erfolgssicherheit mit Monotonisierung und Gratifi -kationsverfall.“ (ebd.)

Sowohl die Ungewissheit des Gelingens als auch die Ungewissheit der Widerfahr-nis von Freude am Tun sportbezogenen Handelns ist damit in die Logik dieses Handelns selbst bereits eingegossen: Sport beinhaltet grundsätzlich ein besonderes Potential des Sich-Fremd-Werdens, (vgl. Scherer & Bietz, 2013, S. 28ff.), der Er-fahrung des Ungewissen, der Widerfahrnis einer Krise – möglicherweise aller-dings einer durch die spielerischen Charakter des Sports „domestizierten“ Krise, wie auch Müller-Roselius (2009) sie im Zusammenhang fachdidaktischer Über-legungen konzipiert.

Folgt man der bisherigen Argumentation, dann erscheint Sport zunächst als eine Möglichkeit zum „Spielen“ an der Grenze der Selbstüberschreitung bzw. der Transformation, als ein Prototyp der Wählbarkeit des Aufsuchens/Sich-Einlassens auf oder eben des Nicht-Aufsuchens/Verweigerns potentieller Irritationen und Krisenerfahrungen. Ehni spricht hier von Spiel und Sport als „existenziell ent-lastetem Spielfeld“ des Erlebens und Handelns (2004, S. 48). Habe ich mich aller-dings erst einmal in ein Spiel, einen Wettkampf, in ein Wagnis hineinbegeben, so kommt diesem innerhalb der Eigenweltlichkeit des Sports der Ernstcharakter zu, der für subjektiv bedeutsame Krisenerfahrungen konstitutiv ist.

9 Zur Differenzierung von funktionalem und kulturellem Bewegungshandeln vgl. Prohl

& Scheid (2012, S. 25ff.); analog dazu zweck- vs. wertrationales Bewegungshandeln bei Scherer & Bietz (2013, S. 24ff.).

9.2.2 Irritationsmomente und Ungewissheitssituationen im Sport unterricht als „krisenhafter“ Anlass für Bildungs-prozesse?

Im Unterschied zu den meisten Situationen des Sports betreten die Schüler/innen im Sportunterricht die Sporthalle nicht immer freiwillig. Zumindest die Teilnah-me am Sportunterricht ist eben nicht „wählbar“. Diese Paradoxie des Schulsports beschreibt Prohl (2010, S. 99ff.) dahingehend, dass der subjektiven Sinnhaftigkeit und der für ästhetisches Handeln notwendigen Freiwilligkeit des Sporttreibens im schulischen Regelsportunterricht ein Pfl ichtcharakter übergestülpt würde. (Wie) kann es nun trotzdem gelingen, das o.g. Potential des Sports zum „Spiel an der Grenze der Selbstüberschreitung“ im Sportunterricht zu nutzen?

Eine Möglichkeit zum Umgang mit dieser Paradoxie scheint uns darin zu lie-gen, den Unterricht so weit zu öffnen, dass er tatsächlich und für die Schüler/

innen unmittelbar erfahrbar Freiräume enthält; Freiräume, die zwar nicht die Teil-nahme am Sportunterricht offenlassen, aber zumindest innerhalb des Unterrichts-geschehens die Möglichkeit freiwilligen Sich-Hinwendens zum Unterrichtssetting auf eine je individuelle Art und Weise zulassen. Eine solche Freiwilligkeit kann dann entstehen, wenn Alternativen zum Sich-Hinwenden sanktionsfrei möglich sind, bspw. ein erst-mal-nur-Zuschauen oder passiv-Bleiben, ja sogar ein Sich-Ab-wenden einen geduldeten Raum fi ndet. Hier wird deutlich, dass ein irritations- und ungewissheitsfreundlicher Unterricht Rahmenbedingungen herstellen muss, die Momente der Fremdbestimmung im Hintergrund halten und lockende Neugierde wachrufen. Aus der Wagnispädagogik ist in diesem Zusammenhang die Bedeu-tung der Aspekte soziale Eingebundenheit, entspannte Atmosphäre und Freiraum von Leistungsdruck bekannt (vgl. Neumann, 2009).10

Wir gehen nun davon aus, dass Sport als Fach, dessen Gegenstand nicht nur ästhetischer, sondern auch leiblicher Natur ist, ein besonderes Potential bereithält, Schüler/innen „aus der Reserve zu locken“ und zum vertieften Sich-Einlassen auf Irritierendes, Ungewisses zu bewegen. Zu diesem Potential trägt die unter Punkt

10 Eine solche Gewährung von Freiräumen schließt die Möglichkeit ein, dass diese von Schüler/innen „ausgenutzt“ werden, um sich den Anforderungen des Unterrichts-geschehens zu entziehen. Aber sie stellt letztlich eine konsequente Anerkennung der Tatsache dar, dass Bildungsprozesse eben nicht herstellbar sind, im pädagogischen Kontext die „prinzipielle Scheiteranfälligkeit aller Intervention in guter Absicht“ an-zuerkennen ist (Frei & Körner, 2010, S. 9). Das Eröffnen solcher Freiräume setzt eine Art „Vorschussvertrauen“ seitens der Lehrkraft in die Schüler/innen voraus, ohne das eine „echte“ Offenheit der Auseinandersetzung mit fachlichen Gegenständen nicht zu haben sein wird.

2.1 herausgestellte Ungewissheit des Gelingens sportbezogener Handlungen wesentlich bei, die letztlich ein Spannungsmoment erzeugt, das die Attraktivität sportbezogenen Handelns ausmacht. Werden fachliche Gegenstände im Sportun-terricht in offenen, irritationsträchtigen Settings inszeniert, kann diese dem Sport inhärente Attraktivität helfen, sich derartig Irritierendem zuzuwenden. Besonders leicht sichtbar wird dieses Attraktivitätsprinzip bei der Thematisierung von fach-lichen Gegenständen, die dem Bereich des Wagnissports zuzuordnen sind: Hier ist die Angstlust (vgl. Neumann, 1999) letztlich leitendes Motiv, das „ein Spiel an der Grenze zur Selbstüberschreitung“ (s.o.) herausfordert und es wahrscheinlich(er) macht, dass Schüler/innen sich irritationsträchtigen Situationen aus diesem Be-reich des Sports zuwenden.

Wenn sich Schüler/innen nun im Sportunterricht auf Irritationen, Ungewisses, auf Wagnisse einlassen: (Wie) Kann es dabei dazu kommen, dass die darin ent-haltene Auseinandersetzung mit einem fachlichen Gegenstand mit Koller gespro-chen zur Problemlage für Schüler/innen wird, die sie veranlasst, ihr bisheriges Verhältnis zu diesem Gegenstand (und in Auseinandersetzung mit diesem zu sich selbst) in Frage zu stellen oder ggf. überhaupt erst bewusst zu thematisieren? Hier erscheint die individuelle Bedeutsamkeit des Handelns als wesentliches Entschei-dungskriterium dafür, ob Situationen im (Sport-) Unterricht als „krisenhafter“

oder „irritierender“ Anlass für Bildungsprozesse interpretiert werden können oder ob sie gleichsam „auf Distanz gehalten“ werden, kein wirkliches Hinwenden zum Gegenstand stattfi ndet. Dem Sport und unweigerlich auch dem Sportunterricht sind nun zwei Merkmale inhärent, die dazu beitragen, dass Handlungen in diesem Fach für Schüler/innen eine hohe (oder doch zumindest eine gewisse) individuelle Bedeutsamkeit zukommt:

• Die Körperlichkeit des Handelns im Sport(unterricht) kann als ein Aspekt in-dividueller Bedeutsamkeit bezeichnet werden, da ihm ein unmittelbarer, phy-sisch realer Charakter zukommt: Ich riskiere im Sport(unterricht) – und noch einmal in deutlich gesteigertem Maße in irritierenden Situationen im Sport(un-terricht) – nicht weniger als meine körperliche Unversehrtheit, riskiere auch die Integrität meines Selbst im Falle des Scheiterns (Peinlichkeit vor Anderen, aber auch Enttäuschung von Erwartungen an mich selbst); Misserfolge und ggf.

Blessuren betreffen mich hier unmittelbar auf der Ebene meines Leibes (vgl.

dazu die Aspekte „körperliche Exponiertheit“ und „doppelte Verletzbarkeit“

bei Miethling & Krieger, 2004).

• Eng damit verbunden ist der Aspekt, dass das Handeln (oder Nicht-Handeln) in sportbezogenen (Irritations-) Situationen i.d.R. mit starker Emotionalität ein-hergeht, einen Erlebnischarakter hat (vgl. auch Ehni, 2004): Angst und Lust,

Freude und Enttäuschung liegen hier dicht beieinander. Die Tatsache, dass die

„Antwort“, ob eine Situation gemeistert wird oder ob ich an ihr scheitere, im Sport meist sofort, unmissverständlich und für alle offensichtlich erfolgt, trägt ihren Anteil zu dieser hohen Emotionalität und Erlebnishaftigkeit bei. Ich bin Sieger oder Verlierer und fühle mich entsprechend beglückt oder geknickt; ich wage den Sprung vom Sprungturm oder eben nicht und fühle mich entspre-chend stolz oder beschämt.

Folgt man der bisherigen Argumentation, so ist festzuhalten, dass einerseits Sport-unterricht besonders geeignet erscheint, Schüler/innen zum Sich-Einlassen auf irritationsträchtige Situationen einzuladen; andererseits bieten irritationsträchtige Situationen im Sport(unterricht) aufgrund der ihnen zukommenden hohen indivi-duellen Bedeutsamkeit durchaus die Chance, als „krisenhafter“ Anlass für Bildungs-prozesse wirken zu können. Sie tragen – mit Ehni (2004) gesprochen – einerseits zur Erlebnishaftigkeit des Unterrichts bei und fordern genau auf Basis dessen anderer-seits die individuelle Handlungsfähigkeit der Schüler/innen heraus. Das Aufgreifen oder Inszenieren irritationsträchtiger Situationen ist in diesem Sinne als regelmäßig im Unterrichtsalltag zu thematisierendes Angebot, als Chance zu verstehen, einen besonderen Anlass und Raum für individuelle Bildungsprozesse bereit zu stellen.11 Ob und wenn ja wie Schüler/innen diese Chance für sich nutzen (können), muss aus theoretischer Sicht offen bleiben; aus empirischer Sicht eröffnet sich an dieser Stelle die Forschungsfrage, die im hier dargestellten Projekt bearbeitet werden soll.