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Judenaussiedlung statt sozialen Wohnbaus

Im Dokument NS-Siedlungen in Wien (Seite 106-111)

III. Wohnbaupolitik im Reichsgau Wien 1938 – 1945

3. Das Wohnungsproblem und seine Lösungsversuche

3.2. Judenaussiedlung statt sozialen Wohnbaus

Große Hoffnungen setzte man in Wien auf die Lösung des Wohnungsproblems durch die Aussiedlung der Juden96, und das entsprach auch voll und ganz dem Willen des

„Führers“. Damit würde vordringlichster Wohnungsbedarf gedeckt, und ein effektives Wohnbauprogramm könnte zu einem gegebenen – günstigeren – Zeitpunkt anlau-fen. Immerhin waren vorab jede Menge Voraussetzungen von Flächenwidmung über Grundankauf bis über Entscheidungen der Schwerpunkte in der Stadtplanung zu schaffen. Der These Gerhard Botz’, dass die Judenaussiedlung an Stelle eines tragfähi-gen nationalsozialistischen Sozialprogramms trat, kann man nur vollinhaltlich zustim-men. Besonders deutlich formulierte der „Führer“ seine Einschätzung des Wohnungs-problems in Wien und die gebotene Lösung, wie sie ein Schreiben Bormanns an den GL Baldur von Schirach weitergibt97:

94 Dr. Anton Eisenreich: Stellungnahme und Vorschläge zur Reform des Miet- und Wohnungs-wesens i. d.Ostmark, ÖStA/AdR, „Bürckel“/Materie, Kt. 152, Mappe 2315/6, Bl. 227f. (zit. nach Botz, Judendeportation (1975), S. 19f.).

95 ÖStA, AdR, „Bürckel“/Materie, Sch. 152/2315/7. 15.3.1940.

96 Pionierarbeit in der Auswertung von Akten leistete hier Gerhard Botz, Judendeportation (1975).

97 Schreiben Bormanns vom 2.11.1941 an Schirach, R 43 II/1361a, BA (abgedruckt in Botz, Juden-deportation, S. 198ff.).

Das Wohnungsproblem und seine Lösungsversuche

„Sie sollten, betonte der Führer, Ihre Aufgabe in Wien nicht in der Schaffung neuer Wohnviertel sehen, sondern in der Bereinigung bestehender Verhältnisse. Zunächst seien baldigst in Verbindung mit dem Reichsführer-SS Himmler alle Juden abzu-schieben, anschliessend alle Tschechen und sonstigen Fremdvölkischen, die eine einheitliche politische Ausrichtung und Meinungsbildung der Wiener Bevölkerung ungemein erschwerten.

Wenn Sie durch derartige Massnahmen die Einwohnerzahl Wiens auf 1,5 bis 1,4 Mil-lionen herabdrückten, so würde dadurch am besten und am raschesten die Woh-nungsnot in Wien behoben.“

Hinsichtlich des Wohnungsbestandes gibt es unterschiedliche Angaben.98 Die Volks-zählung 1934 ergab 613.436 Wohnungen bei einer Wohnbevölkerung von 1,874.130 Personen. Nach der Volkszählung 1934 lebten in Wien 176.034 Juden und Jüdinnen in 58.678 Wohnungen, das sind 9,6 % der Wiener Wohnungen bei einem fast ebenso hohen jüdischen Bevölkerungsanteil (9,4 %). Am Tag des „Anschlusses“ betrug die Zahl der Personen israelitischer Religionszugehörigkeit in Wien noch 167.249. Wie hoch die Zahl der Juden und Jüdinnen nach den Nürnberger Gesetzen war, lässt sich nur schwer bis gar nicht berechnen. Jedenfalls kam es zu einer rapiden Auswanderung der jüdischen Bevölkerung, sodass die Volkszählung vom 17. Mai 1939 für Wien noch 92.982 Personen im Sinne der Nürnberger Gesetze registrierte.

Die Zahl der von Juden bewohnten Wohnungen vor der Machtübernahme wird auf rund 63.000 Wohnungen geschätzt, doch gibt es auch dazu differierende Angaben.

Jedenfalls erwartete das nationalsozialistische Verwaltungsteam von der „Arisierung“

der Judenwohnungen eine deutliche Entspannung auf dem Wohnungsmarkt. Doch damit, dass diese Ambitionen von Anfang an aus dem Ruder liefen, rechnete offenbar niemand.

Vizebürgermeister Kozich berichtete nach Berlin: „Von den in Wien vorhanden gewesenen ca. 70.000 Judenwohnungen gelangten bisher ungefähr 50 % an Arier zur Vermietung. Aber auch das Freiwerden der noch übrigen Judenwohnungen wird die Wohnungsnot in Wien nicht wesentlich zu lindern in der Lage sein.“99 Nach dem Bericht Thomas Kozichs würden also noch 35.000 Wohnungen zur Verfügung stehen, tatsächlich aber „wird man vorsichtigerweise den Bestand an Judenwohnungen auf höchstens 12.000 bis 14.000 schätzen können“100, private Zugriffe durch so genannte

„wilde Arisierer“ hatten noch vor den staatlichen Regelungen für „Säuberung“ gesorgt.

Man kann davon ausgehen, dass zwischen März 1938 und Mai 1939 rund 44.000 Woh-nungen „arisiert“ wurden, alle bevor die Aufhebung des Kündigungsschutzes die gesetzliche Handhabe dafür gab.101 Dem standen – nach Angabe des Beigeordneten

98 Die folgenden Zahlenangaben stützen sich auf die Untersuchung von Bailer-Galanda u. a., Ari-sierung von Wohnungen (2002), S. 12ff.

99 ÖStA, AdR, Bürckel, Kt. 152/Mappe 2315/7, Bl. 23.

100 zit. nach Bailer-Galanda, Arisierung von Wohnungen (2002), S. 34.

101 Bailer-Galanda, Arisierung von Wohnungen (2002), S. 34.

Leopold Tavs − 134.000 Ansuchen gegenüber, die im Dezember 1939 im Wohnungsamt lagen.102

Die „wilden“ Arisierungen einerseits und andererseits die der nationalsozialisti-schen Propaganda widersprechende Realität einer großen Anzahl in Wien verbliebener sozial bedürftiger jüdischer Familien veranlassten Bürckel, hier energisch durchzugrei-fen und bis zur endgültigen Umsiedlung der Juden nach Polen Lösungen zu überlegen:

„Die Frage der Judenwohnungen soll in Wien eine besonders straffe Regelung erfah-ren. Auf Grund der bestehenden rechtlichen Bestimmungen erfolgt bereits in Wien eine Zusammenziehung der Judenwohnungen, sodass hier gewisse Wohnungsein-heiten frei werden. […] Die Aussiedlung der Juden in Wien wird eine notwendige Zwischenstufe der Auswanderung darstellen müssen. Auch diese Auswanderung soll in durchaus legalem Rahmen geschehen, indem die hilfsbedürftigen jüdischen Fami-lien in die zu erstellende Barackenstadt ausgesiedelt werden. Die Zahl der hilfsbe-dürftigen jüdischen Familien ist in bedenklichem Steigen begriffen. Gerade diese hilfsbedürftigen Juden aber stellen in einer Weltstadt wie Wien ein politisches und soziales Zersetzungsferment erster Ordnung dar. Diese Gefahr auszuschalten, ist an sich eine Selbsterhaltungspflicht und ist in Wien zur Förderung des Aufbaues dop-pelt notwendig.“103

1937 hatte man begonnen, die 50 Holzbaracken in Simmering/Hasenleiten sukzessive durch Wohnblöcke zu ersetzen. Dieses Umbauprogramm wurde nun gestoppt und die Baracken zur Unterbringung „umgesiedelter“ jüdischer Familien aus städtischen Wohnungen genützt. „Die freigewordenen Wohnungen der jüdischen Mieter sollen den bisherigen Mietern in den Barackenlagern zugewiesen werden. Da es sich nur um eine vorübergehende Maßnahme handelt, kann auch die Abtragung von Baracken in Hasenleiten bis auf weiteres sistiert werden.“104 Die jüdischen Bewohner, die die katas-trophalen sanitären Zustände überlebten, wurden weiter in die KZs überstellt, und im November 1943 meldete der zuständige Hausinspektor seiner Dienststelle: „Jüdische Mieter gibt es keine mehr im Barackenlager.“105

Eine besonders infame Interpretation des gescheiterten Judenwohnungsprogramms gab Bürgermeister Hermann Neubacher für das Wohnungswesen in der 1. Ratsherren-sitzung vom 11. Mai 1939, indem er den Juden selbst die Schuld gab:

„Die frei gewordenen [Juden-] Wohnungen eignen sich aber nicht in allen Fällen, um sie Leuten mit kleinerem oder mittlerem Einkommen zuzuweisen, denn zumeist ver-braucht man in diesen Häusern Unsummen für Licht und Brand und ihre räumliche Einteilung ist mit Rücksicht auf eine sogenannte gesellschaftliche Zweckmäßigkeit erfolgt. In den allermeisten Fällen sind diese Paläste nicht einmal umbaufähig, weil

102 WStLA, B1, Stenographische Berichte, 3. öffentliche Ratsherrensitzung, Sch. 1, Bl. 143, 20.12.1939.

103 Bürckel an Göring, 8.7.1939, ÖStA, AdR, Bürckel, Kt. 152, M.2315/7, 8.7.1939.

104 zit. nach Exenberger Herbert u. a., Kündigungsgrund Nichtarier (1996), S. 99.

105 Exenberger, Kündigungsgrund Nichtarier (1996), S. 108.

Das Wohnungsproblem und seine Lösungsversuche

man für den Umbau dreimal oder viermal so viel Mittel aufwenden müßte als für Neubauten.“106

Auch für das „Problem“ dieser Großwohnungen und Paläste fand man natürlich eine Lösung – Parteigranden und NSDAP-Organisationen requirierten sie für sich: Das Palais Castiglioni in der Prinz Eugen-Straße ließ der Siedlungsplaner und Architekt Georg Laub für sich adaptieren, das Palais Rothschild ebendort beherbergte das Atelier von Laubs Nachfolger Hanns Dustmann; das zweite Rothschild-Palais in der Theresi-anumgasse beanspruchte Adolf Eichmann für sich und das für die Judendeportationen zuständige SS-Büro usw.107

Eugen Beckers Denkschrift: „Judenumsiedlung und Wohnungsbedarf in Wien“

Wie man „Judensäuberung“ und Wohnungsproblemlösung am besten verknüpfen könne, ließ der Gauleiter Bürckel von seinem Sonderbeauftragten Dr. Eugen Becker untersuchen. Der Verfasser der Denkschrift „Judenumsiedlung und Wohnungsbedarf in Wien“ 108 vom Oktober 1939 kam nach Untersuchung aller Bedarfsmeldungen und in Korrelation zu den aktuellen Fakten zu folgenden Schlüssen: Da nach vertraulicher Mitteilung der Führerauftrag zunächst die Säuberung der Ostmark von Juden vorsah, stünden 24.000 bis 26.000 Judenwohnungen zur Disposition. Die „wilden Arisierun-gen“ im Laufe des Jahres 1938 hätten zwar 12.000 bis 14.000 Wohnungen für Arier gewonnen, doch erst die „Totalumsiedlung“ könne das vorhandene Wohnungspoten-tial ausschöpfen.109 Warum dennoch die Wohnungsnot in Wien nicht entscheidend gemildert werden konnte, sei – nach Becker − das Ergebnis einer ineffizienten Organi-sation: Einmal wäre da das Problem von „Protektion und Intervention“:

„Die Vergebung der … freigemachten Judenwohnungen in Arierhäusern ist nicht immer ausschließlich nach den sachlichen Gesichtspunkten der Dringlichkeit erfolgt. In weitgehendem Masse waren auch behauptete oder wirkliche Empfehlun-gen mehr oder weniger entscheidend. Dadurch ist zweifellos der Nutzeffekt der Jude-numsiedlungsaktion … stark beeinträchtig worden.“110

Diese Bewertung teilte Vizebürgermeister Thomas Kozich, SA-Brigadegeneral und mit Wohnungsfragen der Partei betraut, natürlich nicht:

106 WStLA, B1, Stenographische Berichte, 1. öffentliche Ratsherrensitzung, Sch. 1, Bl. 16, 11.5.1939.

107 Weihsmann, Hakenkreuz (1998), S. 1022, dort noch weitere Beispiele.

108 Botz, Judendeportation (1975), S. 164 – 185 bringt im Dokumentenanhang VII Auszüge aus der Denkschrift Dr.  Eugen Beckers(Sonderbeauftragter im Stab Bürckels) über „Judenumsied-lung und Wohnungsbedarf in Wien“ von Anfang Oktober 1939 (Rekonstruktion). Auf diesen Abdruck beziehen sich die Zitate dieser Arbeit. (Maschinschriftliches Original: ÖStA, AdR,

„Bürckel“/Materie, Ordner 235 (2315/6), Bl. 71 – 98).

109 Botz, Judendeportation (1975), S. 165.

110 Botz, Judendeportation (1975), S. 175.

„Drängen Sie sich nicht vor, weil Sie elf Jahre lang auf eine Wohnung warten, sondern lassen Sie die vor, die 4 Jahre lang in den Kerkern des Systems auf das Dritte Reich gewartet haben! Ich könnte es nicht verantworten, wenn Männer, die vier Jahre mit uns an der Front gestanden sind und noch an der Front stehen, nun kommen und mich fragen: wo ist meine Wohnung, Kamerad? und ich müßte ihnen sagen: … die Etappe war bereits hier und hat alles aufgefressen.“111

Doch gerade diese Bevorzugung von Parteigenossen – übrigens auf allen Gebieten, etwa auch bei Anstellung und Auftragsvergabe, Materialzuteilung und Lebensmit-telversorgung – erregte immer wieder höchste Empörung. In den Akten finden sich neben den üblichen Vernaderungen auch dazu viele Eingaben und Anzeigen. Leopold Tavs beeilte sich zu erklären, dass „die unsauberen Elemente im Wohnungswesen“ hin-ter Schloss und Riegel gebracht seien und „der kleine Herd von Verführern, … die auch rassisch außerhalb der Volksgemeinschaft stehen, ausgetilgt“ werde.112

Ein weiteres Problem nach Meinung Beckers sei, dass drei Fünftel der Wohnungs-suchenden nur auf Verbesserungen aus seien, denn das „subjektive Wohnbedürfnis“ sei im Steigen begriffen, dem könne jedoch in wirksamer Weise nur durch Neubautätig-keit entsprochen werden. Völlig sinnlos sei, dass die Wohnungssuchenden in einem

„unproduktiven Parteienverkehr“ immer wieder vertröstet werden, ohne dass diesen Wohnungswerbern wirklich geholfen werden könne. Echte Dringlichkeitsbescheini-gungen seien nur für 15.000 bis 20.000 Bewerber auszustellen. Ein „objektives Punkte-system“ sei dringend erforderlich, denn die „Empfehlungen“ der Kreisleitungen hätten ergeben, dass von 5.000 Fällen nur 139 wirklich dringlich gewesen seien. „Es geht nicht um Wohnungswünsche, sondern um Wohnungsbedarf […] nach höchst unvollständi-gen Feststellununvollständi-gen des Wohnungsamtes lieunvollständi-gen zur Zeit nicht weniger als 2300 beson-ders krasse Wohnungsfälle […] vor.“

Nach Meinung des Verfassers könnte durch „Totalentjudung“ auch der mitt-lere Wohnungsbedarf wenigstens teilweise befriedigt werden. Indem er die Probleme umdefinierte und neue Bewertungskriterien aufstellte, „löste“ Becker damit die Frage der Wohnungsnot vom Schreibtisch aus: Wenn man nach objektiven Kriterien den

„dringendsten“ Wohnbedarf ermittle, so könne mit den 12.000 freiwerdenden Juden-wohnungen durchaus das Auslangen gefunden werden. „Falls die Totallösung der Judenfrage durch Umsiedlung nach Polen nicht erfolgt, so muss der aller Voraussicht nach der nicht freiwillig auswandernde Restbestand von schätzungsweise 50.000 Juden in Wien in Baracken untergebracht werden, damit das politische Störungsmoment der jüdischen Streusiedlung beseitigt wird.“113 Damit war die soziale Frage der Wohnungs-not auch nicht annähernd gelöst. Faktum war: Die vertriebenen jüdischen Mieter wur-den mehrfach in andere Wohnungen umgesiedelt, in Sammellager gesteckt, 46.000 Personen wurden zwischen 1941 und 1945 mit Massentransporten in die Konzentra-tionslager deportiert. Am 15. April 1945 lebten in Wien noch 5.512 Juden und

Jüdin-111 Amtsblatt, 2.12.1938, Nr. 49, S. 4.

112 WStLA, B1, Stenographische Berichte, 3. Ratsherrensitzung 20.12.1939, Sch. 1, Bl. 153.

113 Botz, Judendeportation (1975), S. 169.

Das Wohnungsproblem und seine Lösungsversuche

nen.114 Zur Erfüllung aller Wünsche sei freilich ein Neubauprogramm unverzichtbar, meinte abschließend auch Becker, aber zur Entlastung des Wohnungsamtes schlug er vor, die Dringlichkeitsbewertung zu verschärfen, das Amt für vier bis sechs Wochen zu schließen, um auszusieben und zu sichten. Die unter ehrenamtlicher Mithilfe eines Wohnungsbetreuers bei den Ortgruppen der NSDAP zur Feststellung des dringlichen Wohnbedarfs übrig gebliebenen Wohnungswerber könnten dann eine Zuweisung erhalten, etwa eine Notwohnung aus umgewandelten Geschäftsräumen oder auch eine

„Wohnung einer alleinstehenden gebrechlichen Frau“, die in einem Altersheim unterge-bracht werden könnte.115 Eugen Becker gab nur das wieder, was inhaltlich die Meinung maßgeblicher politischer Entscheidungsträger war.

Im Dokument NS-Siedlungen in Wien (Seite 106-111)