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Eingemeindung und Entstehung von Groß-Wien

Im Dokument NS-Siedlungen in Wien (Seite 98-103)

III. Wohnbaupolitik im Reichsgau Wien 1938 – 1945

2. Eingemeindung und Entstehung von Groß-Wien

2.1. Stadterweiterungspläne und Interessenskollisionen

Dass es mit der Errichtung von Groß-Wien nicht schnell genug gehen konnte, zeigte sich in der hektischen Planungstätigkeit, die ab April 1938 sämtliche Partei- und Ver-waltungsstellen beschäftigte und am 15. Oktober 1938 wirksam wurde. Schon Ende Mai 1938 legte Bürgermeister Hermann Neubacher dem Reichsinnenminister Dr. Wil-helm Frick Pläne für die Stadterweiterung Wiens vor.

Wiener Stadterweiterungspläne bis St. Pölten und zum Semmering gab es schon in den 1920er Jahren, als die Auflockerung des dichtbesiedelten Stadtgebietes und die Idee der Selbstversorgung von Siedlern durch Eigengärten in der Zeit der wirtschaftlichen Bedrängnis zur Diskussion standen. Auch im „Ständestaat“ spielten derlei Überlegun-gen eine Rolle.76 Nun aber stellte sich die Frage im Rahmen des nationalsozialistischen Aufbau- und Siedlungsprogramms mit deutlich ideologischem Akzent, als etwa Reich-sinnenminister Dr. Frick am 1. Juni 1938 im Rathaus vor leitenden Beamten die Erwei-terung als Maßnahme der „nationalsozialistischen Wohnungspolitik“ begründete:

„Wir Nationalsozialisten sind grundsätzlich Gegner der Verstädterung des deutschen Volkes, denn die bevölkerungspolitischen Möglichkeiten liegen auf dem Urgrund dieses Volkes, beim Bauerntum auf dem flachen Lande, und es wäre eine falsche Entwicklung, wenn man den Drang zur Stadt immer mehr begünstigen würde […]

Wir müssen die Menschen aus den Mietskasernen herausbringen, wir brauchen die Eigenheime.“

Der nun gewonnene „ungeheure Raum für Siedlungsgelände“ stelle sicher,

75 WStLA, B1, Stenographische Berichte, 25. nicht öffentliche Ratsherrensitzung, Sch. 3, 21.1.1945, S. 109f. In […] Anmerkung der Verfasserin.

76 Vgl. Botz, NS in Wien (1978), S. 270.

Eingemeindung und Entstehung von Gross-Wien

„daß es dann gelingen wird, die ungesunden üblen Quartiere zu beseitigen, in denen Menschen so eng nebeneinander hausen müssen und so unwürdig zusammenge-pfercht werden, daß auch politisch – wie es gerade die Vergangenheit gezeigt hat – nichts Gutes dabei herauskommt. Wir wollen diese Menschen wieder in eine enge Verbindung mit der Natur bringen und gesunde Bürger aus ihnen machen. […] Und es wird möglich sein, auch in verkehrsmäßiger Beziehung großzügige Planungen zu machen, damit die Menschen, die in diesen Quartieren draußen wohnen, möglichst bald an ihre Arbeitsstätte gelangen können. Das ist das nationalsozialistische Ideal einer Wohnungspolitik. Das ist unser Ziel!“77

Die Diskussion um das Ausmaß der Stadterweiterung „nach dem Muster Groß-Hamburgs“78 stellte jedoch die unterschiedlichen Interessensschwerpunkte klar: Die Blut- und Boden-Ideologen votierten für die „Entstädterung des deutschen Volkes“.

Die Rüstungskonzerne forderten raschest Ansiedlungsgebiet für ihre Betriebe. Bür-germeister Neubacher berauschte sich und seine Anhänger an der diffusen Vorstellung eines „Hamburgs des Osten“, das an Bedeutung mit den größten Städten des „Alt-reiches“ mithalten konnte, schwärmte von Häfen, Ausstellungszentren, Verkehrskno-tenpunkten, also unterstützte er die Maximalpläne der Ideologen, die für Groß-Wien 8500 km2 vorschlugen, „um auch den militärischen Notwendigkeiten einer möglichs-ten Verteilung der Industrien, Vorratsstellen etc. im Grenzgebiet“ Rechnung zu tra-gen.79 Die Pragmatiker des Stadtbauamtes wiederum bevorzugten eine „Kleinwiener“-Lösung, wonach nur etwa 100 km2 als Erweiterung für Wohnsiedlungen genügen würden, weil sie vor allem an die verwaltungsmäßigen und finanziellen Folgen dach-ten. Letztlich entschied man sich Ende Mai für einen erweiterten Vorschlag des Stadt-bauamtes, und vergrößerte das Stadtgebiet von 273 km2 auf 1215 km2 (Abb 13, S. 100).

Hinter der Gebietserweiterung stand allerdings nicht die propagandistisch aus-geschlachtete Gewinnung von Siedlungsland für die großstädtischen Elendsviertelbe-wohner, sondern die Verfügung über Grundflächen zu Betriebsansiedlungen für das vorgesehene Rüstungsprogramm im Rahmen des Vierjahresplans und als Bauland für die dazu notwendigen Gefolgschaftsunterkünfte. Schon wenige Tage nach dem

„Anschluss“ hatte die Bautätigkeit für die Rüstungsbetriebe begonnen, die offizielle Eingemeindung und deren gesetzliche Fixierung wurde gar nicht erst abgewartet und von bevölkerungspolitischen Fernzielen war überhaupt noch nicht die Rede.

2.2. Die Praxis der Eingemeindung

Die Vergrößerung des Stadtgebietes hatte eine neue Gebietseinteilung in 26 Bezirke zur Folge mit dem Ziel der Übereinstimmung von Grenzen der Verwaltungseinhei-ten mit den Kreiseinteilungen der NSDAP unter Zustimmung der Militärstellen. Das war umso notwendiger, als die Durchführung vieler Erlässe und Verordnungen in der

77 Amtsblatt, 3. Juni 1938, 46. Jg., Nr. 23, S. 1f.

78 Konzept der Reichskanzlei, zit. nach Botz, NS in Wien (1978), S. 267 (vgl. Anm. 244).

79 WStLA, A1, MD 3352/38, Subfaszikel 4406/38, zit. nach Botz, NS in Wien (1978). S. 269.

Folgezeit nur durch die flächendeckende Überwachung durch Parteiorgane in ihren entsprechenden Rayons möglich war. Die Bezirkshauptmannschaften als unterste Ver-waltungseinheit wurden vermehrt und ausgebaut.

Die Befürchtungen des Stadtbauamtes bewahrheiteten sich in der Praxis. Nicht nur, dass von Anfang an große Mängel in der Infrastruktur zu konstatieren waren, es ergaben sich vor allem auch Verpflichtungen in der Zukunft − und das war ja von vornherein die Absicht der Betreiber: Die Gemeinde war von nun an zuständig für sämtliche Bauvorhaben, was Bereitstellung von Grundflächen, finanzielle Kostenüber-nahmen für Aufschließung, Förderung, Durchführung betraf, auch wenn die Firmen selbst für den Großteil der Baukosten für Betriebe und Gefolgschaftswohnungen auf-kamen, wobei sie auf staatliche Förderung keineswegs verzichteten.

Das größte Problem waren allerdings die Rückständigkeiten der eingemeindeten Gebiete in der technischen Verwaltung − was letztlich auf eine enorme Kostenfrage hinauslief: Die Straßen seien in überaus schlechtem Zustand, 90 % der Brücken seien erneuerungsbedürftig, die um 372 km vermehrten Flüsse und Bäche wiesen keinerlei Schutzbauten gegen Hochwasser auf, bis auf eine Gemeinde gebe es keine Kanalisation, keine öffentliche Beleuchtung, keine Verkehrszeichen usw. Auch die 190 übernomme-nen gemeindeeigeübernomme-nen Wohnhäuser seien in schlechtestem Zustand.80 Stadtbaudirek-tor Franz Musil machte Bürgermeister Hermann Neubacher nachdrücklich darauf aufmerksam, wie sich auch der Geschäftsgang nach dem „Umbruch“ vergrößert habe.

Außer dem Mangel an technisch geschultem Personal für die neuen Bauämter gebe es auch Widerstände der Bezirksvorstände gegen die unumgängliche Zentralisierung und Auflösung der lokalen Baudienste.81 Für den Bürgermeister aber lag die Sache einfach:

„Was wir hier gemacht haben, ist, daß wir unter Ausnützung des Schwunges des revo-lutionären Umbruchs … Probleme, die früher im Dickicht des Parteienstaates und der sich kreuzenden Interessen unlösbar gewesen sind, handstreichartig zur Lösung gebracht haben. […] Die Güte unseres Verwaltungsapparates bürgt mir dafür, daß sich … diese Eingemeindung reibungslos und in mustergültiger Weise vollziehen wird.“82

Die „Anschluss“-Euphorie erfasste zunächst natürlich auch die 97 eingemeindeten Ort-schaften, und sie standen nicht an, immer neue Forderungen an die Gemeinde Wien zu stellen. „Die Wünsche der Bevölkerung, die Stadt möge nun die Elendsviertel besei-tigen und neue Wohnungen bauen, mehren sich von Tag zu Tag.“83 Bald allerdings kam auch heftige Kritik auf, als die Gemeinden ungefragt von Gebietsforderungen für Industrieanlagen, Wehrmachtsbauten oder Neubauernansiedlungen überrollt und ihre

80 Auflistung als Beilage zu WStLA, A1, MD-BD, Sch. 116, 314/39.

81 WStLA, A1, MD-BD, Sch. 115, 7801/38.

82 Amtsblatt, 14.10.1938, 46. Jg., Nr. 43, S. 3.

83 WStLA, A1, MD-BD, Sch. 116, 314/39.

Eingemeindung und Entstehung von Gross-Wien

bescheidenen Anliegen abgewiesen wurden.84 Letztlich schien die Meinung vorzuherr-schen, dass alle Vorteile bei der Zentralbehörde und alle Nachteile bei den Gemeinden lägen. Da nun auch Steuern, Gebühren und Tarife auf Wiener Niveau angehoben wur-den, geriet der Widerstand zum Teil sehr heftig. Der Beigeordnete zum Wohnungswe-sen Leopold Tavs wurde schließlich mit der Befriedung der Landgemeinden betraut, doch besserte sich die Lage im Zuge der Kriegseinsparungen so gut wie gar nicht, und der Ratsherr Karl Belkhofer brachte die Stimmung auf den Punkt: Die Bevölkerung der eingemeindeten Gebiete habe praktisch nur Nachteile durch die Eingemeindung, sie seien der Prügelknabe für alle anderen, verfügten über schlechteste und verteuerte Verkehrsmittel, dazu komme die Zentralisierung der Ämter und große Nachteile durch reichseinheitliche Tarife – dafür wanderten alle Einnahmen der Gemeinden in den Stadtsäckel. Der Einwand des Bürgermeisters, dass die Stadt „schwere Lasten“ über-nommen habe, die sie alle „in Zukunft“ bewältigen würden, überzeugte 1945 wohl nie-manden mehr.85 Die Beamten des Stadtbauamtes entwickelten gegenüber allen Begehr-lichkeiten ihre eigene Strategie. Sie zögerten hinaus, machten Voruntersuchungen und vage Zusagen, verlangten Nachweise – und die hypertrophe Ämterorganisation gab ihnen dabei die Mittel in die Hand. Manche Vorhaben blieben monatelang unerledigt:

Die Baugenossenschaft „Neue Heimat“ der DAF führte im Februar 1939 bittere Klage bei GL Josef Bürckel, dass die ersten 200 Häuser ihrer Vorzeigesiedlung „Holzweber-stadt“ in Wiener Neudorf für die Arbeiter des neuen Flugmotorenwerks fertig seien, aber nicht bezogen werden könnten, weil die Gemeinde seit Oktober 1938 trotz Erfül-lung aller Formalitäten ihnen bisher weder Mittel zugeteilt noch beim Reichsministe-rium für Wirtschaft und Arbeit überhaupt eingereicht habe.86

Ganz ähnlich verliefen die Siedlungsvorhaben in Schwechat, in Brunn, in Fisch-amend. Hier formulierten die Ideologen mit „Eigenheimträumen“ und „Landschafts-schutz“ ihre Wünsche, hauptsächlich vertreten durch den Raumordnungs-Chef Dr.  Andreas Tröster – da traten die Vierjahresplaner mit rücksichtsloser Forderung nach Gefolgschaftswohnungen und Industrieansiedlungen auf; hier argumentierte die um jeden Acker kämpfende Kreisbauernschaft – da präsentierten die Siedlungs-planer mit großer Geste ihre nationalsozialistischen Stadtplanungsentwürfe. Raum-bedarf meldeten auch die Planer der Großanlagen von Donauhäfen bis Rhein-Main-Donau-Kanal an, für Reichsbahn und Reichsautobahn, von Prestigebauten einmal ganz abgesehen. Welche ungeheuren Gebietsansprüche die Wehrmacht selbst für Kasernen, Truppenübungs- und Flugplätze zu stellen gedachten, wusste zum Zeit-punkt der Eingemeindung wohl nur Hermann Göring selbst. Dem allen gegenüber sollten die realistischen Beamten agieren, zuständig für die praktische und finanzielle Abstimmung, und die Durchführung aller Ideen und sämtliche Aufschließungsarbei-ten in Groß-Wien leisAufschließungsarbei-ten. Letztlich blieben die Widersprüche ungelöst, zu viele unter-schiedliche Ansprüche sollten gleichzeitig erfüllt werden: „‚Auflockerung der

Groß-84 z. B. wird Ebergassings Ansuchen um Grünanlage aus Kostengründen abgelehnt. WStLA, A1, Md-BD, Sch. 117, 2388/39.

85 WStLA, B1, Stenographische Berichte, 25. öffentliche Ratsherrensitzung vom 12.1.1945, Sch. 1.

86 ÖStA/AdR, „Bürckel“/Materie, Kt. 152, Mappe 2315/7, Bl. 52ff.

städte‘, aber nicht Einschränkung der ‚nationalen Eigenart‘ und der Erfordernisse der Landwirtschaft; wirtschaftliche Entwicklung der eingemeindeten Vororte, aber Hint-anhaltung weiterer Industrialisierung; ‚völkische Werte‘, aber keine Sozialpolitik; leis-tungsfähige Gemeindeverwaltungen, aber keine Urbanisierung der eingemeindeten Gebiete.“87 Nach dem Krieg wurden 80 der 97 Gemeinden wieder ausgemeindet, aller-dings konnte die Zustimmung dazu von der sowjetischen Besatzungsmacht erst 1954 erreicht werden. Ab 1. September 1954 erstreckte sich das Stadtgebiet der nunmehr 23 Bezirke Wiens auf 415 km2.88

87 Botz, NS in Wien (1978), S. 272.

88 Till, Geschichte der Stadtverwaltung (1957), S. 127.

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Abb. 13: Groß-Wien nach den Eingemeindungen am 15. Oktober 1938.

Das Wohnungsproblem und seine Lösungsversuche

3. Das Wohnungsproblem und seine Lösungsversuche

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