• Keine Ergebnisse gefunden

Die Gemeindebauten

Im Dokument NS-Siedlungen in Wien (Seite 36-44)

I. Wohnbaupolitik der Zwischenkriegszeit in Wien

1.5. Die Gemeindebauten

Die Gemeinderatssitzung vom 21. November 1923 stellte die Weichen für das nächste Jahrzehnt im Wohnungsbau: Man entschied sich für den Bau von Volkswohnungen in mehrgeschoßigem Blockbau und erteilte damit dem Siedlungsbau eine zwar nicht völ-lige, aber doch deutliche Absage. Ob es wirklich eine provokante Entscheidung war, die in einer „bewußten Manifestation urbaner sozialdemokratischer Gegenkultur in einem bürgerlich-bäuerlich dominierten Staatswesen“63 war, sei dahingestellt. Nachvollziehba-rer erscheint die politische Vorgabe: So viele Wohnungen so schnell und so preiswert wie möglich zu bauen bei Wahrung bestimmter vorgegebener Qualitätsstandards.

58 Schuster, Baugesinnung (1926), S. 19.

59 Alle Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext. Tatsächlich hat F. Schuster das Überleben aller Regime mit entsprechender Anpassungsleistung geschafft.

60 Schuster Baugesinnung (1926), S. 17.

61 Schuster, Baugesinnung (1926), S. 17.

62 Von 1926 – 1937 übersiedelte Schuster als freischaffender Architekt nach Frankfurt a. M., wid-mete sich dort neben Architektur zu Wohn- und Siedlungsbauten, besonders der Ausstattung der Kleinwohnung. Nach seiner Rückkehr nach Wien wurde er am 1.10.1937 Nachfolger Josef Hoffmanns an der Kunstgewerbeschule und blieb hier bis zu seiner Emeritierung 1963. Das Stadtbauamt engagierte ihn mehrfach für spezielle Aufgaben.

63 Hoffmann, Nimm Hack und Spaten (1987), S. 66.

Wohnbaupolitik im Roten Wien 1919 – 1933

Schon um die Wende des 18./19. Jahrhunderts waren in Wien Arbeiter- und Beleg-schaftswohnungen in mehrgeschoßigen Wohnblocks errichtet worden, die man als Vorläuferbauten für die nun realisierten Wohnideen bezeichnen könnte.64 Jedenfalls waren Randverbauungen um große Höfe, später auch die Integrierung von WC und Wasser in den Wohnungsverband, wie sie der Gemeindewohnungsbau forderte, schon im Ansatz zu finden.

Der kommunale Geschoßwohnungsbau machte erste Erfahrungen unter Bürger-meister Jakob Reumann bereits 1919 mit der baulichen Umgestaltung von Baracken und Kasernen. Bis 1923 konnten dadurch immerhin 1100 Wohnungen zur Verfügung gestellt werden. Im selben Jahr startete das Siedlungs- bzw. Wohnprojekt auf der Schmelz mit 42 einstöckigen Wohnhäusern. Es zeigt im „Embryonalzustand“ 65 die Merkmale spä-terer Gemeindebauten. Der „Urgemeindebau“66 im für die großen Wohnanlagen typi-schen „Gemeindebaustil“ war der Metzleinstalerhof am Margaretengürtel, Baubeginn 1919, dem Hubert Gessner sein unverwechselbares Gesicht gab. In den nächsten Jahren errichtete die Gemeinde dort eine ganze Reihe weiterer wichtiger Großanlagen.67 In wessen Konkurrenz man sich sah und auf wen man sich trotzig bezog, verrät die Apo-strophierung des Margaretengürtels als „Ringstraße des Proletariats“.68 (Abb. 3) Unter den spezifischen innenpolitischen Bedingungen entstanden in der Folge insgesamt 348 Anlagen, „die vom Auftraggeber, der sozialdemokratischen Stadtverwaltung, und den

64 Lobmeyerhof in Wien-Ottakring (1898), Werkswohnungen auf dem Betriebsbahnhof Speising (1913), vgl. Haiko, Peter, Wiener Arbeiterwohnhäuser (1977), S. 36f; Weihsmann, Rotes Wien (1985), S. 80f; Mang, Architektur und Raum (1993), S. 46f.

65 Hautmann/Hautmann, Gemeindebauten (1980), S. 106.

66 Hautmann/Hautmann, Gemeindebauten (1980), S. 106.

67 Reumannhof, Domes-Hof, Matteotti-Hof. Zu einzelnen Wiener Gemeindebauten: Hautmann/

Hautmann, Gemeindebauten (1980); Weihsmann, Rotes Wien (1985); Das neue Wien (1926).

68 Achleitner, Österreichische Architektur (1980), Bd. III/1, S. 163.

Abb. 3: „Ringstraße des Proletariats“. Höfe am Margaretengürtel, Wien 5. Bezirk: von links nach rechts: Reumannhof (1924), Metzleinstaler-Hof (1919), Georg-Herweghhof (1926), Julius-Popp-Hof (1925), dahinter Matteotti-Hof.

Architekten … in stilistisch einheitliche Bauformen ‚umgegossen‘ wurden.“69 Mehr oder weniger ausgedehnte Anlagen verstreuten sich über das ganze Stadtgebiet. Die „Super-blocks“, viele mit weit mehr als 1.000 Wohnungen, lagen vornehmlich in äußeren Bezir-ken. Doch auch in Baulücken der inneren Wohngegenden errichtete man Wohnhöfe, indem man nach Zusammenlegung mehrerer Parzellen trachtete, um den vorgegebenen Standards in der Bebauung Genüge tun zu können.

Nach außen präsentieren sich die Gemeindebauten zwischen 1923 und 1934 in einem letztlich unverwechselbaren Stil, der − bei gewissen Übereinstimmungen, die sich aus den Vorgaben erklären – dennoch eine große architektonische Vielfalt an Lösungen bereithielt. Dafür war sicher auch die Herkunft der Architekten aus diversen Architekturschulen maßgeblich – am nachhaltigsten wohl jene Otto Wagners. Mehr-fach wurde eine Katalogisierung der Formensprache versucht70: Neben an das Barock erinnernden „Palastfronten“ mit betontem Mitteltrakt, symmetrischen Seitenflügeln und Ehrenhof (Reumannhof) finden sich auch Einflüsse des neuen Bauens etwa in Loggienverglasungen (Speiserhof), gartenstadtähnlich konzipierte Platz- und Hofab-folgen (Sandleiten) oder städtebauliche Romantik (Rabenhof). Die Baumassengliede-rung durch Erker, Gesimse, Loggien gestattet ebenso Varianten wie der Schmuck am Bau. Reliefs, Keramiken, plakative Schriftzüge, vollplastischer Figurenschmuck setzen sich von den gründerzeitlichen Fassadenapplikationen nach Katalogangebot bewusst ab. Skulpturen als Visualisierung der ideologischen Ausrichtung, als „proletarische Denkmäler“ in vielen Gemeindebauten raumbildende Zentren, haben hohen Stellen-wert.71 Die Stilzuweisungen reichen vom Jugendstil über den Expressionismus bis zum

69 Hautmann/Hautmann, Gemeindebauten (1980), S. 110.

70 Mang, Architektur und Raum (1993), S. 51.

71 Vgl. Seiter, Josef, Politik in der Idylle, in: Das Rote Wien (1993), S. 74 – 89.

Abb. 4: Karl-Marx-Hof.

Wohnbaupolitik im Roten Wien 1919 – 1933

Art Deco. Auch Friedrich Achleitner konzediert dem Stil etwas Unverwechselbares durch seine Mischung, nämlich „ein Amalgam aus Spätexpressionismus und gemäßig-ter neuer Sachlichkeit“, spöttisch auch „sachte Neulichkeit“ tituliert.72

Ziemlich einheitlich präsentiert sich die Lösung der Raumfrage: Meist umschlie-ßen die mehrgeschoßigen Blöcke in Randverbauung weiträumige Innenhöfe, die sowohl gärtnerisch gestaltet als auch mit Freizeiteinrichtungen von Spielplätzen mit Freibädern bis Ruhezonen ausgestattet sind. Der größte Unterschied zu den vielge-schoßigen Gründerzeitbauten ist die geringe Verbauungsdichte. Die Vorschrift, min-destens 50 % als Freifläche zu erhalten, wurde so gut wie immer unterschritten – im Karl-Marx-Hof beträgt die verbaute Fläche bloß 18 %. Das war nur möglich durch den völligen Verzicht auf Rentabilität, den sich das städtische Bauen nun leistete. Die

„Hof-Idee“ war in Wien immer schon heimisch – erst die gründerzeitliche Bauspekula-tion mit ihrer Rasterplan-Manie hatte den begrünten Freiraum zum „Lichthof“ defor-miert. Nun kam der Innenhof wieder zu Ehren, er wurde nach und nach zum „Symbol einer neuen proletarischen Freiheit“73.(Abb. 4, 5) Jedenfalls entwickelten sich die Höfe

„zu einer konsequent stadtplanerischen Idee“74, die die riesigen Wohnquartiere prägte.

Um die Höfe lagerte sich ein großes Spektrum an Gemeinschaftseinrichtungen von Waschküchen bis Kindergärten, von Gesundheitseinrichtungen bis Einkaufsläden an und garantierte so ein nahezu autarkes Gemeinwesen, das bis dato nicht vorstellbar gewesen war, damals umso sinnvoller, als die Verkehrserschließung oftmals noch zu wünschen übrig ließ.

72 Achleitner, Geköpfte Architektur (1985), S. 197.

73 Mang, Architektur und Raum (1993), S. 50.

74 Mang, Menschliches Maß (1983), S. X.

Abb. 5: Rabenhof.

„Solcherart blieb ‚Wohnen‘ nicht bloß eine private Angelegenheit einzelner Men-schen oder Familien, sondern war integriert im solidariMen-schen Zusammenleben – oft auch in der gemeinschaftlichen politischen Auseinandersetzung – einer großen Wohn-hausanlage, ja eines ganzen Wohnquartiers.“75 Die Wohnungen entsprachen neuesten Erkenntnissen, und ihre Ausstattung mit Gas, Strom und Wasser war allein schon die Erfüllung der Träume der meisten Bezieher. Mehr noch zählte, dass diese Bauten das Recht des Arbeiters auf menschenwürdiges Wohnen verkündeten und es überzeugend einlösten. Dennoch hatten 1931 erst knapp 18 % der Arbeiterwohnungen ein eigenes Klosett, Wasser-Anschluss und elektrischen Strom.76 Ein „revolutionäres Potential“ an Unzufriedenen wartete nur darauf, so oder so aktiviert zu werden.

Der Ansturm auf die Gemeindewohnungen war damals enorm und ist es bis heute geblieben. Die Fluktuation ist sehr gering. Heutigen Wohnstandards wurde und wird durch entsprechende Adaptierungen Rechnung getragen. Jedenfalls entlarven sich die voreiligen Prognosen über die „Slums von morgen“ als „unreflektierte Polemik“77.

Sowohl über die Beurteilung dieser „einheitlichen Bauformen“ als auch um die damit vermittelte Lebensform mit ihrer gesamten Bandbreite von gemeinschaftlicher Praxis, individuellem Rückzug und ideologischer Orientierung gibt es einen auch heute noch andauernden Diskurs. Warum gerade die monumentale, immer als Machtan-spruch zu lesende Repräsentativsprache gewählt wurde, ist eine der Fragen. Hiezu ein Antwortversuch: Den monumentalen Gründerzeit-Palästen sollte wohl bewusst – und auch mit durchaus „pathetischer Geste“78 − die monumentale Lösung des Gemeinde-blocks gegenübergestellt werden, dessen „Innenleben“ problemlos jeden Vergleich gewin-nen würde. Wenn sich damit noch sozialdemokratisch-marxistische Vorstellungen von Gemeinschaft und Gesellschaft verbinden ließen – dann war Zukunftshoffnung statt Kellerdepression angesagt! Eine proletarische Gegenwelt bis ins Private hinein! In diesen

„Volkspalästen“ war Arbeiter-Selbstbewusstsein – wenn auch in der Architektur-Sprache der Herrschenden – visualisiert, der Anspruch auf menschliches Wohnen aufs deut-lichste artikuliert und verifiziert. Mag sein, dass auch der − mit Vorbehalt − vielzitierte Zeitgeist hier mitspielte. Schließlich nahm auch die Moskauer Metro den Palastbaustil nahezu 1:1 für ihre Arbeitermassen explizit in Anspruch. Und für die Linke war das Vor-bild der Sowjetunion damals unbestritten. Ausdruck proletarischen Selbstbewusstseins waren die „Superblocks“ allemal: „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden Steine für uns sprechen“, formulierte Bürgermeister Seitz anlässlich der Eröffnung des Karl Marx-Hofes am 12. Oktober 1930.79 Damit trat er in direkte Konkurrenz zu Hitlers Anspruch, dass seine Monumentalbauten, „sein Wort aus Stein“80, noch in zehntausend Jahren ste-hen und „jeden überwältigen (würden), der an sie herantritt.“81

75 Weihsmann, Rotes Wien (1985), S. 47.

76 Stoisser, Wohnungsausstattung (1983), S. XII.

77 Schlandt, Superblocks (1969), S. 2.

78 Zak, Es begann vor 60 Jahren (1983), S. 8.

79 Weihsmann, Rotes Wien (1985), S. 51.

80 Mein Kampf, zit. nach Petsch, Stadtplanung (1976), S. 83.

81 Jochmann, Werner (Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941 – 44. Hamburg 1980, S. 101f., zit. nach Backes, Bildende Künste (1988), S. 192.

Wohnbaupolitik im Roten Wien 1919 – 1933

Die Frage, die unbeantwortet bleibt, ist die, ob es wirklich notwendig war, den

„Ball“, den die herrschende Klasse mit ihrer Repräsentationsarchitektur den „Unter-tanen“ zuspielte, auch aufzunehmen. Hätte es für die Bedürfnisse der Arbeiter auch angemessenere formale Lösungen geben können als Ehrenhöfe, Risalite, Flügelanlagen und Springbrunnen? Andererseits, diese Sprache haben alle Wiener von Jugend auf gelernt, mit diesem Vokabular wurden sie von der Bausubstanz her ständig konfron-tiert, unabhängig von Klassenzugehörigkeit. In dieser Sprache beanspruchten die Pro-letarier die Teilhabe an der Macht und sahen in „ihren“ Anlagen diffuse Sehnsüchte in adäquater Weise aufgegriffen und formuliert. Und alle die Gegner haben genau diesen trotzigen Anspruch der Gemeindebauarchitektur herausgelesen und in wüten-den Schmähschriften attackiert. Ob es sinnvoller gewesen wäre, die „Proletarier“ ihre

„eigene“ Sprache erfinden zu lassen, vielleicht in Zusammenarbeit und Mitbestimmung von der Planung bis zur Ausstattung, ist in der Geschichte eine müßige Frage. For-derungen und Ansätze sowohl von sozialdemokratisch-marxistisch orientierten The-oretikern als auch engagierten Architekten gab es genug, doch die meisten Initiativen endeten in Wien in städtischen Planungsbüros oder in den offiziellen Beratungsstellen der größeren Anlagen. Kommunalpolitik als Variante des aufgeklärten Absolutismus setzte sich durch: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk!“

Unter diesem Aspekt ist auch der Vorwurf, die Architektursprache der Gemeinde-bauten sei traditionell − gemessen an den progressiven Tendenzen der Zeit82 − müßig.

Hätte das Neue Bauen eine ebenso hohe Zustimmung unter den Bewohnern gefun-den? Statt der modernen Bauweisen von mit Glas, Stahl, Beton habe man sich kon-ventioneller Techniken bedient, lautet der Vorwurf. Die Verteidiger „entschuldigen“

das mit der arbeitsplatzschaffenden Einbindung handwerklicher Qualität. Ob die Zie-gelbauerrichtung tatsächlich das Ergebnis der Arbeitsmarktpolitik des Stadtbauamts war, bleibe dahingestellt. In Deutschland gab es zu dieser Zeit die progressiven, ganze Stadtviertel schaffenden Siedlungen des Neuen Bauens. Höchst beeindruckend in Anlage und Ausstattung, konnten sie dennoch nicht die angepeilte Zielgruppe errei-chen, die Wohnungen waren zu teuer und zu elitär.

Schwerer wiegt der Vorwurf der städteplanerischen Rückständigkeit der Gemein-debauten. Grundorientierung für jede Bauplatzwahl im Stadtplanungskonzept der Sozialdemokraten war das vorgegebene Straßennetz − vor allem eine Sparmaßnahme, waren doch sämtliche Versorgungsleitungen damit verbunden. Das Stadtbauamt konnte weder den Experimenten des Bauhauses noch dem Kampf gegen die „gewach-sene Stadt“ und der „visionären Weite einer Hochhäuserverbauung“ Le Corbusiers83 etwas abgewinnen. „Die Wiener Sozialdemokratie entschied sich gegen die Revolution und für einen evolutionären Weg der Gesellschaft.“ 84 Evolutionär war die Maßnahme der Umverteilung statt der Enteignung, und evolutionär war auch die Einordnung der Wohnblocks in eine bestehende Stadtstruktur.

82 Zak, Es begann vor 60 Jahren (1983), S. 7.

83 Mang, Architektur und Raum (1993), S. 59.

84 Mang, Architektur und Raum (1993), S. 44f.

„…  die sozialdemokratischen Parteiführer trafen genau den konservativen Wohn- und Architekturgeschmack der Wiener Arbeiter. Die Gemeinde war vorsorglich genug, bei der Planung ihrer Wohnbauten nicht an den Bedürfnissen ihrer Bewoh-ner vorbeizuplanen, indem sie ihnen einen gewissen Spielraum für ihr Bedürfnis nach Dekoration gab; vor avantgardistischen Experimenten einer konsequenten Wei-terführung des Funktionalismus schreckte die Gemeinde zurück …“85

Eingepasst in das historische entwickelte Stadtgefüge, wurden die Gemeindebauten zu

„Ikonen dieser kommunalen Wohnbauarchitektur“; bis heute wurde kein einziger Bau abgerissen.86 Dass mit ihnen ein ganz spezifisches urbanes Wohn- und Lebensmodell bis heute assoziiert wird, zeigt seine Beliebtheit als „Ambiente“ für zahlreiche Fernsehserien.

In der Beantwortung der Frage, wieweit das Wiener kommunale Wohnungspro-gramm der sozialdemokratisch-marxistischen Utopie entsprach, scheiden sich die Geis-ter. Denn hinter dem Wohnprogramm standen ein politisches Programm und eine politische Entscheidung. Die Auseinandersetzungen, ob im Roten Wien eine struktu-relle (also revolutionäre) oder symptomatische (also revisionistische) Reform angesagt sei, begleitete damals die kommunale Wohnbaupolitik und auch die spätere Auseinan-dersetzung darüber. Hatten die Chefideologen schon den Siedlungsbau als „Verklein-bürgerlichung“ der Massen abgelehnt, so dehnten sie den Vorwurf nun auch auf die Gemeindebauten aus. In Anspielung auf das umfassende Sozialprogramm der Stadt for-mulierte Max Adler auf dem Parteitag 1927 „Häuserbauen, Fürsorge und Schulreform“

seien zwar wichtig, aber eben keine revolutionären Arbeiten, sie führten nicht aus der Klassengesellschaft heraus.87 Bloße Verbesserungen der Lage dienten nach Meinung der maßgeblichen Ideologen letztlich der Beruhigung, lähmten eher den revolutionä-ren Geist der Veränderung. Einen gewissen Zynismus kann man solchen Überlegun-gen wohl nicht absprechen. Soll man also verhindern, dass die verelendeten Massen ihre alltäglichen Überlebens-Ziele erreichen und damit womöglich ihren revolutionä-ren Elan verlierevolutionä-ren – wenigstens solange der „neue Mensch“ und die „neue Zeit“ nicht Wirklichkeit geworden sind? War es wirklich die Kompromissbereitschaft, der Refor-mismus, der die sozialdemokratische Bewegung zum Opfer der reaktionären Politik des Ständestaates werden ließ, wie Hautmann & Hautmann (1980) argumentieren?

Ziel politischer Arbeit muss sein, dass Depression und Resignation durch Bereitschaft zum Widerstand überwunden werden. Wenn die politische Führung nicht imstande ist, kämpferischen Elan solidarisch auch für jene im weiteren Umkreis zu requirieren, die „nichts“ haben, wird tatsächlich jene Saturiertheit und Apolitisierung Platz greifen, die die frühen Ideologen immer schon gefürchtet haben.

Aber noch waren die „Events“ der Gemeindebaubewohner überzeugend präsent auf den Straßen. Die alljährlichen Maiaufmärsche (Abb. 6) gehörten zum festen – und gefürchteten – Ritual der Sozialdemokraten und ihre Demonstrationen hatten poli-tisches Gewicht, wie nicht nur die Erfolge der Siedlerbewegung zeigen.

Sozialdemo-85 Weihsmann, Rotes Wien (1985), S. 51.

86 Pirhofer, Soziales – Urbanes (1993), S. 92.

87 Weihsmann, Rotes Wien (1985), S. 51.

Wohnbaupolitik im Roten Wien 1919 – 1933 kratische Wahlerfolge hingen absolut

mit Aufstieg und Fall der Sozial- und Wohnungspolitik zusammen, die sich

stets neu zu beweisen hatten. Erst als die nimmermüden Bemühungen der konservativen Gegner schließlich den zuletzt erfolgreichen Weg des „finanziel-len Marsches auf Wien“ wählten, indem sie die Bundesmittel kürzten und jede kleinste Chance bundesstaatlicher Maß-nahmen gegen das Rote Wien nütz-ten, kam es zum „Umschwung“ auch im Wohnbauprogramm. Für weitere Großanlagen fehlten die Mittel und so entschloss sich die Gemeinde 1932 zur 1. Randsiedlungsaktion in der Leopoldau.

Sie sollte gleichzeitig die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise enorm gestiegene Arbeitslosigkeit und das immer noch große Wohnungsproblem bekämpfen.

Der viertägige Bürgerkrieg und der Sieg der konservativen Kräfte im Februar 1934 beendeten auch die Ära des Roten Wien. Entgegen der kolportierten Meinung war der sozialdemokratische Widerstand keine von den Superblocks aus strategisch orga-nisierte Aktion, sondern ein Einzelkampf um Häuserfronten, Polizeiwachstuben und Parteilokale. Von den 348 Wohnanlagen befanden sich nur 17 in mehr oder minder schwere Kämpfe verwickelt.88 Auch formal wurde die „Ära des Roten Wien“ been-det, das sozialdemokratische Vermögen sämtlicher Organisationen eingezogen, der Gemeinderat aufgelöst, etliche seiner Mitglieder und führende Funktionäre wurden verhaftet. Otto Bauer und Julius Deutsch gelang die Flucht nach Prag. Statt Bürger-meister Karl Seitz amtierte nun für vier Jahre Bundeskommissär Richard Schmitz mit einer amtlich bestellten Bürgerschaft. „Der Traum von der Verwirklichung des Stückes

‚Kommunalsozialismus‘ inmitten eines konservativ regierten Staates gehört zur Tragö-die des Roten Wien, denn sie provozierte Tragö-die gewaltsame Reaktion der Konservativen – bis hin zur blutigen Konterrevolution.“89

88 Hautmann/Hautmann, Gemeindebauten (1980), S. 170.

89 Weihsmann, Rotes Wien (1985), S. 54.

Abb. 6: Maiaufmarsch 1931.

Im Dokument NS-Siedlungen in Wien (Seite 36-44)