• Keine Ergebnisse gefunden

4.1 Strategien des Fallenstellers

5.1.2 Irritation des Rezipienten und Sabotage des Ausstellungswesens

Die durch spinnwebenartige Strukturen geschaffene Behinderung des Rezipienten und seines Bestrebens, sich dem Kunstobjekt für eine eingehende Betrachtung zu nähern, ist auch ein zentraler Aspekt der Arbeit ‚Miles of String’730aus dem Jahre 1940. Sie war Duchamps Beitrag731zu der u.a. von André Breton organisierten Gruppenausstellung ‚First Papers of Surrealism’ in New York und bestand, wie der

726 Greenberg 1986, I, S. 225.

727Siehe Kap. 2.3.

728Siehe dazu die bereits erwähnten ‚objet desgréable’ oder ‚objet dangereux’ von Man Ray und Alberto Giacometti (siehe Kap. 5.2).

729 „Die wahrhaft avantgardistischen Werke der Literatur kommunizieren den Bruch mit der Kommunikation.“ Marcuse 1967, S. 88. Dies gilt auch für die bildenden Künste.

730Siehe Abb. 186. Arturo Schwarz nennt die Arbeit ,16 miles of string’, Schwarz 1969, S. 339.

731Darüber hinaus gestaltete Duchamp auch den Katalog der Ausstellung.

164

Titel andeutet, aus einem vermeintlich kilometerlangen Seil. Dieses spannte der Künstler, ähnlich der bereits erwähnten Arbeit in seinem Atelier, wie ein Spinnen-netz durch den ganzen Ausstellungsraum und behinderte somit die Bewegungs-freiheit der Ausstellungsbesucher und zugleich den Blick auf die ausgestellten Bil-der Bil-der anBil-deren Künstler.732Die Besucher mussten sich zunächst durch die Seile hindurch einen Weg in den Raum bahnen und sich dann auf ähnliche Weise den ausgestellten Werken nähern. Ein Ritual, das dem Rezipienten die Gefahr der Verstrickung im ‚Kunstbetrieb’ auch leiblich vermittelt.

An den teils dicht gewobenen Strukturen zwischen den Stellwänden wird die Be-hinderung des Zugangs des Rezipienten zum Kunstwerk besonders deutlich und auch von J. T. Demos als solche interpretiert: „Duchamp's string produced a re-calcitrant barrier between viewers, objects, and space [...] hindering visuell access to the displayed paintings and manifesting a layer of ineluctable mediation between viewer and artwork.“733Diese durch die Installation hervorgerufene Ent-täuschung des Rezipienten wurde von Duchamp durch eine performative Interven-tion noch verstärkt: Zu Beginn der Ausstellungseröffnung fanden die Gäste in den Räumen ein Dutzend sportlich gekleideter Kinder vor. Sie waren mit Ballspielen, Fangen und Seilspringen beschäftigt und ließen sich nicht von den Hinzugekom-menen stören. Als die Erwachsenen die Kinder freundlich, aber bestimmt zum Spielen an einem anderen Ort auffordern wollten, antworteten diese unisono: „Mr.

Duchamp told us we could play here.“734

Helen Molesworth beschreibt die schelmenhafte Aktion des Künstlers treffend als

„stymieing the ‚work’ of looking at art.“735Zunächst irritiert Duchamp die Gäste be-reits durch die unerwartete Anwesenheit der Kinder. Danach offenbart sich ihnen durch den Versuch, die Kinder des Raumes zu verweisen, um sich auf die Be-trachtung der Kunst konzentrieren zu können, die zweite Ebene der Irritation: Das

732Einige der Maler waren, wie Duchamp später berichtete, nicht darüber erfreut, er „had to fight [...] some painters [who] were actually disgusted with the idea of having their paintings in back of lines like that, [because they] thought that nobody would see their paintings.” Demos 2001, S. 107.

733Demos 2001, S. 106.

734Molesworth 1998, S. 55.

735Molesworth 1998, S. 55.

165

Spiel der Kinder ist eine wohlkalkulierte ironische Verunsicherungsstrategie, die das Kunst- und Selbstverständnis des Rezipienten in Frage stellt. Denn einerseits provoziert die trotzige Antwort der Kinder bereits aufgrund der Verweigerung des üblichen Gehorsams gegenüber Erwachsenen. Andererseits wird dem Rezipien-ten durch die Formulierung der Kinder zugleich deutlich, dass er vorgeführt bzw.

getäuscht wurde. Sein Versuch, sich ‚der Kunst’ ohne die Kinder widmen zu kön-nen, offenbart, dass er die Kunst Duchamps nicht als solche erkannt hat. Die Si-tuation gleicht der moralischen Zwickmühle, in die Santiago Sierra das Galeriepu-blikum durch die Anwesenheit eines unaufgefordert Schuhe putzenden Straßen-kindes brachte.736

Es handelt sich sicher um keinen Zufall, dass auch die Kinder mit einem Seil

‚beschäftigt’ waren. Im Sinne einer Aktivierung der Rezipienten kann das Seilsprin-gen der Kinder als Anleitung zur aktiven, spielerischen Auseinandersetzung mit der Installation und den Bildern gelesen werden. Nahe liegt auch die Vermutung, das Seil sei eine Anlehnung an den Faden der Ariadne, der dem Helden die Flucht aus dem Labyrinth des Minotaurus ermöglichte, ein Motiv, das eine zentrale Bedeutung in den Schriften der surrealistischen Bewegung spielte. Vor diesem Hintergrund gewinnt Duchamp einerseits den Charakter eines antiken Helden und andererseits der Ausstellungsraum (und zugleich das traditionelle Ausstellungs-wesen im Sinne einer institutionellen Kritik) den eines Labyrinthes – eine Falle.

Darüber hinaus lässt sich die Installation, wenn man das Seil als Spinnweben interpretiert, als eine Metapher für das verstaubte Image des Museums an sich und dessen Konzept für die Präsentation und Vermittlung von Kunst verstehen.737 In diesem Sinne liest auch Benjamin Buchloh das Werk als „a direct challenge to the institutionalization of Surrealism and the 'quasi-religious veneration of of its

ac-736Siehe Kap. 7.2.2.

737 Die raumgreifende Installation des Künstlerduos Trash/Treasure für die 9. Papierbiennale (Paper Art) im Leopold-Hoesch-Museum Düren (2005) kann in diesem Sinne als Hommage an Duchamp gelesen werden. Die Künstlerinnen verwandelten den Ausstellungsraum in eine ver-staubte, von Spinnweben durchzogene Installation, die den Blick auf die ausgestellten, in die In-stallation integrierten Werke von Hannah Hoech und Niki de Saint Phalle erschwerte.

166

culturation,' as well as a critical assault on the continued but deeply problematic role of painting within the Surrealist practise.”738

Angesichts der zu erwartenden Proteste einiger Maler, deren Werke der dadais-tisch wie egomanischen Intervention739Duchamps ‚ausgeliefert’ waren, kann die Installation über die von Buchloh konstatierte institutionelle Kritik hinaus als eine Falle für die beteiligten Künstler740 und die von ihnen vertretene Bewegung gelesen werden: „Duchamp’s installation in fact forced artists to experience their displaced status firsthand in the disorganized and disorganizing space of his installation and in the disorientation of their objects in that space. This, in effect, introduced a political framework to a display of art that intent on escaping it.“741 Demos liest das Werk Duchamps daher als eine „de-deification of Surrealism“, welche die Tendenz der Etablierung der Bewegung – „the return to a habitable world”742– subversiv in Frage stellt. Wie bereits 1917 mit ‚Fountain’ gelingt es Duchamp mit dieser Installation, einen konzeptuellen Stolperstein zu legen, der Kunstproduzenten und Rezipienten zugleich anregt, ihr Verständnis von und Ver-hältnis zur Kunst zu hinterfragen.