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4.1 Strategien des Fallenstellers

5.1.4 Intrige, Skandal und Verführung des Rezipienten

Als Fallensteller gegenüber Kunstmarkt und -szene hatte sich Duchamp bereits 1917 durch den von ihm selbst perfekt konstruierten, mit Hilfe der Medien öffent-lichkeitswirksamen Skandal um das Werk ‚Fountain’773etabliert. Sein Vorgehen of-fenbart in diesem Falle besonders deutlich die Parallele zum hinterlistigen Ränke-schmied, dem es durch sein verstecktes Agieren und Manipulieren gelingt, seine Interessen ‚durchzusetzen’: Da sein Name in der New Yorker Avantgarde-Kunst-szene, die die International Exhibition of Modern Art im Grand Central Palace or-ganisierte774, bereits berüchtigt war, reichte Duchamp das Werk ‚Fountain’ – ein abgesehen von der Signatur unverändertes, gebrauchtes auf einem Holzsockel liegendes Pissoir – unter dem Pseudonym R. Mutt ein. Dann heizte Duchamp ge-schickt die Diskussion über die Qualität und Bedeutung des Werkes in dem an-geblich juryfreien – die Ausstellung warb mit dem Slogan ‚any artist who pays 6 dollars may exhibit’775– Kuratorium an, da er ihm selbst als ‚Hängekommissar’776 angehörte. Das Konzept entwickelte sich Arturo Schwarz zufolge aus einem Ge-spräch des Künstlers mit „Walter Arensberg und Joseph Stella, and they went out immediately to buy the item.“777

Als man sich entschied, das durch seinen Namen auch auf das weibliche Ge-schlecht anspielende Werk ‚Fountain'778nicht auszustellen, war der Skandal per-fekt; Duchamps Falle hatte zugeschnappt. Die einer klassischen Intrige ähnelnde, perfekte Inszenierung beschreibt Schwarz wie folgt: „Duchamp tells how Walter Arensberg, hearing of the incident [die Zensur], went to the Independent Show and asked to see ,the Fountain by R. Mutt’. Attendants called officials. The officials said that they had never heard of it. ,I know better than that’, said Arensberg. His

773Siehe Abb. 190.

774Es war die bis dahin größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst in den USA.

775So formuliert es Alfred Stieglitz in seinem dem Werk zu Ruhm und Aufsehen verhelfenden Artikel in seiner Zeitschrift Blind Man (siehe Abb. 190).

776Schwerfel 2000, S. 68.

777Schwarz 1969, S. 466. Schwarz betont, dass Duchamp ein ,Urinal’ bereits im Jahre 1914 er-wähnte, und die Idee demzufolge schon älter sei. Schwarz 1969, S. 467.

778Fountain kann neben Brunnen auch Ursprung bedeuten und bildet so eine Parallele zu Gustave Courbets skandalträchtigen Akt ‚L’Origine du monde’ von 1866 (siehe dazu Bahtsetzis 2006).

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next remark stunned the officials. ,I want to buy it’, he said calmly. Still it could not be found. Thereupon Duchamp and Man Ray, poking around, discovered the offending object behind the partition. They called to Arensberg, who took out his checkbook and announced that he would buy it sight unseen. ,Fill in the amount yourselves’ he said, and then required the urinal to be brought out and carried in plain view through the crowded galleries.“779

Bereits kurze Zeit später wurde das Werk dank eines ‚The Richard Mutt Case’

genannten Artikels von Alfred Stieglitz über die verheimlichte Zensur und dessen Opfer ‚Buddha of the Bathroom’780alias Duchamp erst stadt- und dann weltbe-kannt. Dank dieser geschickten Manipulation war es ihm gelungen, einen Skandal zu provozieren, durch den sich die Kunstszene selbst vorführte: Sie hatte sich aus Angst vor den Reaktionen des Publikums dem Werk entsprechend ‚in die Hose gemacht’781 und wurde dafür dank des geschickt lancierten Artikels sowie der enormen Resonanz zur Schau gestellt.782Der Skandal gewinnt darüber hinaus eine ironische und zugleich slapstickartige Dimension, bedenkt man, dass es ein zunächst nicht ausgestelltes Kunstwerk eines vermeintlichen Trottels – so die gängige Übersetzung von Mutt783– war, das die internationale Kunstszene irri-tierte, zur Zensur verführte und auf diesem Wege das Kunstverständnis der Moderne revolutionierte.

In diesem Sinne betont auch Schwarz, „the Pseudonym adopted by Duchamp was meant to enforce the value of choice“ und zitiert den Künstler: „Mutt comes from Mott Works, the name of the large sanitary equipment manufactor. But Mott was too close so I altered it to Mutt, after the daily strip cartoon ,Mutt and Jeff’ which

779Schwarz 1969, S. 466.

780Der dem Humor Duchamps vertraute Titel stammt aus Stieglitz’ Artikel, siehe Abb. 190.

781Die Metapher scheint in diesem Falle treffend, denn wie Molesworth vor dem Hintergrund der dadaistischen Sabotagestrategien Duchamps betont, kann das Werk in der von Duchamp kon-zipierten Präsentation auch als eine slapstickartige Falle gelesen werden, wie das schon erwähnte Zitat Ulf Lindes zeigt: „if a man pees in the Fountain his urine will drip on him.“ Molesworth 1998, S.

56.

782‚Trap’ von Santiago Sierra weist interessante Parallelen zu Duchamp auf (siehe Kap. 7.2).

783Als Mutt bezeichnet man „foolish, incompetent or awkward“ Menschen oder einen Hund. Oxford 1991, S. 819.

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appeared at that time, and everyone was familiar with. Thus, from the start, there was an interplay of Mutt: a fat little funny man, and Jeff: a tall, thin man... I wanted any old name. And I added Richard (french slang for moneybags). That's not a bad name for a pissotière. Get it? The opposite of poverty. But not that much, just R. Mutt.“784Auch die Auswahl des Objektes zeigt deutlich, dass das Ziel der Ak-tion ein Skandal, eine ProvokaAk-tion ist, die auf die Entlarvung der Mechanismen tradierter Kunstrezeption zielte: „Duchamp emphasized that the reason for this choice ,sprang out of the idea of making an experiment concerned with the taste:

choose the object which has least chance to be liked. A urinal - very few people think there is anything wonderful about a urinal. The danger to be avoided lies in aesthetic delection.’“785 Auf diesem Wege dient die Falle der Erweiterung des Kunstbegriffes.

Während das Opfer dieser konzeptuellen Falle, die die bereits erwähnte etymo-logische Nähe zum Skandal786besonders deutlich werden lässt, die ‚Kunstszene’

im Sinne der für den kunsttheoretischen Diskurs maßgeblich ‚verantwortlichen’

Elite war, ist die letzte hier vorgestellte Falle dezidiert auf den einzelnen, bewusst isolierten Rezipienten ausgerichtet. Das geheimnisvolle und nicht minder skandal-trächtige Spätwerk ‚Étant donnés: 1° la chute d’eau 2° le gaz d’éclairage’787 (Ge-geben ist: Als erstes der Wasserfall, als zweites das Leuchtgas) wurde Duchamps Wunsch gemäß erst ein Jahr nach seinem Tod 1969 im Philadelphia Museum of Art der Öffentlichkeit präsentiert.

Es handelt sich um eine von außen nicht als solche erkennbare Rauminstallation, deren theaterkulissenähnliche Inszenierung von Octavia Paz als eine „combination of materials, techniques, and different artistic forms“ beschrieben wird. „As for the former, some of have been brought to the work with no modification - the twigs on which the nude is lying, the old door brought from Spain, the gas lamp, the bricks

-784Schwarz 1969, S. 466.

785Schwarz 1969, S. 466.

786Siehe Kap 2.4.

787Siehe Abb. 191. Der Titel ist Harnoncourt und McShine zufolge mit zwei älteren Werken verbun-den: „The title derives from an early note in the Green Box and points to the intimate connection between the imagenary and themes of the assemblage and those of the Large Glass.“ Harnon-court/McShine 1973, S. 315.

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and others have been modified by the artist. Equally varied are the techniques and forms of artistis expressions.“788Aufgrund der beiden hintereinander gelagerten Kammern und der Gucklöcher ähnelt das Werk einer Sehapparatur oder einer Ka-mera.789 Es gilt als Duchamps Hauptwerk, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er von 1946-66 kontinuierlich daran im Verborgenen arbeitete.790Nur seine Frau wusste davon, während er in Interviews die regelmäßig gestellte Frage, ob er die Kunst wirklich zugunsten des Schachspiels aufgegeben habe, in der Regel be-jahte.791Die Installation wurde von Duchamp gezielt für einen bestimmten Ausstel-lungsraum im Philadelphia Museum of Art geschaffen, der sich in direkter Nähe zu seinem dort bereits ausgestellten Werk ‚Das große Glas’ befindet. Die beiden grundlegenden, konzeptuell außergewöhnlich präzisen Ausrichtungen des Werkes – die räumliche Nähe zum bis dahin als Hauptwerk geltenden ‚Großen Glas’ und der zeitlich präzise terminierte Präsentationsmodus – machen deutlich, dass es sich nicht um eine ‚gewöhnliche’ Inszenierung eines Kunstwerks handelt. In diesem Sinne betonen auch Anne de Harnoncourt und Kynaston McShine,

„perhaps more thoroughly than in any other work, Duchamp has controlled the conditions under which the spectator experiences Étant donnés.“792

788Paz 1973, S. 148.

789Der Fotoapparat hat eine große Bedeutung für die Surrealisten, er wurde „von Breton als die Ikone der ‚écriture automatique' bezeichnet. Die schwarze Kiste [...] ist also nicht nur ein Symbol für die Büchse der Pandora, sondern auch eine Metapher für die dunkle Kammer. [...] Auf dem mit

‚L’ écriture automatique’ betitelten Umschlag [der Zeitschrift La Révolution Surréaliste Nr. 6 vom 11. Oktober 1927] wird eine an dem Schreibpult sitzende Frau dargestellt, die in ihrer weiblichen Verführungskraft die Funktion des Schreibautomaten übernimmt. Die Frau [...] ist sowohl mit dem Prozess der Bilderfindung als auch mit den Mitteln dessen Fixierung, also einer Schreibmaschine oder einem Fotoapparat etwa, gleichzusetzen.“ Bahtsetzis 2005 (o. S.).

790„Für den Transfer vom kleinen Raum eines Geschäftshauses, wo Duchamp das Werk fertigge-stellt hatte, nach Philadelphia verfaßte er ein ebenso umfangreiches wie akribisches technisches Manual, dem er den Titel ‚Approximation démontable’, ‚Zerlegbare Annäherung’, gab.“ Lüthy 2004, S. 462. Alles war wie bei der Präsentation von ‚Fountain’ bis ins letzte Detail geplant.

791 In diesem Sinne kann auch die Aussage Andreas Slominskis, dass er nur 49 Prozent seiner Zeit in Kunst investiere, als weitere Parallele zu Duchamp gelesen werden (siehe Kap. 7.3). Das State-ment gab der Künstler im Rahmen eines Fernsehberichts (3sat, 7.3.08) über sein Werk. Siehe www.3sat.de/kulturzeit/specials/112211/index.html (5.4.08)

792Harnoncourt/McShine 1973, S. 316.

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Bereits die ‚Uraufführung’ genau ein Jahr nach seinem Tod, eine in der Regel aus-reichende Zeitspanne für Kunstmarkt und -theorie, um sich in der üblichen Weise dem Oeuvre des verstorbenen Künstler intensiver zu widmen, kann als eine wohl kalkulierte List gelesen werden. Einerseits handelt es sich um die Fortsetzung und zugleich Entlarvung der über Jahrzehnte fortwährenden Intrige, die auf der Lüge basierte, er habe die Kunst aufgegeben. Andererseits zeugt das Vorgehen von einem über den Tod hinaus reichenden, auf die Rezeption seines Werkes ausge-richteten ‚Manipulationswillen’ und Spieltrieb Duchamps.793

Bedenkt man die Konsequenzen der posthumen Präsentation für bis dahin bereits veröffentlichte Literatur794über das Gesamtwerk, erscheint sie wie eine schelmen-hafte Strategie. Ein Geniestreich, der metaphorisch vorführt, dass Duchamp auch nach seinem Tod unberechenbar sein wollte.795Es handelt sich um ein bewusst als solches konzipiertes Rätsel, wie auch Harnoncourt und McShine betonen, da es abgesehen von der rein technischen, ‚Approximation démontable’ genannten Bauanleitung, keine Information vom Künstler über das Werk gibt: „The viewer must seek any explication of its meaning in the clues offered by the remainder of Duchamp's oeuvre.“796

Betritt der Besucher den auf den ersten Eindruck leeren Ausstellungsraum in Phi-ladelphia, findet er sich gegenüber eine alte, verschlossene Holztür vor. Sie wird von einem rustikalen Backsteinbogen umfasst und ist in die vorverlagerte Rück-wand des Raumes eingemauert.797Octavio Paz beschreibt seinen Eíndruck des Raumes wie folgt: „There is an old wooden door, worm eaten, patched, and closed by a rough crossbar made of wood and nailed on with heavy spikes. In the top

left-793Auf die Rolle des Rezipienten als ,Mitspieler’ (Kunst als spielerische Kommunikation) wird im Kapitel über Andreas Slominski erneut eingegangen, (siehe Kap. 7.4).

794Ein prominentes Opfer dieser Falle ist Arturo Schwarz mit seinem Buch ‚Marcel Duchamp. No-tes and projects for The Large Glass’, dass 1969 erschien.

795In diesem Sinne kann das Werk als ein bewusst rätselhaft konzipierter und listig verblendeter Epitaph gelesen werden, was von der Patina des Tores und der Steine unterstrichen wird.

796Harnoncourt/McShine 1973, S. 315.

797Dieser unscheinbare Übergang zwischen der vorhandenen Architektur der Ausstellungsräume und dem Kunstwerk ist ein wesentliches Kennzeichen der Installationen Gregor Schneiders (siehe Kap. 7.1).

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hand corner there is a little window that has also been closed [sic]. The door sets its material doorness in the visitor's way with a sort of a aplomb: dead end.“798

Erst bei genauerer Betrachtung entdeckt der Rezipient in der Mitte der Tür, ober-halb ihres durch die Nägel erkennbaren Querbalkens, zwei Gucklöcher.799Möchte er seine Neugier und sein Bedürfnis, das dahinter verborgene Kunstwerk zu se-hen, stillen, muss er wie ein Spion das Gesicht eng an das Holz drücken. Hier of-fenbart sich bereits die erste leibliche Dimension der Installation als Falle: Auf die-se Weidie-se wird der Rezipient durch die ihm von Duchamp abverlangte Geste in die Rolle eines Voyeurs versetzt, noch bevor er das ‚eigentliche’ Kunstwerk gesehen hat. „Duchamp's doors and ideas open while remaining closed, and vice versa“800, kennzeichnet Paz die dialektische Strategie des Künstlers. Es scheint, als habe der Künstler hier eine als Metapher lesbare und zugleich leiblich erfahrbare Form für diese Strategie gefunden: Eine alte, verschlossene Holztür, deren Fenster wie die Tür ihre Funktion schon lange nicht mehr erfüllen.

Nur durch die beiden Löcher kann der Rezipient den von Duchamp intendierten, zweiten Blick ins Innere durch ein weiteres amorphes, scheinbar in eine Ziegel-steinmauer gehauenes Loch werfen, das ihm die Sicht auf einen weiblichen, nack-ten Körper erlaubt. Die Frau liegt rücklings mit gespreiznack-ten Beinen auf einem La-ger aus Ästen, Zweigen und Blättern, ihr Kopf, der rechte Arm und die Füße befin-den sich außerhalb des einsehbaren Bereiches.801In ihrer linken, über das ‚Nest’

gehobenen Hand hält sie eine leuchtende Gaslampe. Im Hintergrund ist links ein von Bäumen gerahmtes Gewässer und auf der rechten Seite ein Wasserfall zu se-hen. Die Landschaft wirkt durch die Distanz zwischen ihr und dem Vordergrund entfernt und zugleich tiefer gelegen, so als befinde sich die Frau auf einer Klippe oder – wie das ‚Nest’ nahe legt – in einer Baumkrone. Darüber hinaus verleihen die Farben der Bäume und des partiell erleuchteten Himmels der Szene die fried-liche Stimmung früher Morgenstunden. In diesem Sinne beschreibt auch Paz die Atmosphäre als „a wide open space, luminous and seemingly bewitched. [...]

Still-798Paz 1973, S. 145.

799Siehe Abb. 192.

800Paz 1973, S. 145.

801Siehe Abb. 193.

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ness: a portion of time held motionless. [...] The silence is absolute.“802Alle Details der hinter der Mauer befindlichen Szenerie erscheinen sehr realistisch, was sich neben dem äußerst real erscheinenden Körper besonders deutlich am Wasserfall zeigt, der einfallendes Sonnenlicht zu reflektieren scheint.803Der perspektivisch perfekt inszenierte Übergang von Vorder- zu Hintergrund verleiht dem Bild eine große Tiefe.

Was ist geschehen oder was wird dem zum ‚Spannen’ animierten Rezipienten hier vorgemacht? Der erhobene Arm mit der Lampe deutet darauf hin, dass die Frau lebt. Die Frage, ob es sich bei ihr um das Opfer eines sexuellen Verbrechens, eine verlassene Geliebte oder eine Sirene handelt, die mit ihrem Körper und dem Licht ihre männlichen Opfer wie Insekten lockt, lässt sich nicht klären, da kein eindeu-tiges Indiz auszumachen ist.804Gegen eine romantische Interpretation der Szene spricht zunächst das unkomfortable Lager und vor allem der Bildausschnitt. Er a-nonymisiert die Frau, reduziert sie auf ihren Körper und verstärkt in diesem Kon-text den Eindruck, dass sie nicht nur das Opfer des voyeuristischen Blickes ist.

Besonders die skandalöse, durch die gespreizten Beine und die Lenkung des Blic-kes geschaffene Fokussierung auf die Vagina verstört den Betrachter. Die Kör-perhaltung dagegen ist ambivalent. Sie kann als verträumt oder lasziv, aber auch als erschlagen im Sinne von Müdigkeit oder Gewalt805interpretiert werden.806Paz dagegen bezieht sich in seiner Interpretation der Rolle der Figur wieder auf das Große Glas, „the machine of the Large Glass is the representation of the enigma;

the nude of Étant donnés is the enigma in person, its reincarnation.“807

802Paz 1973, S. 145.

803Bahtsetzis spricht daher von einer „absolut hyperrealistischen Szene.“ Bahtsetzis 2005 (o. S.).

804Für die Interpretation der Dame als Sirene spricht vor allem die Lampe, wie Sotirios Bahtsetzis’

Beschreibung deutlich macht: „Die Figur hält dem Betrachter in ihrer linken Hand eine leuchtende Auer-Gaslampe entgegen. Bahtsetzis 2006, S. 245.

805 In diesem Sinne wäre die Lampe ein Warnsignal, ein optischer Hilferuf wie eine Leuchtrakete?

806Diese Uneindeutigkeit kennzeichnet auch Installationen mit hyperrealistischen Puppen im Werk von Gregor Schneider. Auch hier kann der Betrachter auf den ersten Blick nicht wissen, ob es sich etwa um ein Gewaltopfer oder einen Schlafenden handelt (siehe Kap. 7.1).

807Paz 1973, S. 149

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Duchamps gelingt es aufgrund der von außen nicht einsehbaren, sehr aufwen-digen Konstruktion und bildhaften Komposition808 der Installation, ein irritierend reales, dreidimensionales Seherlebnis809zu schaffen, das dem Betrachter keine Wahl lässt. Schockiert und fasziniert zugleich starrt er durch die beiden Löcher, die seinen Blick, ohne dass er dagegen angehen kann, auf das weibliche Ge-schlecht lenken: „The viewer draws back from the door feeling a mixture of joy and guilt of one who has unearthed a secret.“810Die Obszönität des Blickes wird neben dem Motiv durch die hinterlistige Inszenierung, das Verhüllen hinter einer ver-schlossenen Tür und das daraus zwangsläufig folgende ‚Spionieren’ geschaffen.

Es handelt sich um eine konzeptuelle, auf das Gewissen, das Selbst- und letztlich auch Kunstverständnis des Rezipienten ausgerichtete Falle.811 Aus weidmänn-ischer Perspektive ist die Holztür eine Verblendung: Eine visuelle ‚Tarnung’, die so angelegt ist, dass sie das Opfer anzieht und auf diesem Wege in die Falle lockt.812 Das Ziel scheint die Irritation, die skandalöse Szene hinter der Tür besticht durch die Perfektion der Täuschung, wie auch Paz betont: „In Étant donnés commu-nication is even more difficult, in spite of the fact that the landscape of wooded hills is an almost tactile reality - or perhaps for this very reason: we are dealing with the deceptive reality of trompe-l'oeil.“813

Zunächst enttäuscht Duchamp den Betrachter durch den abgesehen von der Holz-tür leeren Raum und reizt zugleich durch die Verblendung seine visuelle Neugier.

808Die Komplexität der für den Betrachter nicht einsehbaren Konstruktionselemente des ‚Bildrau-mes’ hinter dem Gucklöchern wird besonders in den Fotos und Collagen der ‚Approximation dé-montable’ deutlich (siehe Abb. 194).

809Dieser Begriff ist bewusst gewählt, um an den notwendigen und besonders an dieser Arbeit Du-champs deutlichen leiblichen Aspekt der Rezeption zu erinnern. Neben dem aufgrund seiner Drei-dimensionalität geschaffenen ‚Bild’ gehört auch der Prozess der Annäherung im ‚Vorraum’, das Entdecken der Gucklöcher und die surrealistisch anmutende Präsenz der alten Holztür in der mo-dernen Museumsarchitektur zur Rezeption.

810Paz 1973, S. 145f.

811Auch Helen Kaut bezeichnet das Werk als eine Betrachterfalle, die ihm die Gewissenlosigkeit seines Blicks vor Augen führt. Kaut 1995, S. 49. Antje von Graevenitz hat den Angriff auf das Auge am Werk von Giacometti ausführlich analysiert (siehe Graevenitz 1986).

812Dieser Aspekt wird an den als Spielzeug verblendeten Tierfallen von Andreas Slominski beson-ders deutlich (siehe Kap. 7.7.3).

813Paz 1973, S. 149.

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Die Inszenierung appelliert in diesem Sinne an die tief im Unterbewusstsein ver-wurzelte ‚Lust des Sehens’: So wie zwei Punkte und ein unter ihnen befindlicher, horizontaler Strich in der Regel als Gesicht interpretiert werden, reizt das Verber-gen und gleichzeitige Anbieten der Gucklöcher zum heimlichen Spionieren. Das Verbergen gewinnt vor diesem Hintergrund den Charakter eines Versprechens, das sich als visuelles Danaergeschenk entpuppt.

Den auf diese Weise bereits unbewusst stimulierten Rezipienten konfrontiert Du-champ mit einem Seherlebnis, das wie Gustave Courbets Gemälde ‚L’Origine du monde’814 bewusst mit den „Distanzierungsmechanismen“815 traditioneller Kunst bricht: „Étant donnés vollzieht die Lenkung des Wahrnehmungsaktes durch die Fixierung auf einen bestimmten Sehwinkel sowie die Eingeschränktheit des

Den auf diese Weise bereits unbewusst stimulierten Rezipienten konfrontiert Du-champ mit einem Seherlebnis, das wie Gustave Courbets Gemälde ‚L’Origine du monde’814 bewusst mit den „Distanzierungsmechanismen“815 traditioneller Kunst bricht: „Étant donnés vollzieht die Lenkung des Wahrnehmungsaktes durch die Fixierung auf einen bestimmten Sehwinkel sowie die Eingeschränktheit des