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„Deur ag iōn, polyain Odyseu, mega kydos Achaiōn (Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaier)“159, lockten die Sirenen den Helden laut Homer.

Für die europäische Kultur- und Kunstgeschichte ist die griechische Mythologie eine der ‚Urquellen’ und somit von zentraler Bedeutung. Sie liefert bis heute un-zählige Motive und Figuren für das zeitgenössische Kunstschaffen und ist nicht zuletzt auch in unserer Sprache omnipräsent. Beispielhaft sei hier nur an den panischen Schrecken, die Argusaugen oder die schier unendliche Odyssee erin-nert. In der griechischen Mythologie ist das Fallenstellen – meist in Form von hinterlistigen Verhalten – ein Kennzeichen heraldischer oder göttlicher Figuren und eindeutig positiv bewertet. Homer zufolge gilt Hermes als Meister der List und Lüge.160Wie die Götter verstellen sich auch die nur ‚halbgöttlichen’ oder mensch-lichen Helden listenreich und konstruieren ausgeklügelte Fallen wie das berühmte Trojanische Pferd, um ihre Ziele zu erreichen. Als die zentrale Eigenschaft des berühmten Helden Odysseus – „der brillante Lügner, Täuscher und Fallen-steller“161– gilt seine Intelligenz. Im Gegensatz zu vielen anderen Helden, die sich meist durch körperliche Kraft Erfolg verschafften, ist es sein listenreiches Ver-halten, mit dem Odysseus sein Schicksal und die damit verbundenen zahlreichen, scheinbar unlösbaren Aufgaben meistert. Nur selten wird die List in der griechi-schen Mythologie wie in späteren Jahrhunderten als unlauteres, moralisch zwei-felhaftes Verhalten in Frage gestellt.162Auch Achill greift Odysseus eher aufgrund des aus seiner Perspektive unheroischen Verhaltens mit den folgenden Worten an: „Denn der Mann ist mir so verhasst wie die Pforten des Hades, der ein

159So locken die Sirenen Odysseus (Homer, Odyssee, XII 39 - 54; 154 - 200), die Hans Lamer als

„Mädchen mit Vogelleib auf einer Insel im Meer“ kennzeichnet. Sie „lockten Seefahrer durch süßen Gesang an, sogen ihnen aber dann das Blut aus.“ Lamer 1933, S. 700. Deutsche Übersetzung von Johann Heinrich, Voß 1798 (o. S.).

160Matt 2006, S. 97 (Homer, Ilias, 19. Gesang, Vers 395 - 398).

161Matt 2006, S. 95.

162Der Wandel in der Bewertung der List innerhalb des griechischen Tugendsystems zeigt sich auch am Stammbaum des Odysseus. Anfangs ist es - wie Homer berichtet - die göttliche Gabe des Hermes, die der Held von seinem Großvater Autoklys erbt. Später in Sophokles’ Philoktet wird Odysseus jedoch als der ‚Allverderber’, ein Sohn des arglistigen Sisyphos bezeichnet. Matt 2006, S. 97.

anderes birgt im Sinn und ein anderes ausspricht.“163Stellvertretend für die Omni-präsenz der Fallenstellerei sollen an dieser Stelle einige Mythen erwähnt werden, in denen mehr oder weniger deutlich konkrete Fallen das Zentrum der jeweiligen Handlung sind.164

So sei an die Geschichte des Satyrs Marsyas erinnert, als Sohn des Hyagnis ein halbgöttliches Wesen, dessen Neigung zur Hybris ihm zum Verhängnis werden sollte.165Marsyas, der als Begleiter der rasenden und Trommeln schlagenden Ky-bele durch Phrygien zog, fand eine Flöte, ein von der Göttin Athene erfundenes, aufgrund ihrer Eitelkeit dann aber verschmähtes Instrument.166Er lernte die Flöte zu spielen und war schließlich so von seinem Können überzeugt, dass er prahlte und Apollon, den göttlichen Führer der neun Musen, zu einem musikalischen

163Matt 2006, S. 95 (Homer, Ilias, 9. Gesang, Vers 312f.) Ein weiteres Beispiel für die seltenen, of-fen vorgetragenen Vorbehalte gegen listiges Vorgehen findet sich interessanterweise in Homers Schilderung der Eroberung Trojas: Nur die beiden Kämpfer Neoptolemos und Philoktet lehnen die Strategie des Odysseus – das Trojanische Pferd – als unehrenhaft und unsoldatisch ab. Wobei es sich bei dieser Ablehnung – wie Matt plausibel anhand eines Zitates von Achill analysiert – wohl eher um Motive wie männlichen Stolz und Ehre handelt, als sittliche Bedenken gegen diese Art des Kampfes. Matt 2006, S. 26. Hier spiegelt die Ilias zugleich das Spannungsfeld zwischen zwei machtpolitischen Strategien; Achill repräsentiert körperliche wie militärische Macht, Odysseus da-gegen die des Geistes und der Diplomatie, wobei sich beide nicht da-gegenseitig ausschließen müs-sen, wie die Eroberung Trojas zeigt.

164Konzentriert man sich dabei auf die strategische Dimension der Falle, die sogenannte List, wie sie von Matt ausführlich untersucht wurde, könnte man eine schier endlose Liste erstellen. Man denke nur an die unzähligen Metamorphosen des Zeus, die er unternimmt, um seine leidenschaft-lichen Unternehmungen vor der eifersüchtigen Hera zu verbergen.

165Das Motiv der Hybris hat eine enge Verbindung zur Fallenstellerei. Aus zivilisationsgeschicht-licher Perspektive greift der Intrigant frevelhaft – weil dies vor ihm nur den Göttern oblag – in das Schicksal ein. Von dort ist auch der Weg zum Teufel, den verführerischen Fallensteller des Chris-tentums nicht weit. Vor diesem Hintergrund erscheint es als ein Anzeichen von Hybris, wenn die christliche Urmutter Eva vom Baum der Erkenntnis isst, nachdem die Schlange ihr sagte: „ihr wer-det wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ Genesis 3,5.

166Athene – nach Hesiod eine Tochter der allwissenden Metis und Göttin der Erfindungsgabe und Weisheit – erfand nach der Enthauptung der Gorgo Medusa die Doppelflöte (Aulos) und eine Melo-die, welche die Totenklage der Euryale, der Schwester Medusas nachahmte. Als sie aber beim Spiel ihr Gesicht in einem Wasser gespiegelt sah und bemerkte, dass das Spielen des Instruments ihr Gesicht entstellte, warf sie die Flöte fort.

Wettkampf aufforderte.167Apollon ließ sich unter den folgenden Bedingungen auf den ungleichen Kampf ein: Der Sieger könne mit dem Verlierer machen, was er wolle, und seine Musen sollten Schiedsrichter sein – eine Falle. Denn nach an-fänglich einfachen Stücken, die Marsyas mit Bravour nachspielen konnte, stellte Apollon den Satyr vor eine unlösbare Aufgabe. Er spielte seine Kithara168und begann, dazu zu singen.169 Da Marsyas dies mit der Flöte nicht nachmachen konnte, verlor er den Wettstreit. Zur Strafe hing Apollon ihn an einen Baum und ließ ihm von Pan, dem göttlichen Fötenspieler, bei lebendigem Leib die Haut abziehen.170

Ähnlich erging es dem Titanensohn Atlas, der zur Strafe für seine Teilnahme am Kampf der Titanen gegen die Götter dazu verdammte wurde, für alle Zeiten den Himmel auf seinen Schultern zu tragen. Er fiel auf eine List des Herakles herein.

Dieser sollte für Eurytheus die Äpfel der Hesperiden holen, doch der goldene Ap-felbaum stand in einem Garten an einem Hang des Berges Atlas im Westen der Welt.171Herakles schilderte Atlas sein Schicksal und bat ihn, an seiner Stelle die Äpfel zu holen, im Gegenzug würde er ihm die Last des Himmels abnehmen. Der gutgläubige Atlas war froh, seine Last los zu werden und willigte ein. Er holte drei

167Die Kunst (bzw. die Künste) galt im altgriechischen Verständnis als die höchste Ausdrucksform des Wettstreits (Agon), da nur sie die Fertigkeit (techné) mit der Weisheit (sophia) verband. Vor diesem Hintergrund wird besonders deutlich, auf welch’ ein absurdes Unternehmen sich der (nur) halbgöttliche Marsyas einließ. Wie ihm erging es schließlich auch schon dem flötespielenden Gott Pan, der sich auf einen Agon mit Apollon einließ.

168Ein Saiteninstrument aus der Antike, eines der vornehmsten Instrumente, das vorzugsweise zu feierlichen Anlässen gespielt wurde. Trotz einer gewissen Ähnlichkeit sind Lyra und Kithara ver-schiedene Instrumente, die Lyra war in der Regel kleiner und besaß keinen Fuß.

169Auf die Tradition und Vielfalt des Motivs unmöglicher Bedingungen – oder positiv formuliert he-raldischer Aufgaben – im Märchen geht Peter von Matt ein. Matt 2006, S. 60f.

170Dass ausgerechnet Pan diese Strafe übernimmt, ist sicher kein Zufall. In Ovids Metamorphosen wird vom musikalischen Wettstreit zwischen Pan und Apollon berichtet. Richter war der Berggott Tmolos. Dieser erklärte Apollon zum Sieger, denn die Leier stehe – so Tmolos – über der Flöte. Ob der Fallenstellerei verwandte Motive wie Schadenfreude und Dummheit (siehe dazu Kap. 2.8 und 2.9) ein Grund für diese Wahl waren, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.

171Hera hatte den Baum den Töchtern des Atlas, den Hesperiden, anvertraut. Um diese jedoch von den Äpfeln fernzuhalten, ließ sie den Drachen Ladon den Baum bewachen. Hera wollte die Jugend für sich behalten, denn sie ist die Erde.

goldene Äpfel und wollte sie in seinem Eifer selbst dem Eurytheus172bringen.

Herakles jedoch bat den Titanen, den Himmel nur für einen Moment noch einmal zu tragen, damit er es sich für diese Aufgabe bequemer machen könne. Atlas ließ sich täuschen, nahm den Himmel wieder auf seine Schultern und Herakles zog mit den Äpfeln davon. Goldene Äpfel spielen auch für die schöne Atalante eine schicksalhafte Rolle. Die angeblich schnellste Läuferin Griechenlands konnte nur mit einer List im Wettkampf bezwungen werden. Ihr Vater Iasos wollte sie gegen ihren Willen verheiraten, doch die Tochter entgegnete, dass sie nur denjenigen heiraten würde, der sie im Wettlauf besiegen könne. Wie Ovid in seinen Meta-morphosen berichtet, riet ein Orakel der Schönen, als sie nach ihrem zukünftigen Gatten fragte, „fleuch immer den Gatten. Dennoch entfleuchst du ihm nicht; und du lebst, dein selber entbehrend.“173Daraufhin liefen viele Männer buchstäblich um ihr Leben. Wer den Wettlauf gegen die schöne Jungfrau verlor, wurde von Ata-lante mit dem Tode bestraft. Melanion aber wendete im Wettkampf auf den Rat der Göttin Aphrodite hin eine List an. Wie üblich gewährte Atalante ihrem Kon-trahenten einen großzügigen Vorsprung. Doch immer, wenn sie ihn überholen wollte, warf Melanion einen der goldenen Äpfel, die Aphrodite ihm gegeben hatte, weit von sich. Die davon irritierte, aufgrund ihres Jagdinstinktes berühmte Atalante lief den goldenen ‚Ködern’ hinterher und fing sie.174Durch diese Manöver ver-größerte sich der Vorsprung Melanions immer wieder und schließlich verlor Ata-lante den Wettkampf und ihre Freiheit.175

172Der König Eurytheus war König von Mykene und ein Enkel des Helden Perseus. Eurystheus ist vor allem für die zwölf Aufgaben bekannt, die er Herakles auferlegte. In der Kunst wird er oft sich in einem großen Topf oder Gefäß versteckend dargestellt, denn Eurystheus fürchtete sich – so die Überlieferung – sehr vor Herakles.

173Ovid, Metamorphosen (Kap. 49, Venus und Adonis). Zitiert nach der Übersetzung von Johann Voß (1798), www.gutenberg.spiegel.de (27.5.07).

174Atalante war die einzige Frau, die sich trotz aller Widerstände der Männer an der Jagd auf den kalydonischen Eber beteiligte. Sie hatte großen Anteil am Erfolg der Jagd. Vor diesem Hintergrund erscheint die von Aphrodite ersonnene Strategie geradezu als eine persönliche Strafe für Atalantes Hochmut, was wiederum als ein Indiz für die bereits erwähnte Verbindung von Falle und Hybris dienen werden kann. In diesem Sinne zeigt ein Emblem aus dem sechzehnten Jahrhundert einen in einer Schlinge gefangenen Raubvogel, siehe Abb. 34.

175Von dieser Geschichte existieren in der griechischen Sagenwelt zwei Versionen: In der arkadi-schen Überlieferung ist es Melanion, in der böotiarkadi-schen Version Hippomenes. Fink 2001, S. 60f.

Während die bisher erwähnten ‚Fallen’ bei Apollon, Herakles und Melanion im strengen Sinne als List zu bezeichnen sind, bieten besonders die Mythen um den hinkenden Schmied Hephaistos viele Episoden mit realen, listig gestellten Fallen.

Von seinem Vater Zeus erhielt Hephaistos zum Trost für eine zu hart ausgefallene Strafe die Göttin Aphrodite zur Gattin. Doch diese war ihm nicht treu; sie hatte ei-ne Affäre mit dem Kriegsgott Ares. In der Odyssee wird berichtet, dass Hephaistos dank der Hilfe Helios die beiden Ehebrecher in flagranti überführen konnte. Er schmiedete sehr dünne, bronzene Ketten und fertigte daraus ein Netz, das nicht zerrissen werden konnte. Dieses befestigte Hephaistos heimlich am Ehebett und gab vor, sich nach Lemnos zu begeben. Doch als Aphrodite und ihr Geliebter Ares sich im so präparierten Bett ihrer Leidenschaft hingeben wollten, wurden sie von Helios beobachtet, der dies dem Schmied meldete. Daraufhin zog Hephaistos wie ein Vogelfänger das Netz zusammen und nahm die beiden Ehebrecher zur Freude der anderen, schnell herbeigerufenen Götter gefangen.176

Einer anderen Geschichte zufolge schickte der von seinen Eltern oft schlecht be-handelte Hephaistos seiner Mutter Hera einen von ihm geschmiedeten, goldenen Thron, um sich an ihr zu rächen. Dieser war wie Pandora ein Danaergeschenk.

Als Hera sich auf den Thron setzte, wurde sie wie von Geisterhand an den Sitz gefesselt; sie war gefangen in einem Gespinst aus Goldfäden. Nur Hephaistos selbst, der erst nach inständigen Bitten der anderen Götter und der List des ihn betrunken machenden Dionysos auf den Olymp zurückkehrte, konnte Hera von den goldenen Fesseln befreien.177Das Motiv des offensichtlich nur aufgrund von

176Die Szene ist der Ursprung des sprichwörtlichen 'Homerischen Gelächters'. Sie zeigt die bereits erwähnte Verbindung von Falle und Schadenfreude im Sinne belehrender Moral, wie sie in Werken des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts besonders deutlich ausgeprägt ist (siehe Kap. 2.8 und 2.9).

177In der römischen Version der Geschichten um Hephaistos alias Vulkan gibt es feine Unterschie-de. Auch Vulkanus wird früh von Juno verstoßen und rächt sich für diese Tat mit einem goldenen Thron, der unsichtbare Fesseln birgt. Das Netz für die Ehebrecher wird ebenfalls als unsichtbar be-schrieben. Doch Vulkanus muss nicht wie sein griechischer Vorgänger lange von den anderen Göt-tern gebeten werden, seine Mutter zu befreien, denn es ist von Anfang an sein Plan, mit Hilfe die-ser Falle wieder in den Olymp zu gelangen. Während der Unterschied zwischen dem sehr dünnen hephaistischen Netz und dem unsichtbaren des Vulkanus noch eine sprachliche Feinheit oder ein Übersetzungsfehler sein kann, ist jener zwischen der erzwungenen Rückkehr in den Olymp des Vulkanus und der widerwilligen des Hephaistos gravierender. Über die Gründe dieser Differenzen

Trunkenheit zur Heimkehr bewegten Schmieds findet sich auf vielen Vasenbildern der Antike.178Der Fallensteller ging dem noch listigeren Gott des Rausches in die Falle.

Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass es wiederum Hephaistos war, der im Auftrag des Zeus aus Lehm die schöne, bereits erwähnte Pandora – die Allbegabte – schuf. Sie war das verführerische, weil von Aphrodite mit Liebreiz versehene Geschenk an die Menschheit und wurde von Zeus auf die Erde ge-sandt, um die Menschen für den Feuerdiebstahl mit zuvor unbekannten Krankhei-ten und Elend zu strafen.179 Trotz der Warnungen seines Bruders Prometheus nahm der offensichtlich erfolgreich geblendete Epimetheus Pandora zur Frau, die schon bald darauf – aufgrund ihrer vermeintlichen Neugier180– der Menschheit

un-kann dem Umfang der Arbeit geschuldet an dieser Stelle nicht weiter spekuliert werden. Ursächlich sind jedoch die verschiedenen Gründe der Verbannung: Hephaistos wird vom zornigen Vater bzw.

einer anderen Version nach wird Vulkanus nach der Geburt von seiner Mutter aufgrund seiner Hässlichkeit auf die Erde geschleudert. Das alleinige Schicksal des Vulkanus ist es jedoch, von seiner Mutter verleugnet zu werden. Siehe dazu Fink 2001.

178Ein besonders schönes Beispiel dafür ist die sogenannte François-Vase des antiken Vasen-malers Kleitias (auch Klitias genannt) aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus; Museo Archeo-logico Nationale Florenz, Inv.-Nr. 4209.

179Auch wenn die Quellen nicht eindeutig sind, liegt es nahe, dass die sprichwörtlich gewordene Büchse der Pandora von Hephaistos gefertigt wurde, so wie die Ketten des Prometheus, der Wa-gen des Helios und viele andere Dinge im Olymp. Hesiod spricht – der Übersetzung von Johann Voß aus Jahre 1806 – jedoch von einem Fass, ein Pithos, in dem üblicherweise Korn aufbewahrt wurde. Auch Kenneth Davis betont, dass es keine Büchse war. Davis 2006, S. 275.

180Das Klischee weiblicher Neugier, die hier für das ganze Unheil der Welt verantwortlich gemacht wird, ist im Original (Hesiod in der Übersetzung von Johann H. Voß, 1806) nicht so eindeutig formuliert vorhanden. Es scheint im Laufe der Überlieferung zu diesem Motiv zugespitzt worden zu sein. Alle Götter verliehen auf Geheiß des Zeus Pandora ihre besonderen Gaben. Bedenkt man, dass „dreiste Gesinnung [...] und bethörende Schalkheit“ oder moderner formuliert Arg- oder Hin-terlist die Gaben des Hermes an Pandora waren, scheint die Tat Pandoras weniger in Neugier als in Berechnung begründet zu liegen. In diesem Sinne erscheint auch die Schilderung Hesiods:

„Aber das Weib [Pandora] hob jezo den mächtigen Deckel des Fasses, Rüttelte dann; daß den Menschen hervorging Jammer und Trübsal. Dort die Hoffnung allein, in dem unzerbrechlichen Hause, blieb inwendig dem Fasse zurück, tief unter der Mündung, Und nicht flog sie heraus: denn zuvor schloß jene den Deckel“. Hesiod, Erga (Werke und Tage) 65 - 100. Zitiert nach www.gutenberg.spiegel.de (13.2.05). Hier muss daran erinnert werden, dass bereits – wie Davis betont – der US-amerikanische Altphilologe Barry Powell in Hinblick auf die Figur Pandora schreibt:

endliches Leid bescheren sollte. Die List des Zeus war also erfolgreich, und Epi-metheus stellvertretend für die bis dahin ‚nur männliche’ Menschheit in die Falle getappt. Bedenkt man, dass Pandora in der griechischen Mythologie Hesiod zu-folge als die „menschliche“ Urmutter181fungiert, erscheint das Motiv der Falle hier also eng mit dem Beginn, der Gründung der menschlichen Gesellschaft verbun-den.

Das Motiv der negativ bewerteten, folgenschweren weiblichen Neugier findet sich auch in der biblischen Genesis wieder und zeigt interessante Parallelen zwischen den Mythen des Christentums und jenen der Griechen auf. Wie in der antiken My-thologie war es die biblische Urmutter Eva, die von der intriganten Schlange ver-führt wurde, vom verbotenen Baum der Erkenntnis aß und – den bis dahin un-schuldigen und in seiner Naivität dem Epimetheus durchaus ähnlichen – Adam zur Tat verleitete.182Die biblischen Folgen sind – wie zuvor bei Hesiod – für Adam und Eva und somit für die gesamte, ihnen nachfolgende Menschheit schrecklich; sie werden aufgrund der List der Schlange aus dem paradiesischen Urzustand ver-bannt.183 In beiden Schöpfungsmythen ist es letztlich eine Falle oder genauer gesagt die Hinterlist des göttlichen Zeus bzw. der biblischen Schlange,184die der Menschheit Krankheit und Tod bringt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Falle

„Wir dürfen nicht vergessen, dass antike Literatur und Mythen von Männern und für Männer geschrieben wurden.“ Davis 2006, S. 276, siehe auch Fink 2001, S. 240.

181So formuliert Hesiod laut Davis. Davis 2006, S. 275. In der Voßschen Übersetzung von 1806 taucht der Begriff Mutter in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf.

182Weitere Parallelen finden sich in der Auslegung des dritten Kapitels der Genesis der sogenan-nten Baruch-Apokalypse. Dort schlüpft der gefallene Engel Satanael in die Schlange „mit der Ab-sicht, Eva zu verführen“ (Colpe 1993, S. 75). Das Elend der Menschheit ist hier wie im Falle Pan-doras das Ergebnis einer gezielten Intrige; einer Falle. Das Motiv der zum Verbotenen verführ-enden Schlange zeigt ein Emblem aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert. Vor dem Reiz und Fluch des Verbotenen warnt sinnbildlich eine sich um einen Baum windende Schlange mit mensch-lichem Kopf. Siehe Abb. 35.

183Auch hier muss an die bereits zitierte Bemerkung (Männer schreiben für Männer) Barry Powells erinnert werden. Eine weitere Parallele zu den ‚paradiesischen Zuständen’ vor Pandora und Eva bieten afrikanische Mythen. Auch dort existiert bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keine Idee von Krankheit und Tod. Das Volk der Nuer im Sudan berichtet von einem Seil zwischen Himmel und Erde, das zur Erneuerung des Lebens diente. Doch seit eine Hyäne das Seil kappte, müssen auch die Nuer sterben. Wilkinson/Philip 1999, S. 115.

184 Zur Figur der biblischen Schlange und deren Verführung siehe Kap 2.4f.

als Fluch der Menschheit, die das Eindringen des Bösen, des negativen Prinzips in die Welt ermöglicht.

Auch die südamerikanische Kultur bietet eine Variante der schicksalhaften Verbin-dung von Falle und dem Anfang einer Zivilisation. In der aztekischen Mythologie gibt es – wie in der afrikanischen, indogermanischen und chinesischen –

Auch die südamerikanische Kultur bietet eine Variante der schicksalhaften Verbin-dung von Falle und dem Anfang einer Zivilisation. In der aztekischen Mythologie gibt es – wie in der afrikanischen, indogermanischen und chinesischen –